Politische Bildung nur offline? Zum neuen Buch von Oskar Negt "Der politische Mensch"

Von Burkhard


Eine "Lebensform" ist mehr als Politik. Eine solche Form soll das Leben durchdringen, analysieren uns verändern. Demokratisch soll dies alles gelingen, das ist die Überzeugung von Oskar Negt in seinem neuesten Buch "Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform".

Und Negt ist optimistisch, indem er leitmotivisch Kant zitiert: dass auch ein Volk von Teufeln das Problem des Staatsmanagement noch lösen könne. Negt nimmt als Ausgangspunkt für sein Werk die zugegebenermaßen erstaunliche Tatsache, dass es Menschen gibt, die unter bestimmten Verhältnissen ihren politischen Verstand verlieren, während andere wiederum pointiert politische Urteilskraft beweisen und praktizieren.
Nach was also entscheidet der politische Mensch - nach Charakter, Wissen, Lernen, Erfahrung, Gewissen? Der Testfall für den politischen Verstand oder Unverstand sieht Negt immer dann gekommen, wenn Extremsituationen entstehen, z.B. zur Frage nach zu praktizierendem Widerstand gegen einen faschistischen Staat. Aber, so mahnt Negt, dann ist es oft schon zu spät zu vernünftigem politischen Handeln. Politische Bildung muss schon viel früher, muss in der Normalzeit einsetzen. Negt entfaltet seinen Begriff von politischer Bildung über sechs Kategorien: Orientierung, Wissen, Lernen, Erfahren, Urteilen, Charakterbildung. Das sind auch die Leitkategorien seines Buches, auch wenn sie leider - die/der Leser/in vermisst es - im weiteren Verlauf das Buch nicht so gliedern. 

Negt zieht bei seiner Argumentation vier, wie er sie nennt "Geschichtszeichen" heran: Chernobyl, der Fall der Berliner Mauer, der 11. September und der zweite Irakkrieg. Mögen die drei ersten "Geschichtszeichen" tatsächlich erhebliche Symbolkraft in der Geschichte des 2. Hälfte des 20. Jahrhundert haben, ist man beim vierten irritiert. Angriffskriege gab es auch schon vor 2003 zu Hauf, und wenn man das eindeutige Sich-Verabschieden der USA und der NATO vom Völkerrecht als Zäsur definieren will, so taugt der völkerrechtswidrige Angriff der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien, bei dem Deutschland auch Komplize war, viel besser. Den scheint Negt allerdings (S. 133) offenbar eher zu tolerieren und auch seine optimistische Klassifikation Europas als "friedenssichernde Weltinnenpolitik" blendet unverständlicherweise den als Bürgerkrieg begonnene Zerfall Jugoslawiens und die spätere 
Militäraggression der Nato mit aktiver deutscher Beteiligung auf dem Balkan völlig aus. Spätestens hier hätte Negt sich eindeutig von Gerhard Schröder, der Deutschland in diesen Krieg getrieben hat und in dessen Beraterstab Negt gewirkt hat, distanzieren müssen. Es ist auch unverständlich, warum die Aufzählung seiner "Krisenherde" in Teil II keinen Krisenherd mit dem schlichten Titel "Krieg" aufführt. 

An diesem Beispiel wird eine nicht zu übersehende strukturelle Schwäche des Buches von Negt deutlich, die leider die ganze Publikation durchzieht: Groß, mitunter genial in seinem Entwurf und den kapitelweisen Unterentwürfen, wird das Buch immer wieder unscharf und kritikabel, wenn es um konkrete moderne Sachverhalte geht. Dass Negt sein Buch in einem Jahr herausgibt, wo wir bereits das Zeitalter von 
Web 2.0 schreiben, also schon rund ein Jahrzehnt in der Online-Revolution leben, ohne dass der Autor irgendwo auf diese Revolution Bezug nimmt, ist befremdlich. Das einzige wirklich moderne Wort in seiner Publikation ist, soweit ich sehe, die irgendwann, wohl mehr aus Zufall eingestreute, Vokabel "Handy". 

Dass man statt der o.a. vier Geschichtszeichen, wie sie die traditionelle Geschichts- und Politikwissenschaft bereithält, genau so gut, und der Rezensent meint: mit sehr viel Plausibilität eher den Beginn der Massenanfertigung des PC, der Start von Ebay, Amazon und Google nennen könnte, liegt offenbar völlig außerhalb des Blickfeldes von Negt. Man kann aber nicht über politische Bildung räsonieren, diese über Kategorien wie Orientierung, Wissen, Lernen, Erfahren, Urteilen entfalten, ohne zu reflektieren dass die online-Welt mit Wiki, Google, Twitter, SMS, Blogging, Facebook genau solche Kategorien in den letzten Jahren radikal verändert hat. 
Negts Buch ist ein Bezug auf eine Welt ohne netbook, ohne 
DSL, ohne iphone; etwas platt formuliert: der Autor ist leider nicht auf der Höhe der modernen Web-Zeit. Das soll den humanistischen ethischen Ansatz von Negt keinesfalls schmälern. Hier schreibt ein hochengangierter Autor, der sich viel Gedanken über die politische Kultur der Gegenwart macht. Der auch dankenswerterweise Fehlentwicklungen in der Politik anprangert und besorgt über die internationalen Machtverhältnisse ist.

Nur ist diese Gegenwart bei Negt nach wie vor die Welt der universitären Seminarräume, der 
Uni-Bibliotheken, der Bücher und politischen Akademien. Dort entfaltet sich für Negt Wissen, Lernen, Urteilen. Aber diese Zeit ist nicht mehr die, in der wir heute leben. Es mutet dann auch irgendwie rührend an, wenn der Autor für "überschaubare Gebilde" plädiert, in denen Menschen denken und sich bestätigt finden können und dazu Beispiele wie "Nachbarschaften, gewerkschaftliche Kommunikationszentren, öffentliche Plätze" nennt. 

Das mag wohl gerade noch für die Generation von Oskar Negt gelten. Spätestens für die jetzt heranwachsende Generation, die keine Welt ohne PC und ohne Web mehr kennt, sind solche Topoi der Kommunikation und Information, wie Negt sie präsentiert, obsolet geworden. Nachbarschaft  ist schon lange durch online gaming und chatten ersetzt, das Unverständnis über den Sinn von 
Gewerkschaften wie auch durchweg aller anderer offline Sozietäten wie Vereine, Kirchen, Parteien, ausgedrückt im schlichten Nicht-Präsent-Sein von Menschen im Alter zwischen 15 und 40 Jahren in solchen Organisation, zeigt eindrucksvoll, was sich in unserer Gesellschaft und Kultur in den letzten 10 Jahren verändert hat (Negts Rekurs auf die alte Arbeitbildung - S. 221 - wirkt da wirklich etwas antiquiert). 

Man kann über diese Entwicklung nachdenklich werden, man kann besorgt sein - aber man darf diese Phänome in einer gesellschaftlichen Analyse, wie es diese Publikation in Anspruch nimmt, nicht einfach ausblenden. Negts Buch verliert deshalb leider trotz des sympathisch engagierten Duktus an vielen Stellen enorm an Wert, weil der Autor sich dieser Gesellschafts-Veränderung nicht stellt. Dabei hätte die intellektuelle Vorgehensweise von Negt, u.a. sein Eintreten für die Kompetenz "Zusammenhänge herstellen", "Orientierendes Denken", die Berücksichtigung des Neuen (online)-Lernens, der neuen webvernetzten Orientierung und der Verlagerung unserer Informationsgewinnung weg von Faktenansammlungen hin zur sophistizierten online Suchstrategie eine solche Verarbeitung  durchaus erwarten lassen.

In wieweit Phänomene wie die Frankfurter Schule, der SDS, das 
Sozialistische Büro, die in der Biografie des Autors sicherlich eine herausragende Rolle gespielt haben, für das Begreifen des 21. Jahrhundert tauglich sind, sei dahingestellt. Es wäre spannend gewesen, findet aber im Buch leider nicht statt, wenn sich Negt z.B. in diesem Zusammenhang mit Niklas Luhmann auseinandergesetzt hätte, der soweit ich sehe, in diesem Buch noch nicht mal bibliographische Erwähnung findet, von einem inhaltlichen Diskurs mit dessen ganz anderer Gesellschaftstheorie als Herausforderung für den Ansatz von Negt ganz zu schweigen.
Zwiespältig legt man also das Buch beiseite. Da müht sich ein politisch und gesellschaftlich hochengagierter und -motivierter Denker ab, um den Begriff der politischen Bildung in der modernen Zeit neu zu fassen und bleibt doch merkwürdig blind gegenüber den die Gegenwart so nachhaltig prägenden online-Determinanten. Hier tritt ein Nachfahre der Frankfurter Schule empathisch für Vernunft und Aufklärung ein, reflektiert aber nicht, welche fundamentalen Veränderungen beide Kategorien inhaltlich wie methodisch durch die Online-Welt genommen haben.  

Niklas Luhman, der Satire nie abgeneigt, hätte beim Lesen vielleicht sein berüchtigtes Wort vom "intellektuellen recycling" bemüht. So unbarmherzig sollte man mit Oskar Negt, gerade nach seinem reichhaltigen intellektuellen Leben, nicht verfahren, aber es muss doch gegen seinen Versuch, demokratisches politisches Lernen in der Gegenwart zu revitalisieren, eingewandt werden: Zu sehr eine Rückschau, zu wenig Focussierung auf die Moderne.
Verlegerisch ärgerlich ist das Fehlen eines Personen- und Sachregisters (als ob es dafür heutzutage keine software gäbe, die so etwas ohne viel Mühe automatisiert generieren kann) und ebenso das Fehlen einer Bibliographie. Bei beidem sollte der Verlag, wenn es zur zweiten Auflage kommt, dringend nachbessern, um eine bessere Akzeptanz mit dem Buchinhalt zu ermöglichen. 
Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Steidl-Verlag, Göttingen 2010, 585 S., 29 Euro