Die Nachfahren der Wikinger blieben sich genetisch gleich in Skandinavien bist heute
- 442 Wikinger-Genome sind sequenziert worden - Und die Ergebnisse zeichnen ein Bild auffallender genetischer Kontinuität bis heute
Die Skandinavier sehen noch heute genauso aus wie die Skandinavier vor tausend Jahren. Ähnliche Körperpigmentierung, ähnliche Körpergröße und viele sonstige angeborene körperliche und seelische Merkmale sind in den letzten tausend Jahren in ihrer Häufigkeit größtenteils gleich geblieben. Das ist das wesentliche Bild, das eine neue Studie zur Archäogenetik der Wikinger zeichnet (1). Und angesichts der vielfältigen genetischen Veränderungen in Europa vor der Bronzezeit darf man auch das Bild von etwa 4000 Jahren genetischer Kontinuität seit der Bronzezeit in Europa so stark wie möglich auf sich wirken lassen. Europa steht eben für beides: Für Veränderung und für Kontinutität. Und es weist fast in jenen Geschichtsepochen, in denen es kulturell die größten Veränderungen hervorgebracht hat, genetisch fast die geringsten Umwälzungen auf. Nämlich in den letzten tausend Jahren (1).
Eigentlich erst für ein einziges genetisch verschaltetes Merkmal kann die Archäogenetik und die moderne Humangenetik neuerdings aufzeigen, daß es sich in den letzten 4000 Jahren innerhalb von Nordeuropa in seiner Häufigkeit deutlich verändert hat: Rohe Milch haben unsere Vorfahren mehrheitlich erst seit der Bronzezeit getrunken, nicht vorher. Diese Erkenntnis deutet sich in einer Grafik an, die in der neuen Preprint-Studie zur Archäogenetik der Wikinger auch enthalten ist (Abb. 1).
Dieses einzige Bild größerer Veränderung, das hier zu behandeln ist, sei zuerst erkläutert (Abb. 1): In der spätneolithischen schnurkeramischen Kultur ("Corded Ware EU") gab es unter 10 sequenzierten Individuen keines, das angeborenermaßen rohe Milch verdauen konnte. Unter 31 sequenzierten Glockenbecher-Individuen im heutigen Deutschland gleicher Zeitstellung ("BB_Germany") gab es ebenfalls nur wenige Individuen, die das konnten. Diese Eigenschaft ist allerdings dann im bronzezeitlichen Ostseeraum ("Baltic_BA") schon unter fünf von 10 Individuen zu finden. Und in der Wikingerzeit ("VA") ist diese Fähigkeit dann schon ähnlich häufig verbreitet wie sie es noch heute in Skandinavien ist (heute: Balken ganz rechts).
"Polygenetische Risiko-Faktoren" vor 1.000 Jahren
Und das gilt interessanterweise für eine große Fülle von angeborenen Eigenschaften wie Haar-, Haut- und Augenfarbe, auch Körpergröße, Neigung zu Schizophrenie und so weiter. Sie alle sind in der Regel deutlich stärker polygenetisch verschaltet als die Erwachsenen-Rohmilch-Verdauung. Und für sie kann - aufgrund der Forschungen der wenigen letzten Jahre - inzwischen eine polygenetische Erblichkeitseinschätzung ("polygenic risk score") vorgenommen werden, selbst für Genome aus tausende von Jahren alten Knochen (Abb. 2).
In Abbildung 2 werden eine Fülle von menschlichen Eigenschaften aufgezählt, deren Ausprägung von mehr als hundert einzelnen Gen-Orten (SNP's) im Genom mitbestimmt werden, sprich, die polygenetisch vererbt werden, und für die schon heute aufgrund der fortgeschrittenen Forschungslage eine Einschätzung der phänotpyischen Ausprägung anhand der polygenetischen Daten im Genom vorgenommen werden kann. Die Häufigkeitsverteilung dieser polygenetischen Anlagen ("polygenic risc score") scheinen sich nun laut dieser Grafik in den letzten tausend Jahren in den seltensten Fällen auffallend verändert zu haben - abgesehen von einer Eigenschaft: der Neigung zu schwarzer Haarfarbe. Diese liegt heute sogar noch deutlich weniger häufig vor in Skandinavien als vor tausend Jahren. Aber selbst Gene, die mitbestimmen, wieviel Zeit wir vor dem Fernseher verbringen, scheinen heute noch ähnlich verteilt zu sein in der Bevölkerung wie vor tausend Jahren. Ebenso Gene, die den Zeitpunkt der geschlechtlichen Reife mitbestimmen (also die typische angeborene Sprödigkeit der Germanen), ebenso Gene, die Heuschnupfen hervorrufen, Gene, die Körpergröße und Körpergewicht bestimmen, Gene, die bestimmen, ob man ein Morgenmensch oder Abendmensch ist, Gene, die mitbestimmen wie neurotisch wir sind, wie stark wir dazu neigen, an Schizophrenie zu erkranken und so vieles andere mehr.
Sie alle sind gleich geblieben - trotz tausend Jahren Christentum. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts scheinen genetisch noch sehr stark jenen Menschen zu ähneln, die vor tausend Jahren in Europa gelebt haben. In der Studie werden nirgendwo Vergleiche angestellt des polygenic score für die Intelligenz der Wikinger und der heutigen Skandinavier. Womöglich ist die Datenlage noch zu dünn. Das wird sich aber in nur wenigen Jahren ändern. Und da darf man dann noch einmal gespannt sein.
Die neuen Erkenntnisse dieser Studie sind dadurch gewonnen worden, daß 442 Skelette Nordeuropas sequenziert worden sind aus der Zeit zwischen 2.400 v. Ztr. und 1600 n. Ztr., vorwiegend aus der Wikingerzeit.*) Was aber kann aus dieser neuen Studie noch gelernt werden, außer der recht wesentlich erscheinenden Wahrnehmung, daß sich die polygenetischen Risikofaktoren in den letzten tausend Jahren offenbar so auffallend wenig verändert haben? Für die Zeit um 1.000 v. Ztr., also vor 3.000 Jahren wird die folgende Aussage gemacht (1):
Wir finden, daß der Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit einher geht mit einem Rückgang des anatolisch-neolithischen genetischen Anteils und einer Zunahme des indogermanischen genetischen Anteils und der vorneolithischen Jäger-Sammler-Anteils.
We find that the transition from th e BA to the IA is accompanied by a reduction in Neolithic farmer ancestry, with a corresponding increase in both Steppe-like ancestry and hunter-gatherer ancestry.
Es fragt sich aber, ob dieser Aussage wirklich irgendeine Bedeutung zugesprochen werden muß. Denn in der zugehörigen Grafik (Extended Data, Fig. 6 b) ist diese Veränderung kaum zu erkennen und stellt sich nur als wenig auffallend dar, bzw. als gar nicht sichtbar. Viel eher drängt sich auch hier auf, daß die Herkunftsanteile von den letzten Jägern und Sammlern Europas, sowie den ersten Bauern Europas über die letzten viertausend Jahre hinweg immer einigermaßen in gleichen Anteilen im Erbgut der Nordeuropäer geblieben sind.
Während der Wikingerzeit gibt es in einigen Teilen Schwedens sogar Bevölkerungen, die bis zu 40 % genetisch anatolisch-neolithischer Herkunft sind. Auch mischt sich in der Wikingerzeit in einigen Regionen ostasiatische oder kaukasische Genetik mit hinein, sicherlich aufgrund des Hereinbringens von Sklaven aus dem russischen Raum. Es findet sich auch die Genetik von keltischen Briten im wikingerzeitlichen Skandinavien und auch diejenige von spätantiken, bzw. frühmittelalterlichen Südeuropäern.
In Dänemark nun finden sich keine schwedischen oder norwegischen Wikinger begraben, umgekehrt in Norwegen und Schweden aber sehr wohl dänische Wikinger. Damit wird deutlich, daß es eine größere Bewegung von Menschen aus Dänemark Richtung Norden gab als umgekehrt von Schweden und Norwergen Richtung Dänemark. Im ganzen damaligen skandinavischen Raum war damals auch Dänisch die Verkehrssprache wie in der Studie festgehalten wird. Dänische Wikinger siedelten in England, schwedische Wikinger siedelten im Ostseeraum, norwegische Wikinger besiedelten Irland, Island und Grönland. Interessanterweise sind die Wikinger im Südwesten Schwedens genetisch kaum von den Dänen zu unterscheiden, ebenso sind die Angeln und Sachsen, die in England siedelten, genetisch kaum von den Dänen zu unterscheiden. Für einige Orte und Regionen - wie etwa die Insel Gotland - können noch weitere Auffälligkeiten festgestellt werden (1):
Auf Gotland gibt es viel mehr genetische Komponenten, die Ähnlichkeit mit damaligen Dänen, Briten und Finnen aufweisen als solche, die Ähnlichkeit mit damaligen Schweden aufweisen, was deutlich macht, daß diese Insel während der Wikingerzeit in weiträumigen intensiven Handelsontakten stand.
On Gotland, there are much more Danish-like, British-like and Finnish-like genetic components than Swedish-like components, supporting the notion that the island may have been marked by extensive maritime contacts during the Viking Age.
Für zwei Individuen wird im Anhang der Studie noch aufgezeigt, welche Art von Aussagen über ihr Aussehen beim derzeitigen Stand der Forschung gemacht werden können. Die Aussagen sind noch keine 100%-Aussagen, weil alle behandelten Merkmale - wie überhaupt fast alle Merkmale des Menschen - polygenetisch bedingt sind und man noch von fast keinem der menschlichen Merkmale den vollständigen Satz jener vielen hundert oder tausend SNP's ("Gene") von jeweils geringer Wirkung kennt, die zur Ausprügung des Merkmals beitragen (1; Anhang 2, S. 76f):
Für Individuum VK1: Die Wahrscheinlichkeit, blaue Augen zu haben, kann auf 0,85 eingeschätzt werden, die Wahrscheinlichkeiten für blondes Haar 0,63, für braunes Haar 0,29, rotes Haar 0,01 und schwarzes Haar 0,07. Für Individuum VK42 entsprechend ...
For VK1 individual: The estimated probability of having blue eyes was 0.85, while the hair color probabilities were blond (0.63), brown (0.29), red (0.01) and black (0.07). For VK42 individual: the estimated probability of having brown eyes was 0.98, while the hair color probabilities were blond (0.15), brown (0.6), red (0.001) and black (0.25).
Die zahlenmäßige Häufigkeit von "Risiko-Allelelen" dafür, schwarze Haare zu haben, ist seit der Wikingerzeit bis heute zurück gegangen, so wird wird ausgeführt (1; Anhang 2, S. 96):
Es scheint, als habe sich bei den Dänen die Häufigkeit von gut bekannten Allelen, die die Haarfarbe beeinflussen, seit der Wikingerzeit beträchtlich verschoben, während wir keinerlei andere bedeutsame Häufigkeitsveränderung für Allele erkennen können, die anthropometrische Merkmale beeinflussen oder einige wenige (schon polygenetisch besser erforschte) komplexe Krankheiten.
It appears that frequencies of established common alleles affecting hair colour have significantly changed in the Danish population since the Viking Age, whereas we do not observe any significant change for alleles affecting other common anthropometric traits and a few complex disorders.
Insgesamt macht diese Studie deutlich ein hohes Maß an genetischer Kontinuität in diesem Zeitraum. Zumindest wenn man es mit den Jahrtausenden davor vergleicht.
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Aus der Wikingerzeit wurden sequenziert (1):
Individuals from Denmark (n=78), Faroe Islands (n=1), Iceland (n=17), Ireland (n=4), Norway (n=29), Poland (n=8), Russia (n=33), Sweden (n=118), UK (n=42), Ukraine (n=3) as well as medieval individuals from Faroe Islands (n=16), Italy (n=5), Norway (n=7), Poland (n=2) and Ukraine (n=1). The Viking Age individuals were supplemented with additional published genomes (n=21) from Sigtuna, in Sweden.
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- Population genomics of the Viking world. Ashot Margaryan, Daniel John Lawson, Martin Sikora, (...) Kristian Kristiansen, Rasmus Nielsen, Thomas Werge, Eske Willerslev. bioRxiv 703405; Preprint, 17.7.2019, doi: https://doi.org/10.1101/703405