Die Katastrophe in Japan zerwühlt auch das Web-All – mit Berichten, Kühlwasserstandsmeldungen, Bildern, Verschwörungstheorien, Betroffenheitsjournalen, Solidaritätsbezeugungen.
Ist es möglich, auch mit poetischen Worten auf das Unglaubliche zu reagieren? Andreas Louis Seyerlein tut es in seinen Particles auf eine, wie mir scheint, angemessene, berührende Weise. Und vielleicht kann man der unvorstellbaren Katastrophe nur mit solchen Worten gerecht werden. Oder muss schweigen – oder lindern.
tamarin : 22.08 – Bilder von der Fernsehmaschine, die einem Alptraum entkommen. Das Meer reißt menschliches Leben an sich, eine gewaltige, flüssige Faust, die auf schwankendes Land niedergeht. Atomare Höllenhitze in zerbrechlichen Gefäßen. Ein kleiner Junge steht unter Nadelbäumen, erhobene Hände, vor einer erwachsenen Person, die einen Schutzanzug trägt. Der Astronaut misst, ob das Kind gefährlich geworden ist. Uralte Menschen ruhen in der kalten Luft auf Bahren in Decken gewickelt dicht über dem Boden, Neugeborene in ihren letzten Lebenstagen, die mit wild gewordenen Augen den Himmel betasten. Von Stunde zu Stunde zählen Kommentatoren in den Sprachen dieser Welt Geisterzahlen, Tote, Vermisste, Verletzte. Da ist ein brausendes Geräusch, schwarzes Wasser, das Autos, Schiffe, Häuser durch enge Straßen landeinwärts drückt, Hupen, blechernes Krachen, keine menschlichen Stimmen. Am Strand dann aber ein Mann, der zu einer Kamera spricht. Er sagt, er glaube, sich in einem Horrorfilm zu befinden, er wisse nicht, ob er träume. Mit einem festen Griff reißt er an der Haut seines Gesichtes. Das Unsichtbare schon anwesend. Weit draußen auf dem offenen pazifischen Ozean treibt ein weiterer Mann. Er steht auf dem Dach seines eigenen Hauses.
Andreas Louis Seyerlein
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