Das politische Programm
Schrebergarten, der gemütliche Feierabend. Einen bescheidenen Wohlstand und eine wohlige Altersruhe. Er war traditionell, aber kein Modernisierungsfeind, solange die Veränderung langsam kam und in das eigene Leben integriert werden konnte.
Nehmen wir nun als nächstes die Sicht eines Politikers an. Wie lassen sich die Stimmen dieses Milieus am Wahltag sichern? Natürlich, in dem ich ein politisches Gut bzw. ein politisches Programm anbiete, das die Lebenseinstellung des Arbeiters bestärkt und stützt.
Eine Rentenkürzung wäre für dieses Milieu eine mittlere Katastrophe. Der Ausbau einer Berufsunfähigkeitsrente entspräche dem Sicherheitsbedürfnis. Das Prinzip ist nicht schwer zu erfassen.
An der Sache selbst hat sich bis heute nichts verändert: Wer immer Menschen politisch beeinflussen will, der versucht das Angebotene als ideale Ergänzung zur Lebenswirklichkeit anzubieten. Oder zumindest diese nicht signifikant negativ zu beeinflussen.
Dabei sei hervorgehoben, dass die Milieus selbst nicht der einzige, aber ein wichtiger Faktor der Segmentierung sind.
Das sind letztendlich keine neuen Erkenntnisse, aber ihre Auffrischung hilft außerordentlich, um aktuelle Entwicklungen zu verstehen. Daher sollte sie für einen Moment im Hinterkopf verweilen.
Nach dem Krieg – wenige Milieus, einfache Ansprache
Bleiben wir bei den Milieus. In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg gestalteten sich diese überschaubar, denn es wurden lediglich vier „Schubladen“ unterschieden, die klar einer Partei zugeordnet werden konnten:
das konservativ-protestantische Milieu (CDU)
das liberal-protestantische Milieu (FDP)
das sozial-demokratische Milieu (Arbeiter -> SPD)
das katholische Milieu (CDU)
Alles durchaus sehr übersichtlich. Oder etwas differenziert ausgedrückt: Klare Milieus, mit eindeutigen Werten und Vorstellungen, deren Bedürfnisse relativ einfach zu erkennen und zu befriedigen waren.
Heute – viele Milieus mit unterschiedlichsten Werten und Normen
Doch wie sieht es im Jahr 2016 aus? Grundsätzlich gibt es mehrere Milieu-Modelle, von denen das Sinus-Institut das bekannteste stellt. Es soll an dieser Stelle auch keine Rolle spielen, ob diese Modelle tatsächlich exakt die deutsche Gesellschaft abbilden.
Kritikpunkte hierfür finden sich einige. Da aber die Politik diese als einen wichtigen Faktor heranzieht, ist es legitim, ebenso zu verfahren, um das Denken und Handeln der etablierten Kräfte besser nachvollziehen zu können.
Glaubt man dem Marktführer Sinus, so setzt sich die deutsche Gesellschaft aus nunmehr 10 Milieus zusammen, die sich in ihren Werten, Handlungen und Ansichten deutlich unterscheiden:
1. Traditionelles Milieu: Schwerpunkt auf Sicherheit. Festhalten an den Werten der alten Bundesrepublik. Vergangenheit als zentrales Thema und fast Ideal. Beibehaltung von Traditionen des Bürgertums oder der Arbeiterklasse, Bodenständigkeit, Sparsamkeit, Bescheidenheit.
Nur langsame Anpassung. Von sich aus wenig Drang zur Veränderung. Gelegentlich mit Veränderungen überfordert.
2. Prekäres Milieu: Unterschicht, die den Anschluss an die Mittelschicht sucht und von realen Zukunftsängsten und irrealen Befürchtungen gelenkt wird. Oft aufgrund des sozialen Umfeldes kaum Aufstiegsmöglichkeiten. Aktive Erfahrung mit Ausgrenzung. Kompensation über Konsum. Wunsch nach Anerkennung. Fühlen einer Benachteiligung. Allgemeine Vorbehalte.
3. Hedonistisches Milieu: Anhänger der Spaßgesellschaft, die ihr Leben leben möchte, ohne Erwartungen, Traditionen oder Konventionen zu folgen. Anpassungsfähigkeit. Das Erlebnis steht im Vordergrund, wird aber durch begrenzte Mittel eingeschränkt. Unbekümmerte Trendnachläufer mit hohem, spontanem Konsum.
4. Bürgerliche Mitte: Klassischer Mainstream, der die herrschende Ordnung stützt, seinen leistungsstarken Beitrag aufbringt und sich Veränderungen anpasst. Zentrale Themen sind Sicherheit, Ordnung und das Finden eines Platzes im bestehenden System. Trotzdem wachsende Abstiegsängste.
5. Adaptiv‐pragmatisches Milieu: Moderne junge Mitte der Gesellschaft, die primär von Nützlichkeitsaspekten geleitet wird. Sie ähnelt der bürgerlichen Mitte, ist aber noch biegsamer und flexibler, um einen Platz in der Gesellschaft zu erlangen, der das eigene Leben auf Dauer absichert.
Hohe Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Weltoffenheit. Gemeinhin wird dieses Milieu als die stärkste Lebenswirklichkeit der Zukunft betrachtet und spielt daher bei Gedankenspiele rund um die „Neue Mitte“ eine herausragende Rolle.
6. Sozial-ökologisches Milieu: Verfechter der politischen Korrektheit und Vielfalt. Sehen sich selbst als soziales, ökologisches Gewissen des Landes und versuchen das auch nach außen zu kommunizieren. Versuchen Veränderungsprozesse anzustoßen. Oft Kritik am Establishment, Konsum und Kapitalismus. Befürworter der multi-kulturellen Gesellschaft.
7. Konservativ‐etabliertes Milieu: Wird als das klassische Establishment beschrieben. Führungsanspruch, Standesbewusstsein, Leistungsbereitschaft. Eine gewisse Verhaftung in Traditionen und ein fester Glaube an die eigenen Werte und Exklusivität.
8. Liberal‐intellektuelles Milieu: Hoher Bildungsstandard und liberale Grundhaltung. Freiheit als starker Antrieb. Keine materiellen Sorgen und daher vielfach interessiert. Kosmopolitisch ausgerichtet und nach Selbstverwirklichung und Entfaltung strebend. Oft hohes Interesse an Kunst und Kultur.
9. Milieu der Performer: International orientierte Leistungselite mit globalem Denken. Legen Wert auf Konsum- und Statussymbole, die zur exklusiven Abgrenzung dienen. Starke Vernetzung, sowie Nutzung neuer Techniken. Starkes Konkurrenzdenken.
10. Expeditives Milieu: Kreative Elite, die sich geistig und seelisch neuen Ideen öffnet und altes hinter sich lässt. Nonkonformisten, die wenig mit dem Establishment anfangen können. Kein Denken in Grenzen. Weltoffenheit, starke Vernetzung. Vollkommen offen für alternative Lebensweisen und Lösungen. Internationale Weltbürger.
Die Grenzen sind natürlich nicht starr zu betrachten, sondern fließend. Zudem sei angemerkt, dass die kurzen Zusammenfassungen nur begrenzt geeignet sind, um ein Milieu ausreichend zu würdigen. Sie geben allerdings einen guten ersten Eindruck.
Wie die Parteien auf die Milieuveränderungen reagierten
Der Glaube an Milieu-Einteilungen ist in der Politik groß. So groß, dass sie spätestens in den 90er Jahren dazu geführt hat, sowohl die Kommunikation, als auch Zielgruppe zu überdenken. Begonnen hat damit die SPD im Rahmen ihres Wahlkampfes zur Bundestagswahl 1998 („Kampa“).
Alle Aktionen sollten nicht etwa mehr das ursprüngliche Klientel ansprechen, sondern eine sogenannte „Neue Mitte“, die sich an den Milieus orientierte. Nach dem Wahlsieg Gerhard Schröders wurde dieses Schielen nach der neuen Masse als modern und bahnbrechend gelobt und diente später auch Angela Merkel als Blaupause für den Umbau der CDU.
Unvereinbare Lebenswirklichkeiten
Nun ist diese „Neue Mitte“ keine homogene Masse, sondern besteht aus unterschiedlichsten Milieus. Nehmen wir zwei „Schubladen“ aus der aktuellsten Studie: Zur neuen Mitte gehörten sowohl das sozialökologische, als auch das konservativ-etablierte Milieu.
Letztendlich also die „Bannerträger der Political-Correctness“ (Zitat aus der Sinus-Beschreibung), als auch das „klassische Establishment“ (Ebenfalls ein Zitat). Es bedarf sicher keiner tiefen Ausführungen, dass sich beide Gruppen in Fragen Traditionen und Verteilungen in vielen Punkten tendenziell uneinig sein werden.
Diese beiden Gruppen glaubwürdig unter einen Hut zu bringen, kann nur dann gelingen, wenn das angebotene politische Gut so allgemein gehalten wird, dass sich keine der Gruppen daran zu reiben vermag. Es muss abstrakt und theoretisch sein und sollte im besten Fall nur wohlklingende Schlagworte beinhalten.
Diese Methode wird bei Parteistrategen auch gerne als „Verwässerungsautomatik“ bezeichnet. Eine Taktik, die auf Dauer ein Glaubwürdigkeitsproblem generiert, da allgemeine, wohlklingende Absichtserklärungen konkrete politische Güter ersetzen.
Stehen diese dann auch noch im krassen Gegensatz zur real umgesetzten Politik, werden diese Absichtserklärungen nur mehr als hohle Phrasen wahrgenommen und wenden sich gegen den, der sie verkündet.
Die „Neue Mitte“ als Dogma
Obwohl es nicht wenige Rückschläge bei dem Versuch die „Neue Mitte“ für sich zu gewinnen gab, blieb diese der heilige Gral der Volksparteien. Was also gerne als Linksruck bezeichnet wird, ist lediglich Milieuumorientierung, weil man sich in dieser Lebenswirklichkeit die Mehrheit der Wähler der Zukunft erhofft.
Tatsächlich bestand diese „Neue Mitte“ aber immer aus verschiedensten Milieus, die nicht so viele Lebensansichten teilen, wie es sich die Parteistrategen erhofft hatten. Trotzdem wurden jene als homogene Masse angesprochen, was letztendlich auch den Versuch darstellte, diese Homogenität erst zu schaffen.
Der Rest war der Glaube an den Standard, den Gustave Le Bon bereits 1885 in seinem „Psychologie der Massen“ beschrieben hat:
„Die reine, einfache Behauptung ohne Begründung und jeden Beweis ist ein sicheres Mittel, um der Massenseele eine Idee einzuflößen. Je bestimmter eine Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie.“
Die Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einfluss, wenn sie ständig wiederholt wird, und zwar möglichst mit denselben Ausdrücken. Das Wiederholte befestigt sich so sehr in den Köpfen, dass es schließlich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wird.
Existenz einer neuen Gesellschaft?
Das Wiederholte setzt sich schließlich in den tiefen Bereichen des Unbewussten fest, in denen die Ursachen unserer Handlungen verarbeitet werden. Nach einiger Zeit, wenn wir vergessen haben, wer der Urheber der wiederholten Behauptung ist, glauben wir schließlich daran.
Es wäre naiv, im Angebot von politischen Gütern nicht immer auch einen gewissen Erziehungsauftrag zu sehen. In der Summe schien es allerdings zu funktionieren und führte sogar zu der Annahme der Existenz einer neuen Gesellschaft.
Am Ende glaubten die Parteistrategen tatsächlich aus unterschiedlichsten Ansichten, Werten und Normen eine neue homogene Masse, das Wort Volksgemeinschaft wird hier tunlichst vermieden, geschaffen zu haben.
Der Autor dieser Zeilen hat in einem anderen Beitrag angedeutet, dass die politischen Kräfte davon ausgegangen sind, dass mit der Mehrheit der Bevölkerung, also dieser „Neuen Mitte“ einen Gesellschaftsvertrag über die Zukunft und den Umbau des Landes bestünde und Widerstände nur am Rand zu erwarten wären.
Eine Annahme, die unabhängig vom Bestehen eines derartigen Kontraktes, welche die etablierte Elite immer mehr von den eigentlichen Lebenswirklichkeiten abkoppelte und lieber oberflächlichen Idealismus anstelle von konkreten Problemlösungen setzte.