Von Gastautor Klaus Rißler
Obwohl sich seit einiger Zeit die Debatte um unerlaubter Weise aus Arbeiten Dritter entnommener und nicht als solche gekennzeichneter Texte, d. h. sogenannter Plagiate, bei Dissertationen von Spitzenpolitkern abgeschwächt zu haben scheint, darf jedoch keineswegs der Mantel des Schweigens über diese illegalen Praktiken gebreitet werden. Man sollte folglich weiterhin der Tatsache wachsam ins Auge sehen, dass die mittlerweile entdeckten Betrügereien bei Doktorarbeiten nur die Spitze des Eisberges darstellen und von diesem befinden sich bekanntermaßen sechs Siebtel unter der Wasseroberfläche. Einer vorsichtigen Schätzung zufolge dürften diese Vergehen in Anbetracht ihrer exponentiell zunehmenden Anzahl gut und gerne bis zu einem Drittel aller Dissertationen umfassen. Und nicht zuletzt muss nur allzu oft die Frage gestellt werden, ob die für die gestellten Themen erforderlichen Arbeiten die Bezeichnung „Arbeit“ auch wirklich verdient haben. Außerdem ist vielfach kaum zu glauben, mit welch intellektuellem Schrott man sich heutzutage oft genug zu „Doktorehren“ emporschwingen kann, der wohl kaum der geistigen Erleuchtung dienlich sein wird. Wir haben es mittlerweile mit einer regelrechten Schwemme an Doktortiteln zu tun, die bereits den Charakter „inflationär“ angenommen hat. Man könnte aber auch genauso gut von einer schon professionell gesteuerten „Dissertations-Industrie“ sprechen. Und wie bei einer Inflation des Geldes dieses fortwährend an Wert verliert, je mehr man davon druckt, nimmt auch der Wert eines Doktortitels umso mehr ab, je mehr es davon gibt.
Außer den bereits vor Jahr und Tag enttarnten Promotionsbetrügern Theodor von und zu Guttenberg (CDU), Annette Schavan (CDU) und Silvana Koch-Mehrin (FDP) erinnere man sich aber auch an die danach leider nur kurz aufgeflammte Diskussion um die Doktorarbeiten von Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Ursula von der Leyen (CDU), in denen zweifelsohne ebenfalls eine Reihe von Plagiaten entdeckt wurden.
Darüber hinaus besaß Herr von und zu Guttenberg auch noch die Unverfrorenheit, den wissenschaftlichen Dienst des Bundestags für seine Zwecke einzuspannen.
Wie zuvor erwähnt, handelt es sich bei Plagiaten um von Dritten übernommene Textstellen ohne die dazu erforderliche Kennzeichnung. Folglich ist zu erwarten, dass die in den davon betroffenen Dissertationen verwendeten Argumente, die jedoch aus externen Quellen stammen, mittels der Funktion „Copy“ und „Paste“ aus anderer Provenienz entlehnt wurden und demgemäß nicht der eigenen geistigen Leistung entsprangen. Allerdings konnte man nach dem „Freispruch“ für Frank-Walter Steinmeier nicht umhin, aus politischen Gründen heraus auch Ursula von der Leyen die vollständige Absolution zu erteilen.
Der offenbar jüngste Fall eines Plagiatvergehens seitens einer in führender Position tätigen Politikerin betrifft Franziska Giffey, Nachfolgerin von Heinz Buschkowsky als Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln und jetzige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Obwohl in ihrer Dissertation eine ganze Reihe an Plagiaten nachgewiesen wurde und sie damit wissentlich betrogen hat, unternahm man bislang leider keine ernsthaften Anstrengungen, ihr den Titel abzuerkennen, wie es eigentlich dringend geboten gewesen wäre. Deshalb sowohl ein dreifach kräftiges Hoch auf die Berliner Humboldt-Universität als auch auf den Rechtsstaat.
Als absoluter „Top-Scorer“ unter den Promotionsbetrügern aus dem politischen Lager kann mit Fug und Recht der ehemalige münsterländische CDU-Bundestagabgeordnete von 2009 – 2013, Dieter Jasper, gelten, welcher, ohne eine entsprechende Leistung dafür erbracht zu haben, einen in Deutschland nicht anerkannten Doktortitel erwarb, diesen jedoch auf massiven öffentlichen Druck wieder ablegte.
Jasper hatte bei der Bundestagswahl 2009 mit einem an der „Freien Universität Teufen“, einer „Briefkasten-Hochschule“ im Schweizer Kanton Appenzell, erworbenen Doktortitel Wahlkampf betrieben und mit nur zwei Prozentpunkten mehr seinem Herausforderer von der SPD, Reinhold Hemker, das Nachsehen gegeben. Verständlicherweise und völlig zu Recht focht der Unterlegene diese Wahl an, weil sie seines Erachtens nach unzulässig zustande kam und der CDU-Konkurrent infolge seines „Doktorgrades“ eine offensichtlich nicht vorhandene wirtschaftliche Kompetenz vorgab.
Obskure „Dienstleistungs-Institutionen“ zum Erwerb akademischer Grade, wie sie Dieter Jasper in Anspruch nahm, werden als sogenannte „Titelmühlen“ (engl. diploma mill oder degree mill) bezeichnet, die gegen eine entsprechende Gebühr den Auftraggebern Urkunden verleihen, die wie anerkannte akademische Grade anmuten, aber weder mit einer wissenschaftlichen Ausbildung noch einer entsprechenden schriftlichen Arbeit einhergehen. Sie sind deshalb Teil des sogenannten Titelhandels. Es ist anzunehmen, dass die Dunkelziffer solch irregulär, ja sogar regelrecht sträflich erworbener Titel sehr beträchtlich ausfallen wird.
Eine Person, die, wie Dieter Jasper sich dieser „Methoden“ bedient, war sich von vorn herein bewusst, betrogen zu haben und müsste eigentlich wegen Betrugs und unerlaubter Vorteilsnahme vor Gericht zitiert werden.
Allerdings entschied Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) im März 2010 betreffend „Causa Jasper“, keinen Widerspruch beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestages einzulegen. Ein zwischenzeitlich von der Staatsanwaltschaft Münster initiiertes Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Titelmissbrauchs wurde im Mai 2010 gegen Auflage einer Zahlung von 5.000 € eingestellt: „Jasper habe zwar Titelmissbrauch begangen, aber seine Schuld sei durch eine geständige Einlassung und Reue gekennzeichnet“. Welch ein Hohn auf den Rechtsstaat, der nicht juristisch einschritt. Ferner aber auch ein „Hoch“ auf das Parlament, das nicht bereit war, die Immunität des Betrügers aufzuheben und ihm das Bundestagsmandat zu entziehen. Einziger Trost für den geprellten Wähler: der Titel war nun einmal futsch.
Es ist schon unfassbar, wie bestimmte auf Karriere- bzw. Titel- geradezu versessene Personen sich erdreisten, den unbedarften Bürger/Wähler derart hinter’s Licht zu führen und damit arglistig zu täuschen.
Plagiate scheinen heutzutage allerdings zum guten Ton zu gehören. Wie sagte mir doch einer meiner akademischen Lehrer, Prof. Dr. Herbert Weisz (1922 – 2018), emeritierter Lehrstuhlinhaber für Analytische Chemie der Universität Freiburg, nur wenige Monate vor seinem Tod wortwörtlich: „Bei sicherlich mehr als 150 Dissertationen über Johann Wolfgang von Goethe soll mir keiner sagen, dass nicht der eine oder andere mehr oder weniger vom anderen abgeschrieben hat.“
Es geht den meisten sicherlich nur um den Titel und weniger um die Würde als zentralen Bestanteil, wie auf vielen Promotionsurkunden vermerkt, denn für den Erwerb einer ehrlichen „Doktor-Würde“, welche diesen Namen auch wirklich verdient, werden diese gewissenlosen „Würdenbetrüger“ wohl keinerlei Gedanken verschwenden. Hauptsache sowohl die Kohle als auch der ihnen dadurch zu Teil werdende gesellschaftliche Rang stimmen.
Man muss sich aber doch allen Ernstes fragen, weshalb man nicht sämtliche Personen, die in ihrer Vita derart geschwindelt haben, nicht des Betrugs anklagt und sie vor den Kadi zerrt. Denn Betrug ist und bleibt nun einmal ein Strafbestand, den es zu ahnden gilt. Denn immerhin kann ja den plagiatierenden Personenkreisen unterstellt werden, dass sie sich mit dem Doktortitel zumindest einen finanziellen (?) Vorteil verschaffen wollten, vom Gewinn an öffentlicher Reputation ganz zu schweigen.
Man muss sich in diesem Zusammenhang aber auch ernstlich fragen, weshalb man überhaupt eine solch große Zahl an Promotionen überhaupt zulässt, zumal der Steuerzahler mit jeder Dissertation ganz schön zur Kasse gebeten wird und er eigentlich dafür auch einen entsprechenden Gegenwert erwarten kann und muss. Promotionen in sogenannten „Orchideen-Fächern“ sollten deshalb begrenzt werden. Deren Zahl würde sich aber von vorn herein auf das erforderliche Maß hin beschränken, wenn man das Niveau für eine Dissertation drastisch nach oben schraubt, wie es für einen Doktortitel aber auch zwingend der Fall sein sollte.
Es scheint sich mehr und mehr herauszuschälen, dass es viel zu viele Häuptlinge, aber auch eine parallel damit einhergehende abnehmende Zahl an Indianern gibt. Man könnte es aber auch so formulieren: „Die Zahl der Manager ist derjenigen der die Arbeit Verrichtenden umgekehrt proportional“. Oder auch: „Je mehr Personen in führenden Positionen, desto geringer der Anteil an im produktiven Gewerbe Tätigen“. Dazu passt auch ein Zitat von Heinrich von Kleist (1777 – 1811): „Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht“. Und eines schönen Tages wird er dann auch wirklich brechen. Es frägt sich nur noch, wann schlussendlich dieser Zustand eintreten wird.
Natürlich gibt es Berufszweige, in denen der Doktortitel quasi unumgänglich ist und in denen man auf die während der Dissertation erworbenen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen vor allem im Bereich der industriellen Forschung auch zählt, wie z. B. sehr oft bei Physikern, Chemikern, Ingenieuren und Fachleuten in Wirtschaft und Finanzen. Aber auch bei Ärzten, bis vor wenigen Jahren ohne Dr. med. fast völlig undenkbar, findet man zusehends immer mehr Vertreter ohne den Dr. med. vor dem Namensschild, darunter sehr viele ausgezeichnete.
Brauchen wir wirklich eine derartig inflationär hohe Anzahl an, verglichen mit den eben erwähnten Berufsgruppen, weit weniger produktive promovierte Psychologen, Juristen, Politikwissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Sozialpädagogen ?
Die Antwort kann nur heißen „Nein“ und wenn ja, nur in den Fällen, in denen das Anforderungsprofil eine Dissertation auch zwingend notwendig erscheinen lässt. Promotion soll und darf niemals Selbstzweck sein, die dann auch noch vom Steuerzahler sanktioniert werden muss. Das liest sich auf den ersten Blick zwar wie ein Berufsverbot oder eine Einschränkung bei der Berufswahl, aber auch hier gilt der Grundsatz „Das Angebot regelt die Nachfrage“ und wenn die Nachfrage eben zurückgeht, macht es keinen Sinn, „unproduktive“ Kräfte massenhaft „auf Halde“ zu legen.
Bei den Juristen sieht die Realität allerdings etwas anders aus. Ihrem Überangebot begegnen ihre in den Parlamenten üppig vertretenden „Berufskollegen“ mit einer Vielzahl neu zu schaffender Vorschriften und Gesetze, sodass auch der am wenigsten Befähigte zumindest sein gutes Einkommen sichern kann und daran wird sich auch künftig nichts ändern. Ein Hoch dem Jurastudium.
Zum Schluss sei aber auch in aller Deutlichkeit festgehalten, dass der Doktortitel niemals als Gradmesser für die Intelligenz des Inhabers heranzuziehen ist.
Mir ist eine Vielzahl an Menschen bekannt, besonders auch im Familienkreis, die sich auch ohne höhere Schuldbildung durch eine hohe Intelligenz auszeichnen, darunter eine Reihe hervorragender Handwerker, die in ihrem arbeitsreichen Leben nur allzu oft erfolgreicher agiert und mehr bewirkt haben als das Heer ständig pseudointelligent daher schwadronierender und nichtssagend philosophierender „Möchtegern Doktoren“ ohne wirklichen geistigen Tiefgang. Der zuerst erwähnte Personenkreis hätte m. E. im Falle sowohl besserer gesellschaftlicher als auch geographischer Rahmenbedingungen sicherlich ein Hochschulstudium mit Bravour absolviert.
Wie sagte doch meine langjährige, im Juni 2017 verstorbene Gastgeberin in Südtirol, treffend dazu: „Es gibt eben Doktoren und intelligente Leut‘.“
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