Postpartale Depression: seelischer Abgrund statt Glück mit dem Baby

Von Yoschi
Postpartale Depression

Nicht jede Frau, die ein Kind bekommt, schaltet problemlos aufs Muttersein. Etwa jede fünfte wird krank auf der Suche nach einigermaßen normalem Alltag und einem Stückchen Glück. Postpartale Depression heißt das Leiden. Es ist heilbar.

Postpartale Depression: seelischer Abgrund statt Glück mit dem Baby
© Thinkstock, Highwaystarz-Photography

Postpartale Depression

Das Kind ist da – und es beginnt kein Babyglück. Erst mal kommen Tränen, am dritten, vierten Wochenbett-Tag. Weil der schöne Blumenstrauß auf dem Nachttisch schon welkt. Weil das Baby so rührend klein ist. Und die Verantwortung so riesengroß. Der normale Babyblues, trösten Hebammen und Ärzte. Das geht vorbei. Es wurde schlimmer, jeden Tag. Die Angst um das Kind. Das Gefühl, von der Verantwortung erdrückt zu werden. Die Verzweiflung, den Tag mit dem Baby allein bewältigen zu müssen. Die Unruhe, die Schlaf auch dann unmöglich macht, wenn das Kleine friedlich ist.

Angst statt Glück


© Thinkstock, Mika Heittola

„Ich lag mit Herzklopfen und Schweißausbrüchen im Bett und habe den Schlaf meines Sohnes bewacht“, sagt Barbara, 28. „Bis ich es nicht mehr aushielt und ihn weckte.“ Um fünf Uhr morgens. Jeden Tag. In Jonas` ersten elf Lebenswochen. Wenn ihr Mann morgens aus dem Haus ging, blieb Barbara in Panik zurück. Sie musste die Fenster in der Wohnung im fünften Stock aufreißen.
Luft. Sie schaute nach unten. Und spürte den Sog. Oft stand Barbara mit Jonas auf dem Arm am Fenster. Hauchdünn die Entscheidung: ein Schritt vor – oder der Schritt zurück ins Warme.

Acht Monate ohne Namen

Julia, 32, hat vor sieben Monaten ihr zweites Kind bekommen. „Windeln wechseln war das Schlimmste für mich. Ich hatte Angst, die Kleine fallen zu lassen. Und wenn sie strampelte, machte mich das aggressiv. Ich zitterte am ganzen Körper.“ Julia liebt ihr Kind, sie sagt das mit Nachdruck. Sie möchte alles für die Kleine tun.  Alles geht nicht. Aber Stillen geht. Julia gibt ihrem Kind die Brust, obwohl sie das Stillen viel Kraft kostet. Und Julia sich sorgt, weil Wirkstoffe der Psychopharmaka zum Teil in die Milch übergehen. Julias Tochter heißt mit sieben Monaten immer noch „die Kleine“. Beim Standesamt sind fünf Doppel-Rufnamen eingetragen. Bis jetzt hat das Kind noch keinen bekommen.

Niederlagen von Anfang an

Sandra, 34, hat schwer darum kämpfen müssen, endlich Mutter zu werden. Drei Jahre Kinderwunsch, dann endlich die Schwangerschaft nach zwei IVF-Versuchen. Die Geburt, normal begonnen, endete nach vier Tagen Kampf mit einem Kaiserschnitt.  Aber was für ein Glück – eine gesunde Tochter! Nach drei Wochen zu Hause versiegte bei Sandra die Milch. „Eine Niederlage“, flüstert sie. Es gab viele schlechte Tage, in den ersten Wochen mit dem Baby, viele Tränen, Versagensangst und diese unendliche Müdigkeit. „Wie Watte, ich hab mich fast nicht mehr gespürt.“ Und dann wieder gute Tage. Tage, an denen Sandra ihre Leonie im Kinderwagen durch den Park  schiebt und spüren kann, dass sich Sonne auf der Haut gut anfühlt. Doch die hellen Tage reichen nicht. Sandra hatte ständig Kopf- und Bauchschmerzen, sie spürte, dass etwas nicht stimmt.

Langsam zurück ins Leben

Barbara, Julia und Sandra sind drei von acht Frauen, die derzeit auf der Mutter-Kind-Station des Westfälischen Zentrums für Psychiatrie und Psychotherapie in Herten wegen einer postpartalen Depression behandelt werden. Die Station sieht aus wie eine große Mütter-WG. Der Schwesternstützpunkt, wie eine gemütliche Wohnküche. Mit ein paar Besonderheiten: Auf dem großen Regal stehen acht Babyfone, damit das Personal Tag und Nacht ein Ohr an den Kindern haben kann. Und auf dem Aktenschrank stehen acht Näpfchen mit Medikamenten. Genau dosiert für jede Frau. Angepasst an den Zustand ihrer Seele: Für die eine noch die große Dosis Psychopharmaka, für die andere reicht schon wenig von der Arznei, die den Stoffwechsel im Gehirn im Gleichgewicht hält.

„Ich bin eine schlechte Mutter“

Im Kinderwagen zwischen dem runden Tisch und dem Arbeitsplatz mit Computer wacht Anna gerade auf. Anna, Nicoles neun Wochen alte Tochter. Nicole ist seit gestern neu auf der Station. Sie hebt Anna aus dem Wagen, ein bisschen ungeschickt, aber es ist ja auch ihr erstes Kind. Die Kleine schreit immer lauter, ihr Köpfchen kippt nach hinten. Jetzt steht Helmut auf, ein Krankenpfleger mit spärlichem Haar, wachsamen und zärtlichen Augen und kräftigen Männerarmen. Wie beiläufig nimmt er Nicoles rechte Hand, damit Annas Köpfchen Stütze kriegt. „Schaukeln Sie die Kleine ein bisschen“, rät er. Das Schaukeln sieht eher aus wie ein Rütteln. Nicht leicht mit anzusehen. „Aber genau das müssen wir können“, sagt Helmut. „Unsere Frauen sind auch deshalb depressiv, weil sie sich für schlechte Mütter halten. Wenn wir ihnen immer zeigen, dass wir mit dem Kind besser umgehen können, geht die Spirale noch weiter nach unten.“

„Ich muss mein Kind doch lieben!“

Die acht Mütter haben viel Leid ertragen, bis sie hier aufgefangen wurden. Verzweifelte Wochen mit Schuldgefühlen und Selbstzweifeln, mit totaler Erschöpfung. Viele hatten erwartet, dass die Liebe zum Kind einschießt wie die Muttermilch. Stattdessen empfanden sie Leere. Das Glück war gespielt, mit aller Kraft. Oft musste der Körper reagieren, bis die Seele endlich krank sein durfte. Johanna, 31, hatte einen Hörsturz, als ihr Sohn elf Wochen alt war. Stefanie konnte kein Essen mehr bei sich halten. Christina wachte in der Nacht vor Silvester mit Herzrasen auf und mit Atemnot. So schlimm, dass ihr Mann den Notarzt rief und sie ins Krankenhaus kam. Ein Glück, wenn die Ärzte erkennen, was hinter den Symptomen steckt. Und wenn die betroffenen Frauen mit ihrem letzten bisschen Kraft zugeben können, dass ihre Seele Hilfe braucht.

Ich auch?

Brauche ich sie auch? Bin ich dabei, in eine Depression abzudriften, oder bin ich einfach nur unausgeschlafen und deshalb erschöpft? Sicher werden sich das viele junge Mütter beim Lesen fragen. Wenn es Ihnen schon länger nicht gut geht, sollten Sie sich eine halbe Stunde Zeit nehmen und diesen Fragebogen ausfüllen. Bitte wirklich bei jeder Frage genau überlegen, welche Antwort am ehesten auf Sie zutrifft.

Die kritische zehnte Woche

Von einer postpartalen Depression sprechen Fachleute, wenn junge Mütter in eine der beschriebenen Krisen stürzen. Betroffen sind in Europa und Nordamerika etwa 20 Prozent der Frauen mit Baby. Dr. Luc Turmes, ärztlicher Direktor der Hertener Einrichtung: „Zur Krise kommt es am häufigsten um die zehnte Lebenswoche des Babys. Bis dahin schaffen es viele unter einer postpartalen Depression leidende Frauen, die Krankheit des Gemüts mit dem Willen zu bekämpfen. Die Speicher leeren sich bei diesem Kraftakt. Der Zustand wird so bedrohlich, dass der Partner, die Hebamme, eine Freundin reagiert.“
Mit Glück folgt jetzt die richtige Behandlung. Zunächst in einer psychiatrischen Klinik. Danach im Idealfall auf einer Mutter-Kind-Station. Wäre es nicht auch ein Weg, die Mütter wieder gesund werden zu lassen und dann erst die Babys dazuzuholen?

Das Baby hilft heilen


Dr. Luc Turmes weiß aus der Betreuung von mittlerweile mehr als 700 Mutter-Kind-Paaren: „Lieben lernen geht nur gemeinsam. Die Seele der Mutter heilt in dem Maß, in dem die Frau eine stabile Beziehung zu ihrem Kind aufbauen kann.“
Barbara kann nach sechs Wochen in Herten schon bis sieben Uhr morgens schlafen. Und liegen bleiben, wenn Jonas noch schlummert. Sie liebt die zwei Stunden Babymassage in der Woche. Weil sie dabei Jonas´ robusten Körper spürt. Sie erlebt, wie gut dem Kleinen ihre Hände tun.
Geduldig ermuntert die Psychotherapeutin Hannelore Liers-Schehl die Frauen, auch „Baby“ zu spielen. Auf der Decke liegen, strampeln, ausführlich eine Hand betrachten, ausprobieren, wie es ist, an einem Finger zu nuckeln. Das fühlt sich anfangs ein bisschen komisch an, aber auch stark. Nicht nach Hilflosigkeit, aus der es keine Rettung gibt.
Julia ist jetzt schon acht Wochen in Herten. Noch heißt ihr kleines Mädchen beim Personal und den anderen Müttern „Fräulein Herzog“. Aber in dieser Woche will Julia es schaffen, einen Namen für die Kleine auszusuchen.
Sandra wird nach neun Wochen in Herten bald entlassen. Sie kann jetzt ausdrücken, wie viel Kraft die Kinderwunsch-Behandlung sie gekostet hatte und wie bitter es war, ihr Kind so „schlecht“ auf die Welt bringen zu können.
Die Mütter werden an ihren Kindern gesund. Und wie kommen die Babys mit dem Alltag in der Mutter-Kind-Station zurecht? Zumindest in der ersten Zeit geht es den Frauen ja noch richtig schlecht.
„Die Natur rechnet nicht mit perfekten Eltern“, erklärt Dr. Luc Turmes dazu. „Babys halten viel aus, sie haben exzellente Techniken, sich zu schützen. Eine ganz wichtige Erfahrung, die unsere Mütter hier machen.“ Und: rund um die Uhr ist erfahrenes, liebevolles Personal da für die Kleinen.

Wo sind die Väter?

Sechs der acht Frauen in Herten leben in einer stabilen Partnerschaft. Die Männer sind jederzeit willkommen in der Mutter-Kind-Station. Es gibt eine spezielle Vätergruppe, betreut von Fachleuten. Denn der Schock, was da mit ihrer Frau passiert ist, sitzt tief. Auch die Männer brauchen Gespräche, um das aufzuarbeiten.

Offen für Freude

Sandra nimmt zum letzten Mal vor ihrer Entlassung an der Gruppenrunde teil. Hannelore Liers-Schehl bittet die Frauen, Sandra Wünsche mitzugeben für die Zukunft. „Ich wünsche dir, dass Leonies Lächeln immer bei dir ankommt“, sagt Barbara. Sandra muss ein bisschen weinen. Aber nur vor Rührung.

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