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An einem düsteren, verregneten Sonntagnachmittag spazierte ich durch Potosi, der höchstgelegenen Stadt der Welt – und tatsächlich, jede noch so kleine Konversation im Gehen raubte einem die Luft. Das grantige Grau des Himmels ließ die Farben der jahrhundertealten Prachtbauten noch satter und leuchtender erscheinen. Potosi war einst eine der reichsten Städte des Kontinents. Denn 1545 fanden die Spanier hier Silber – soviel, dass man überlegte eine Brücke, ganz aus Silber, von Potosi nach Madrid zu spannen. Schätzungsweise an die acht Millionen Sklaven aus Südamerika selbst und Afrika fanden hier, in den Minen des Cerro Rico, ihren qualvollen Tod. Und heute? ›Das Brot steigt, das Ei steigt, aber warum steigen die Löhne nicht?‹ fragen die Worte Evo, Evo Morales – es sollte nicht die einzige politische, an die Wand gesprühte, Botschaft bleiben.
Überhaupt scheinen ›die‹ Bolivianer ihre Meinung offenkundig und lautstark nach außen hin zu tragen: Demonstrationszüge – wie in La Paz erlebt – werden von Folklore, ohrenbetäubendem Feuerwerk, den Rufen einer entschlossen skandierenden Menge sowie allerhand Flaggen und Transparenten begleitet. Zu Zeiten der Militärregime bildeten Folklore-Feste eine Art Ventil für den Unmut der Bevölkerung – und an Rebellionen, Staatsstreichen und Umbrüchen hat Bolivien mehr als genug: Seit seiner Unabhängigkeit, am 6. August 1825 beanspruchten mehr als 200 Regierungen die Macht. Darüber hinaus könnten die vielen Gebietsverluste Boliviens eine Ursache für den reservierten, wortkargen – auf mich teils unfreundlich wirkenden – Umgang der Bevölkerung mit Menschen wie mir sein: Während des Salpeter-Krieges schnitt Chile Bolivien vom Meer ab; 1903 bemächtigte sich Brasilien der Region Acre, und ca. 30 Jahre später rang Paraguay Bolivien in einem Krieg das Chaco-Gebiet ab.
Und während ich gedankenverloren durch die kolonialen Gassen flaniere, treffe ich immer wieder auf Karnevalsumzüge – eine aus Menschenleibern, Musikinstrumenten, Konfetti und Alkohol geformte Schlange der Ausgelassenheit und Lebensfreude. Mir gefällt die Musik: Trommeln und Pauken, Flöten, Trompeten und Posaunen. Der Alkohol lässt den einen oder anderen nicht mehr Ton oder Rhythmus treffen – aber dennoch, wundervoll. Junge Pärchen gehen häufig tanzend vor: Hand in Hand und in Schlangenlinien andere Pärchen umwindend. Ja, Kreise, immer wieder Kreisbewegungen – wie kleine Himmelsgestirne. Auf den Gehsteigen sammeln sich Neugierige. Alte Frauen verkaufen mit Wasser gefüllte Luftballons, kleine Jungen jagen – ihre Wasserpistolen voller Stolz tragend – kleine und große Mädchen, die Mädchen wiederum wehren sich mit klebrigem Sprühschaum. Es wird viel getrunken und mancher Zeitgenosse schläft bereits jetzt schon auf dem Bordstein oder der Sitzbank seinen Rausch aus.
Gedankenverloren … Gestern, in einem gemütlichen vegetarischen Restaurant, lauschte ich einem Gespräch: Man unterhielt sich darüber, dass viele Reisende im Grunde nicht wissen wohin mit sich und der Zeit ›danach‹. Für nicht wenige ist es eine Flucht, ein Abschalten – Urlaub. Und auch ich werde oft gefragt, was ich so mache, im ›richtigen‹ Leben, und, ob auch ich denn gekündigt hätte. Ich tue mich immer schwer mit einer Antwort: Ich schreibe über meine Reise und mein Schreiben ist eine Reise – und ich stelle fest, dass ich sukzessive mehr und mehr Zeit damit verbringe. ›Sometimes I wonder if we’re spending too much time writing and not enough time living and experiencing all the things you’re supposed to experience while traveling, but then I realize I am happy living this way, traveling this way, being this way. We’re not wasting any time.‹ hat Sarah über einen ›unserer‹ Sonntage geschrieben. Und gerade jetzt ist so ein Moment, hier, in Sucre, kurz vor Mittag an einem Dienstag, und ich sitze alleine mit einer inzwischen halb leeren Flasche Rotwein am Tisch, und schreibe – aber wichtig ist letztlich nur, dass zu tun, was man will: Was zeichnet einen Schriftsteller aus? Oder ist der ›wahre‹ Schriftsteller der, der keine Feder braucht, um seine Worte anderen sichtbar zu machen? Miller selbst hat seine Griechenlandreise, ohne die Absicht darüber zu schreiben, begonnen, oder anders gesagt, er hat sie begonnen, um sich vom Schreiben zu lösen – entstanden ist ein wundervolles Werk (ich empfahl es bereits). Ich kann mich an einen jungen Mann aus München erinnern, den ich damals in Bangkok kennengelernt. Noch heute bin ich erstaunt, mit welch Selbstsicherheit er von sich behauptete: ›mein Name ist Paul und ich bin Schriftsteller‹. Und heute bezeichne ich mich selbst als einer – nur schreibe ich … in den Himmel, ins Meer oder mit Pisse in den Schnee. Ich kann nicht beweisen, dass ich einer bin. Oder impliziert das Wort ›Schriftsteller‹ schon allein, dass man sich bewiesen hat? Die Natur des Menschen zwingt sich anderen immer beweisen und erklären zu müssen. Nur, wie beweist man Gedanken, Stimmungen, Gefühle, Sehnsüchte, wenn wir gelernt haben unsere Rollen, Positionen und Status durch sichtbare, fassbare und käufliche Dinge zu ›bewahrheiten‹. Das Gros der Leute präsentiert sich nach außen hin als das, als was es entlohnt wird. Ich habe mich ein lange Zeit als das gezeigt, was und wer ich nicht sein wollte. Das Reisen hat mir gezeigt, wer ich bin und was ich will – meinem jungen Bruder zum Dank. Und kürzlich erst gab Sarah mir einen Hinweis, der mir erklärte, warum ich all die Jahre Schwierigkeiten hatte und nach wie vor auf Kriegsfuß mit der ›modernen‹ Welt stehe … sie sagte, meine Ansichten seien die eines Poeten.
Abends ging ich mit Nikolei aus Tschechien – ich lernte sie im Gästehaus kennen – Pizza essen. Ich bin immer wieder aufs neuste beeindruckt, mit welcher Leichtigkeit die heutigen Schulabgänger durch die Welt tingeln, und in welcher Qualität sie ihre dutzend Sprachen beherrschen. In ihrem Fall waren es neben dem Tschechischen, Englisch, Französisch und Spanisch. Während wir über unsere Reiseerfahrungen sprachen wurden wir immer wieder von bettelnden Kindern – sie kamen nicht nur an unseren Tisch – überrascht. Dieses mal bedrückte mich das nicht.