Politisches Kapital

Von Stefan Sasse
Es ist ein bekanntes Phänomen in der Politik, zumal in einer parlamentarischen Idee: ein Politiker gibt bekannt, gerne im Wahlkampf, etwas Bestimmtes tun zu wollen. Nach einigen erfolglosen Versuchen, es umzusetzen, verschwindet die Idee dann in der Versenkung. Dies ist umso unverständlicher, wenn die fragliche Person eine nominell große Machtfülle hat, amerikanischer Präsident etwa oder Bundesminister. Dabei ist die Erklärung gar nicht so schwierig: Wenn man politisch etwas Erreichen will - ob es sich dabei nun um die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung, die Erhöhung des Renteneintrittsalters oder den Ausbau von Kindertagesstätten handelt - braucht man dazu politisches Kapital. Und dieses politische Kapital ist eine knappe, schwer zu erlangende Ressource. Obwohl der Begriff gelegentlich verwendet wird, ist seine Bedeutung den wenigsten Leuten klar, wenn sie die aktuellen Nachrichten verfolgen und nicht verstehen, warum es so schwierig sein kann, ein Gesetz durch das Parlament zu bringen, besonders dann, wenn die blockierenden Stellen nominell diese Macht gar nicht haben dürften. Ich will deswegen im Folgenden kurz versuchen darzustellen, wie politisches Kapital funktioniert und warum es eine so große Bedeutung im politischen Prozess besitzt. 
Am Anfang steht dabei eine banale Wahrheit: die Zeit und Aufmerksamkeit einer einzelnen Person ist begrenzt. Merkel, sich mit einem Krisengipfel zu Griechenland beschäftigend, hat wenig Zeit für eine umfassende Steuerreform, die das ganze System einfacher und gerechter machen soll (toll wie einfach einem diese Phrase von den Lippen geht, so oft hat man sie gehört). Das heißt, dass jeder Politiker zwangsläufig Prioritäten setzen muss. Da viele seiner Aufgabenfelder widerstreitende Intentionen und Mechanismen besitzen, muss er Entscheidungen darüber treffen, worin er seine Aufmerksamkeit investiert. Die reine Zeit und Aufmerksamkeit eines Politikers macht die eine Hälfte seines politischen Kapitals aus. Wofür er keine Zeit hat, das kann er nicht bearbeiten. Und "bearbeiten" heißt hier nicht einfach nur im Bundestag die Hand bei der Abstimmung zu heben (oder welcher Abstimmungsmodus gerade gefordert ist), sondern das heißt, sich ins Thema einzuarbeiten und Gesetze zu schreiben, was tatsächlich ziemlich schwierig ist und überwiegend auch tatsächlich gemacht wird. Die andere Hälfte des politischen Kapitals besteht aus Beziehungen und Gefallen.
Je länger die Karriere eines Politikers dauert, desto mehr Leute kennt er, desto mehr Gefallen werden ihm geschuldet und desto mehr Leuten schuldet er etwas. Wenn, als Beispiel, ein Politiker in der Enquete-Kommission sitzt und irgendein Internet-Gesetz durchbringen will, braucht er dazu zwangsläufig die Stimmen seiner Partei, und den meisten Abgeordneten dürfte das spezifische Gesetz reichlich egal sein. Handelt es sich nicht um etwas, das ohnehin von allen Fraktionen einfach durchgewunken wird (was rund 90% aller Gesetze betrifft), so muss er sie dazu bringen, einen Teil ihrer Zeit und Aufmerksamkeit zu investieren - obwohl sie das nicht vorgehabt hatten. Das kann man nicht allzu oft machen, selbst als Kanzlerin und Parteivorsitzende nicht. Um seine komplette Fraktion dazu zu bekommen, etwas Aufwändiges zu tun, muss man entsprechend viel Gewicht in die Waagschale werfen, und Leute tendieren dazu, sich solchem Aufwand zun entziehen.
Und das ist lediglich die Komponente am politischen Kapital, die direkt von den einzelnen Politikern abhängt. Zusätzlich gibt es eine ganze Reihe äußerer Faktoren, die ebenfalls daran zehren. Dies sind vor allem drei: die Medien, Interessengruppen und die eigenen Wähler. Fangen wir mit den Medien an: sie können Abgeordnete dazu zwingen, sich mit Themen zu beschäftigen, die sie vorher nicht interessiert haben - ACTA ist ein aktuelles Beispiel. Dadurch wird politisches Kapital aufgebraucht, dass sie anderweitig einsetzen könnten. Natürlich kann es auch anders herum laufen, und die Aufmerksamkeit wird durch die Medien abgelenkt (etwa weil alle über irgendeinen Sexskandal bei der Opposition berichten), so dass man im Windschatten mit deutlich weniger politischen Kapital  als sonst durchkommen kann. Der zweite Faktor sind Interessengruppen, etwa Lobbyisten oder Gewerkschaften. Sie verfügen normalerweise über die Mittel, um eine bestimmte Maßnahme konstant zu verfolgen und einzufordern, was ebenfalls am verfügbaren politischen Kapital zehrt. Und zuletzt können auch die Wähler selbst politisches Kapital aufzehren, wenn sie irgendwelche Bedürfnisse stark genug artikulieren.
Selbstverständlich kann politisches Kapital nicht nur aufgezehrt, sondern auch akkumuliert werden. Neben des offensichtlichen Sammelns von Gefallen, die diese Ressource steigern, kann ein Politiker auch die öffentliche Meinung in seinem Sinne lenken, um dadurch mehr Kapital für seine eigenen Ziele anzusammeln. Ein gutes Beispiel dafür ist die aktuelle Phantom-Debatte um die Einführung einer Sonderabgabe für Kinderlose. Dieser Vorschlag war niemals ernst gemeint, und man kann es problemlos an der schnellen und entschiedenen Ablehnung Merkels erkennen. Doch es ging auch nie um die konkrete Initiative. Stattdessen ist es eine Variation des alten Themas, dass Deutschland "zu wenig Kinder bekommt" und der demographische Wandel "uns" bedroht. Nachdem der offensichtliche Unfug der Sonderabgabe abgeschmettert ist, bleibt der Gegenstand selbst zurück, nämlich eben jene Herausforderung durch die Demographie, und generiert eine Menge freier und freiwilliger Berichterstattung und Diskussion. Es wäre ungleich schwieriger gewesen, nach über einer Dekade der Dauerbombardierung mit dem Thema einfach nur die x-te Initiative für Geburtenförderung vorzubringen.
Wenn man sich diese Mechanismen klar macht versteht man auch wesentlich besser, warum Präsident Obama es immer noch nicht geschafft hat, Guantanamo zu schließen. Es erfordert schlicht mehr politisches Kapital, als er hat. Die Schließung ist unpopulär und würde alle, die dafür stimmen, deutlich kosten - und das war bereits bei der Krankenversicherungsreform der Fall, so dass ein zweites solches Projekt gerade kaum machbar ist, besonders über den aktuellen, dringenderen Problemen. Man mag das verurteilen, aber es ist Realität. Es ist übrigens auch nicht exklusiv auf parlamentarische Demokratien beschränkt; hier ist es nur am transparentesten. Selbst Diktaturen sind gezwungen, zu einem gewissen Grad die Volksmeinung zu berücksichtigen, und das Netz von Gefallen und Verbindungen ist oft wesentlich stärker als in Demokratien ausgeprägt. Es muss daher relevant sein, solche Prozesse zu verstehen, ohne sie gleich zu verdammen oder zu bejubeln. Sie sind Realität, und wer politisch aktiv sein will, muss sich ihrer bewusst sein, oder er riskiert, gegen eine Wand zu laufen. Und damit erreicht man am Allerwenigsten.

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