Morgen vor einem Jahr habe ich über meine Ansichten zur Präimplantationsdiagnostik geschrieben. Eine Debatte im Bundestag und auf Twitter zwingt mich heute, das Thema noch einmal zu behandeln, selbst auf die Gefahr hin, dass sich einige Argumente wiederholen.
Ein ehemaliger durchaus bekannter Politiker nannte mich sinngemäß einen “pseudo-realpolitischen Fundamentalisten”. Der Grund war, dass ich angesichts der heutigen Bundestagsdebatte zur Präimplantationsdiagnostik dazu aufgerufen habe, die gesellschaftlichen Folgen einer Zulassung zu betrachten. Normalerweise verlangen wir von unseren Politikern immer, dass sie über den Tag hinaus denken. Alle stimmen in den Ruf mit ein. Wenn ich das aber auch in diesem Falle verlange, wird mir von Befürwortern der PID vorgeworfen, das Leid der betroffenen Eltern und der schwerstbehinderten Kinder nicht ernst zu nehmen. Dabei verdient die Debatte eine intensive Betrachtung und eine für alle befriedigende Lösung.
Zunächst einmal: Eine Schwerstbehinderung ist für die betroffenen Eltern eine Belastung, deren schwere sie allein ermessen können. Sie allein können sagen, wie sie sich damit fühlen, und wer nicht betroffen ist, kann nur sehr unzureichend an einem solchen Entscheidungsprozess teilhaben. Wer bin ich, dass ich eine medizinische Möglichkeit zur Präimplantationsdiagnostik und damit zur Verhinderung von Leid für Eltern und Kinder rundheraus ablehne, sei es aus religiösen oder aufgesetzt moralischen Erwägungen heraus. Wenn es möglich ist, für Eltern und Kinder das Leiden zu verhindern oder zu begrenzen, dann soll das so lange gemacht werden, wie es die Rechte Anderer nicht in unzumutbarer Weise einschränkt.
Wenn Politiker Entscheidungen treffen, dann denken Sie über gesellschaftliche Folgen nach. Zumindest tun sie das, wenn Sie ihre Aufgabe ernst nehmen. Welche gesellschaftlichen und politischen Folgen hat eine Zulassung der PID? Und wenn sie unerwünscht sind: Wiegen Sie die berechtigten Interessen der betroffenen Eltern und ihrer möglichen Kinder auf?
Es ist eine der schwierigsten moralischen Fragen überhaupt. Unsere Erfahrung in technischer und wissenschaftlicher Hinsicht ist doch, das alles gemacht wird, was möglich ist. Wer sich bewusst gegen einen Trend stellt, der ist ein Wissenschafts- und Technikmuffel, der mag, um mit Kristina Schröder zu sprechen, lieber Geisteswissenschaften als Elektrotechnik und muss sich nicht wundern, wenn er schlechter gestellt wird, womit sie die Ungleichbezahlung von Frauen rechtfertigte. Das Beispiel repräsentiert unseren Zeitgeist. Kann man ein Leiden verhindern, gibt es eine neue technische Möglichkeit, wird sie zum Trend, und wir sind alle gute Menschen. Darum steht zu erwarten, dass man Menschen schief ansieht, die sich bewusst für das Leben eines behinderten Kindes entscheiden, sobald es die Präimplantationsdiagnostik möglich macht, das zu verhindern. Oder auch schon vorher. Die Frage einer Ärztin nach der Geburt eines behinderten Kindes an die Mutter: “Haben Sie sich denn nicht genetisch beraten lassen?” Diese Frage zeigt, wie schon jetzt mit behinderten Kindern umgegangen wird. Eltern behinderter Kinder werden von Freunden gemieden, die nicht verstehen können, warum man das Kind nicht hat “wegmachen lassen”. Genau wie Arbeitslose, so Teile der halb öffentlichen Meinung, kosten Behinderte vor allem Geld. Und ihre Lobby ist ohnehin viel zu groß, sagt sogar ein bekannter Journalist, der gegen das Blindengeld wettert, und spricht ihnen pauschal staatliche Unterstützung ab. Mein eigener Bruder sagte zu mir, als ich 20 Jahre alt war: “Wenn ich zu entscheiden gehabt hätte, müsstest du heute nicht leben.” Und ich habe keine Schwerstbehinderung, sondern bin lediglich blind, und mein Bruder hat mich 20 Jahre erlebt, und bis zu diesem Tag bildete ich mir auch ein, ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt zu haben. All diese Beispiele erwähne ich nur, um ein gesellschaftliches Klima zu dokumentieren, in dem Menschen mit Behinderung leben, und wo sie vor allem am Kostenfaktor gemessen werden.
Natürlich weiß ich, dass die Präimplantationsdiagnostik auch künftig nicht etwa alle Behinderungen verhindern soll. Es geht um Menschen, die auf eine künstliche Befruchtung angewiesen sind und dabei klären lassen, ob das Kind möglicherweise eine Schwerstbehinderung hat. Nun stelle man sich aber den Fall vor, dass sich ein Paar entgegen aller vermuteter Leidensunfähigkeit dazu entschließt, das Kind trotz Behinderung austragen zu wollen. Was dann? Wenn beispielsweise das Kind zwar Überträger der Erbkrankheit ist, die zur Behinderung führen kann, selbst aber nicht behindert wird? Stelle man sich vor, es wäre nur leicht Behindert, überlebte aber und wäre auf Hilfen angewiesen? Wäre nicht die logische Folge, dass man bald ein Gesetz beschließt das sagt: “Natürlich haben Eltern die Freiheit zu entscheiden, ob sie ihr Kind haben wollen oder nicht. Angesichts der Krise im Gesundheitswesen kann dem Staat aber nicht mehr zugemutet werden, für die unverantwortliche Entscheidung der Eltern auch noch zu zahlen!”? Die Krankenkasse sagt dann bei der Beantragung von Hilfen: “Man hatte Sie doch über das Risiko aufgeklärt, sie haben dem Rat der Experten keine Folge geleistet, jetzt können Sie von UNS und der Solidargemeinschaft keine Hilfe erwarten!” Was dann? Dann ist es nämlich wieder Essig mit der freien Entscheidung der Betroffenen.
Als nächstes könnte man für alle Eltern mit möglichen Erbkrankheiten eine Verpflichtung zur PID einführen. Niemand müsste darunter leiden, aber die Kosten im Gesundheitswesen würden gesenkt, einfach weil weniger Hilfebezieher oder Leistungsberechtigte geboren werden würden. Möglicherweise würde sich dann die Lage für Menschen, die aufgrund eines Unfalls behindert wurden, sogar verändern und verbessern, weil die ja nichts dafür können, und deren Eltern auch nicht. Das Leiden wäre ja hier nicht vermeidbar gewesen.
Die Politik macht ihre Haushaltspläne aufgrund mittel- und langfristiger Planungen. Hat die PID erst einmal das von mir eben erwähnte Stadium erreicht, geht die Politik vorauseilend davon aus, dass weniger Menschen mit Behinderung geboren werden, kürzt die Mittel in der Haushaltsplanung entsprechend den Berechnungen und ist dann ganz überrascht, dass es doch mehr Menschen mit Behinderung gibt, als das statistische Bundesamt errechnete, weil man Kostenzahlen nun einmal gern schönfärbt. Dies ist natürlich nur ein mögliches Szenario.
Ich erwarte, dass Politiker bei Entscheidungen, die über die Zukunft auch lebender oder später lebender Menschen bestimmen, über den aktuellen medizinisch-technischen Tellerrand hinausblicken. Es spielen dabei auch gesellschaftliche Phänomene eine Rolle. Der einfache Bürger auf der Straße sieht nicht die komplizierten Methoden und Probleme der Medizin. Der sagt nur: “Unverantwortlich, das Kind hätte ja nicht sein müssen, warum hat sie das nicht abgetrieben?” Und er kann dies nur sagen, weil die Politik bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und anderer internationaler Vorgaben kläglich versagt hat. Und zwar aus Kostengründen, womit wir wieder beim aktuellen Zeitgeist wären. Wenn es den Politikern darum geht, den Paaren eine freie Entscheidung für oder gegen die PID zu ermöglichen, dann muss man sie auch vor den Folgen einer Entscheidung gegen die PID schützen.
Früher, in den alten bösen Zeiten persönlicher Polarisierung, war ich gegen diePID. Heute fände ich es wirklich erstrebenswert, wenn wir zulassen könnten, dass den Betroffenen geholfen wird. Darum wäre ich dafür, dass der Bundestag jetzt, wo er die Zulassung der PID beschlossen hat, ins Grundgesetz eine neue Bestimmung aufnimmt. Ungefähr so:
Artikel 3 A
(1) Menschen mit Behinderung, sei diese vorübergehend oder dauerhaft, genießen während der Dauer ihrer Behinderung zusätzlich zu den in diesem Abschnitt festgelegten Menschenrechten die nachfolgenden Rechte:
a) Recht auf Leben in der Gemeinde,
b) Recht auf inklusive Beschulung,
c) Recht auf eine Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben,
d) Recht auf Eingliederung ins Arbeitsleben nach ihrer schulischen und beruflichen Eignung,
e) Recht auf angemessene Pflege oder andere Formen der notwendigen Betreuung oder des Nachteilsausgleichs.
(2) Der Bund ist verpflichtet, die zur Ausübung der oben genannten Rechte erforderlichen Mittel in finanzieller, personeller und sächlicher Hinsicht zur Verfügung zu stellen bzw. dem Betroffenen die Inanspruchnahme als selbstbestimmt lebendes Individuum zu ermöglichen. Eine Einschränkung oder Reglementierung dieser Rechte aus Kostengründen ist unzulässig.
(3) Der Bund wird durch geeignete Maßnahmen der gesellschaftlichen Diskriminierung behinderter Menschen entgegentreten.
Ich weiß, das ist nur so ein Denkmodell. Ich möchte damit sagen, dass die Geschichte uns lehrt, dass bestimmte technische wie medizinische Neuerungen in einer Zeit fast zwanghafter Optimierung immer ein Nachteil für die Menschen bedeutet, denen man doch so gern helfen will, die aber aus sozialdarvinistischer Sicht hinten runterfallen.
Nein: Ich bin kein pseudo-realistischer Fundamentalist. Im Idealfall wäre ich dafür, die PID zu erlauben, natürlich in begründeten Ausnahmefällen und nicht grundsätzlich, und gleichzeitig die Rechte behinderter Menschen zu stärken. Auch ich empfinde ein Leben von wenigen Tagen, Wochen oder Monaten, das nur aus Schmerz und Leid besteht, als große persönliche Zumutung für Kind und Eltern, zumindest dann, wenn die Eltern die Möglichkeit hätten, sich anders zu entscheiden, und wenn sie dies in der entsprechenden Situation auch getan hätten. Meine Angst ist, dass man irgendwann an den Punkt kommt, dass man beispielsweise bei einer PID feststellt, dass ein Kind im Rollstuhl sitzen wird oder blind werden wird. Und was, wenn die Eltern dann sagen, dass sie das nicht ertragen können, auch die gesellschaftlichen Folgen nicht? Die Blicke der Nachbarn und Freunde, die finanziellen Mehrauffwendungen, die mangelhafte Hilfe? Unter dem Vorwand der Verhinderung von Leid wird dann nach und nach jede Behinderung zum Leid abgestempelt, nicht heute, nicht mit diesem Gesetz, aber in Zukunft vielleicht. Das ist es, was es zu verhindern gilt. Wenn man alles tut, um eine solche Entwicklung zu verhindern, wenn man Leistungsträger verpflichtet, das menschenwürdige und selbstbestimmte Leben in der Gemeinde zu fördern, wenn die Nachteile, für die man als behinderter Mensch ja nichts kann, mit gemeinschaftlicher Anstrengung so weit wie möglich ausgeglichen werden können, und wenn man fördert, dass Menschen mit Behinderungen zum gewöhnlichen Alltag in Privatbereich, Schule und am Arbeitsplatz gehören, wenn man also alles dafür tut, dass so wenig wie möglich Menschen auf die Idee kämen, Menschen mit Behinderung als unwert, unnötig und unwesentlich zu sehen, dann kann man auch eine PID in begründeten Fällen zulassen und den Menschen erklären.