Plädoyer für Demokratie und gegen die Ermächtigungsgesetze

Der folgende Beitrag wird am 03.07.2012 auf ohrfunk.de veröffentlicht. Sie lesen einen Vorabdruck.

Liebe Hörerinnen und Hörer: Dies wird nicht die letzte freie Meinungsäußerung im Radio sein. Sie werden auch in Zukunft meine Stimme hören, wenn ich mit Hohn und Spott, aber auch mit Sorge und Verzweiflung die Politik unserer frei gewählten Regierung kommentiere. Und doch wurde am letzten Freitag in Bundestag und Bundesrat ein Ermächtigungsgesetz beschlossen, und dies sage ich ganz bewusst. Ein Gesetz, dass wesentliche Vollmachten des Parlamentes auf die Regierung überträgt und sie dem Parlament nimmt. Die Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates mit Zweidrittel-Mehrheit zum Fiskalpakt und zum Stabilitätsmechanismus ist nichts weniger als die Entmachtung des Parlaments in Haushaltsfragen, also das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen. Denn das Haushaltsrecht und das Finanzkontrollrecht gehörte bislang zu den demokratischen Kernbefugnissen des Gesetzgebers. Künftig entscheidet der geschäftsführende Direktor des Stabilitätsmechanismus, der vom Gouverneursrat berufen wird, der wiederum aus einem Regierungsmitglied pro Teilnehmerstaat besteht, rechtsverbindlich und endgültig über die Verwendung eines großen Teils der Haushaltsmittel der Einzelstaaten, und zwar im Notfall binnen sieben Tagen. In Deutschland haben Bundestag und Bundesrat künftig nur noch auf Abruf das Recht, über Teile ihres Staatshaushaltes selbst zu bestimmen. Und Direktorium und Gouverneursrat des Stabilitätsmechanismus unterliegen keinerlei parlamentarischer Kontrolle. Sie müssen wissen, dass dies die Richtung ist, in die sich Europa entwickelt, hin zu einem autoritären, durch Regierungen verwalteten, von der Wirtschaft gelenkten Staatenbund, zu einem multinationalen Großkonzern, dem es einzig und allein auf Gewinnmaximierung seiner Aktionäre ankommt. Sie müssen wissen, dass damit die Werte von Freiheit, Demokratie, Sozialstaat und Volkssouveränität genau so abgeschafft werden, wie einst im März 1933, als der deutsche Reichstag über Hitlers Ermächtigungsgesetz abstimmte. Viele von Ihnen werden diesen Vergleich unstatthaft nennen, aber er ist es nicht. Natürlich gibt es Unterschiede. Damals hat eine Horde wildgewordener Straßenverbrecher die Macht an sich gerissen. Damals wurden politische Gegner verhaftet, gefoltert und ermordet. Ein Sozialdemokrat, ein Mitglied jener ausgestorbenen Politikerspezies, die sich für soziale Gerechtigkeit und wahre Freiheit einsetzte, Otto Wels, war damals mutig genug, im Reichstag aufzustehen und die letzte freie Äußerung zu tun, bevor die braunen Horden seine Partei und ihre Werte zerschlugen: “Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.” Otto Wels war ein aufrechter Demokrat. Heute heißen diese aufrechten Demokraten Dr. Peter Gauweiler und Sahra Wagenknecht, um mal zwei Gegensätze zu nennen. Und heute braucht man keine Straßenkämpfer, um die Demokratie zu beseitigen. Auch das ist ein Unterschied zu damals, und zwar der Entscheidende. Diejenigen, die immer und ohne Skrupel an die Macht drängen, haben aus der Geschichte gelernt, mehr als die Demokraten. Sie kommen nicht in Springerstiefeln und mit kurz geschorenen Haaren und einer Tätovierung daher, sie kommen im feinen Maßanzug, mit wohlgesetzten Worten, teurem, aber unaufdringlichem Schmuck und seriösem Duktus. Es sind die Banker, die Finanziers, die Großaktionäre, der sogenannte Geldadel, denn Geld regiert die Welt. Sie wissen, dass sie sich viel weniger Ärger machen, wenn sie den Leuten die Möglichkeit lassen, ihre Meinung zu sagen, sie sind ja nicht gefährlich. Folter und Mord in großem Stil erregt zu viel Aufsehen, das haben wir in unseren aufgeklärten und modernen Zeiten nicht nötig.
Nichts desto trotz ist der Eingriff in die verfassungsmäßigen Grundrechte des Parlaments und damit des Volkes, das es wählt, ebenso groß wie seinerzeit im Frühling des Jahres 1933. Das sollten Sie wissen, wenn Sie die Gesetze für eine Notwendigkeit halten sollten.

Gott sei dank ist das letzte Wort über diese Ermächtigungsgesetze noch nicht gesprochen. Viele intelligente und besorgte Menschen fragen sich, ob das Grundgesetz es überhaupt erlaubt, so weitreichende Befugnisse auf eine zwischenstaatliche Regierungsorganisation zu übertragen, die weder eine EU-Institution ist, noch parlamentarisch kontrolliert wird. Sie haben darum das Bundesverfassungsgericht angerufen. Einmal mehr liegt die Rettung unserer Verfassung und unserer Demokratie bei den karlsruher Richtern. Aber sie können für uns nicht alle Kastanien aus dem Feuer holen, und auch sie fühlen den Druck, den die permanente Krisenstimmung erzeugt. Sollen Fiskalpakt und Stabilitätsmechanismus erfolg haben, dann müssen sie schnell eingerichtet werden, sagen ihre Befürworter. Das wissen auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts. Außerdem ist es fraglich, wie lange sie sich dem herrschenden Zeitgeist entgegenstellen können. Denn heute wie vor 80 Jahren gibt es im Parlament eine überwältigende Mehrheit der Antidemokraten. Bis auf die Linkspartei, die zumindest derzeit keine Diktatur anstrebt, verfechten alle etablierten Parteien ein autoritäres Regierungssystem. Sie gehen dabei so geschickt vor wie einst der erste römische Kaiser Augustus, der nach einer verhehrenden Krise, einer Serie von Bürgerkriegen, formell die Institutionen der römischen Republik wiederherstellte, nach und nach auf legalem Wege aber alle staatlichen Vollmachten an sich band. Gegen diese Antidemokraten wird es auch das Bundesverfassungsgericht schwer haben, zumal es letztlich von ihnen berufen wird. Heute wie damals wird eine Gleichschaltung betrieben, nur läuft diese Gleichschaltung auf europäischer Ebene und wird behutsamer ins Werk gesetzt. Doch damals wie heute ist eine Krisenstimmung und die Bewältigung dieser Krise der Vorwand für die Ausschaltung des Parlamentarismus.

Es ist nicht das Bundesverfassungsgericht, das uns retten muss und kann. Es kann den Zug nur vorübergehend aufhalten und denen, die sich Demokraten nennen, noch einmal die Möglichkeit geben, über die Gesetze nachzudenken. Doch wir sind es, wir Bürgerinnen und Bürger, und zwar in ganz Europa, die sich ändern und etwas tun müssen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir Demokratie und Parlamentarismus wirklich wollen, und wenn ja, dann müssen wir Politiker wählen, die standfest genug sind, denen die Stirn zu bieten, die immer wieder Skrupellos und aus der zweiten Reihe heraus zur Macht drängen. Wir sind es, die unseren Willen äußern und durchsetzen müssen. Wir müssen sagen, ob wir ein anderes Grundgesetz, eine andere Verfassung wollen oder nicht. Wir entscheiden letztlich, auch wenn es ein langer Weg ist, ob wir in einem sicheren, autoritären aber meistens gutwilligen, formell demokratischen, tatsächlich aber oligarchisch geführten Staat der ersten Welt leben wollen, oder ob wir die Demokratie zurück wollen. Wollen wir das, dann müssen wir uns beeilen, und wir müssen gemeinsam und stark agieren.

Sie werden mich auch in den nächsten Wochen noch hören, auch noch in den nächsten Monaten und, wenn alles gut geht, auch in den kommenden Jahren noch. Glauben Sie aber bitte nicht, deshalb sei alles nicht so schlimm. Sie täuschen sich: Es ist alles nur viel Subtiler als damals, aber nicht weniger gravierend.

Youtube-Video der Rede von Sahra Wagenknecht zum Fiskalpakt und zum ESM

Youtube-Video der Rede von Dr. Peter Gauweiler Zum Fiskalpakt und zum ESM


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