Von Stefan Sasse
Die CDU mäandert schon eine ganze Weile im programmatischen Niemandsland. Das ist für die Partei nur teilweise etwas Neues, sie konnte schon immer wesentlich leichter ihre Position ändern, ohne dass ihr ihr Elektorat böse gewesen wäre. Das Regieren war schon immer der Markenkern der CDU; von ihm profitiert sie seit Jahrzehnten. Mit wenigen Ausnahmen liegt sie in der für Wahlentscheidungen so wichtigen Bewertung der "Wirtschaftskompetenz" deutlich vor der Konkurrenz aus SPD und Grünen, von der LINKEn ganz zu schweigen. Neben dieser so genannten "Wirtschaftskompetenz" spielt das Themenfeld "Innere Sicherheit", auf dem die CDU mit markigen, BILD-kompatiblen Forderungen ebenfalls stets Regierungsfähig wirkt, eine wichtige Rolle. Diese beiden Felder stellen Kernkompetenzen der CDU dar. Gelingt es einer Oppositionsbewegung, hier zumindest gleichzuziehen - wie etwa Karl Schiller oder Helmut Schmidt für die Wirtschaftskompetenz und Otto Schily für Innere Sicherheit -, so bekommt die CDU Probleme. Auf den meisten anderen Politikfeldern ist sie nämlich konservativ, will heißen: behäbig-flexibel.
Das ist ein scheinbares Paradox. Gerade dort, wo man den Konservatismus am ehesten vermuten würde, etwa in der Familienpolitik, beim Verbraucherschutz, vielleicht beim Verkehr, ist die Union wesentlich flexibler als etwa auf dem Feld der Inneren Sicherheit oder Wirtschaft, wo etwa der Mindestlohn immer noch als Teufelszeug gilt und ohne Vorratsdatenspeicherung der Taliban vor der Tür steht. Die "Bewahrung der Familie", für die die Union immer wieder mit Verve gegen die vermeintlichen linken und liberalen Bilderstürmer zu Felde zieht, ist aus der realen Politik fast verschwunden. Man hält noch am Ehegattensplitting fest und verkündet hin und wieder markige Sprüche, aber es gibt derzeit realistisch keine Partei in Deutschland, die noch für das alte Familienmodell des männlichen Alleinernährers eintritt, wenn man nicht den ultrarechten Rand aus NPD und DVU mitzählt. Auch ansonsten ist der frühere Konservatismus kaum mehr zu finden; Religion etwa spielt kaum mehr eine Rolle im Alltag der CDU.
Die resultierenden Phantomschmerzen werden mit markigen Sprüchen bekämpft. Der wichtigste davon ist die Konstruktion einer "christlichen Leitkultur", neuerdings auch gerne "christlich-jüdisch-abendländisch", mit der eine klare Grenze hin zu den Muslimen gezogen wird und die letztlich eine Kampfansage an die muslimischen Migranten in Deutschland und die unterstellte "Multi-Kulti"-Politik der SPD, LINKEn und Grünen ist. Die Union nutzt diese Angriffe zur so genannten "Profilschärfung", also dem Halten von Stammwählern. Die latente Abneigung gegen Migranten ist in Deutschland weit verbreitetet, wenn auch weniger weit als bisher angenommen (vgl. Freitag-Studie), und auf diese Weise kann die Union genauso leicht punkten wie mit Forderungen nach Strafverschärfung für Sexualstraftäter.
Trotzdem verliert die Union, die spätestens seit 2009 als "letzte Volkspartei" gesehen wurde (mit 35% der Stimmen), derzeit offenbar an Zuspruch. Zur Erklärung für die rasanten Zuwächse der Grünen wird oftmals das stärkere ökologische Bewusstsein angeführt. Das aber halte ich für keine hinreichende Erklärung. Die Wende, mit der die Union sich von ihrem Markenkern "Atomenergie" verabschiedet hat, sollte ökologische Gewissen eigentlich befriedigen, wenn man sonst mit seiner Partei übereinstimmt, dafür haben die Grünen mit ihrer Migrantenfreundlichkeit, der eher antiklerikalen Haltung und dem äußerst modernen Familienbild zuviel Abschreckendes in petto. Es scheint eher so, als würde das CDU-Patentrezept derzeit nicht mehr auf Gegenliebe stoßen. Zur Erinnerung: dieses Patenrezept besteht im Regieren, im Vertreten eines angeblichen (und eigentlich hochideologischen) Pragmatismus, dem TINA-Prinzip (There Is No Alternative). Die Grünen stellen dem nicht einfach nur eine glaubhaft ökologische Haltung entgegen.
Was die Grünen derzeit liefern können - und darin liegt auch ein Hauptgrund für das weiterhin schlechte Abschneiden der SPD - ist das Gefühl, eine Partei wählen zu können die auf der einen Seite zu vernünftigem Regieren in der Lage ist, auf der anderen Seite aber auch für etwas steht. Die seelenlose Regierungsarbeit, die SPD und CDU abliefern, dieses Verwalten des Staates von einem Tag auf den nächsten, hat die letzten Jahre hervorragend funktioniert und Anklang gefunden. Inzwischen aber ist man dieses Modells müde. Die Grünen bieten Ideen, man kann für sie sein oder dagegen. Neue Mobilitätskonzepte, neue Energiekonzepte, grüner New Deal, mehr Bürgerbeteiligung, Schulreformen - all das sind wenigstens in der Urform Programme, die durchgesetzt oder bekämpft sein wollen. Wofür dagegen stehen SPD und CDU? Für ein "weiter so, aber nicht ganz".
Man kann sich jetzt darüber ärgern, dass es ausgerechnet die koalitionstechnisch etwas unberechenbaren und von wohlhabenden Bürgern gewählten Grünen sind, die von dieser Stimmung profitieren. Die Partei hat ziemlich Glück damit gehabt, durch S21 und Fukushima zwei große Ereignisse gehabt zu haben, die eine Sensibilität für ihre Kernthemen geweckt haben. Besäße die SPD mehr vernünftige strategische Denker, hätte sie schon vor einigen Jahren die Arbeitsverhältnisse zum großen Thema machen und dieses besetzen können. Da sie die zu kritisierenden Arbeitsverhältnisse aber selbst geschaffen hat und zudem ein zutiefst schizophrenes Verhältnis zur Agenda2010 hat, weil ihre Machtstrategen davon ausgingen dass sie der CDU auf dem Feld des "regierenden Pragmatismus" Konkurrenz machen müssten, ist dieses Feld bis heute relativ unbestellt. Sollte Schwarz-Gelb doch noch einen Mindestlohn einführen, und das ist so unwahrscheinlich nicht, fehlt der SPD erneut ein gutes Thema, das sie mutwillig verschenkt hat.
Es bleibt abzuwarten, inwiefern der Trend zu den Grünen hin sich verfestigen kann. Die Partei profitiert wohl auch ein wenig von der niedrigen Wahlbeteiligung, weil es eher die klassischen Klientel der alten Volksparteien und der LINKEn sind, die nicht zur Wahl gehen als die im Durchschnitt besser situierten und gebildeten Wähler der Grünen. Einer der Schlüsselbausteine wird die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg sein, wo die Grünen ein Live-Experiment darin abliefern, wie sie eigentlich regieren wollen. Bislang stellen sie sich klug an, aber die erste Herausforderung lässt bislang auch noch auf sich warten. Fakt ist, dass die Entwicklung der Grünen derzeit die Achse darstellt, um die das Parteiensystem rotiert. Wenn sie ihre Stellung konsolidieren können müssen sich die anderen zwangsläufig neu ausrichten. Für die SPD wird das am Einfachsten sein; sie akzeptiert einfach die Rolle des Regierungsarbeiters, mal Mehrheitsbeschaffer, mal Mehrheitsführer. Große Aussichten auf Schwarz-Grün sehe ich derzeit aber nicht; die CDU profiliert sich viel zu sehr in Abgrenzung zu den Grünen, die nach dem Verschwinden des sozialistischen Schreckgespensts endlich wieder ein Feindbild abgeben, vor dem sich die Stammwähler sammeln können. Großer Verlierer der Entwicklung ist die LINKE, die in diesen Szenarien nicht gebraucht wird und deren Themen von der Agenda verdrängt wurden. Falls nicht 2013 doch wieder die Sozialpolitik auf der Agenda landet, und danach sieht es gerade nicht aus, wird sie herbe Verluste erleiden.
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