Philosophisches Wiedergängertum

Tief sein und tief scheinen. — Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält Alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann: sie ist so furchtsam und geht so ungern in’s Wasser. (F.Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft III, 126

Es ist wohl in der Tat so, dass sich hinter besonders unverständlichen Lehren nicht besonders tiefgründige, sondern besonders dumme verbergen. Diese Erkenntnis sollte sich mittlerweile doch rumgesprochen haben. Manche, die es nicht einmal verstehen, tief zu scheinen, meinen jedoch im Namen ihrer Doktrin noch einmal auf deren Tiefe hinweisen zu müssen, damit diese auch ja keinem entgeht. Dies ist der Fall bei der sogenannten Tiefenphänomenologie.
Dieser neueste Versuch einer Umwälzung der Wissenschaft wurde initiiert vom Weisheitsfreund José Sánchez de Murillo.

Der Grundgedanke dieser Philosophie wird auf letzterm wikipedia-Eintrag wie folgt zusammengefasst:

Die beiden Gegensätze seiner bisherigen Welterfahrung – Armut, Ausbeutung, Verzweiflung und Krieg einerseits, Musik, Mystik, Phänomenologie, Maya-Kultur und deutsche Romantik andererseits – prallten in ihm hart aufeinander, und der Drang wuchs, die Bedingung dieser Zerrissenheit zu erforschen. So entstand die Grundunterscheidung: Tiefe und Ober-Fläche. Tiefe, bei Sánchez das lebensbejahende „Weibliche“, meint die Dimension der Lebensgeburt und Lebenserneuerung, den schöpferischen Un-Grund. Ober-Fläche, bei Sánchez das kämpferische „Männliche“, bezeichnet dagegen die Dimension, die von Machtstreben, Geltungssucht und Geld beherrscht wird. Diese Motive sind für die Tiefenphänomenologie grundlegend. Die für ihn nun evidente Sicht, dass die gesamte Menschheitsgeschichte von der ober-flächigen Dimension gesteuert wird und dass Philosophie und Wissenschaft diese Seite als die wesentliche betrachten, ließ ihn seine philosophische Aufgabe erkennen: Phänomenologische Philosophie als wissenschaftliche Forschung muss ganz von vorne beginnen mit Blick auf die Realität, aber zugleich auch auf die Möglichkeiten des Menschen. Darum nannte er seine Tiefenphänomenologie „Neue Vorsokratik“.

Aha. Dies kommt uns, die wir uns ein wenig mit den ganz tiefen deutschen phänomenologischen Vorläufern Murillos auseinandergesetzt haben, durchaus bekannt vor. Ein Schelm, der sich fragt, aus welchem Ab-grunde von „Ober-Bindestrich!-Fläche“ die Rede ist, statt banal von „Oberfläche“. Und wieso nicht von „Metaphysik“, „Seinsvergessenheit“ und „Seiendem“? Ist es bloß Zufall, dass das Jahrbuch des von Murillo gegründeten Edith-Stein-Instituts „Denken Dichten Musik“ und nicht, wie man es geläufig nennen würde, „Philosophie Literatur Musik“?1
Auch auf der website des Instituts wird das seinem Anspruch nach durchaus kritische Programm der neuen Lehre kurz dargelegt. Unter dem Stichwort „Naturphilosophie und Pflanzenkultur“ heißt es:

Die Erforschung der erwähnten Traditionen der vortechnischen Naturphilosophie ergaben ein Weltbild, das Grundüberzeugungen früherer Hochkulturen, den Bauernkulturen, entsprach. Unter diesen ragt die Maya-Kultur hervor. Sie ist eigentlich eine Pflanzenkultur; der Mais wurde wie eine göttliche Erscheinung verehrt. Der Grund dafür war nicht nur die grundlegende Ernährungsfunktion dieser Pflanze, sondern auch deren zyklische Lebensform, welche Symbol und Offenbarung des Urweiblichen waren.

Die Seinserfahrung einer scheinbar abstrakten Philosophie im Europa des 16. Jh. bewirkte nicht nur die Bewegung der Deutschen Romantik mit dem Motto „zurück zu den Müttern“. Auffallend war, dass sie auch in völlig anderen geschichtlichen Zusammenhängen anzutreffen war: als Grundlage einer auf Frieden bedachten Zivilisation, deren Entwicklung in eine naturfreundlichere, menschlichere Richtung zu gehen versprach.

Aber wie die Maya-Kultur blieb auch der deutsch-romantische Weltentwurf des 19. Jh. ohne geschichtliche Wirkung. Die Vernunftphilosophie siegte und ermöglichte die Entwicklung der technischen Wissenschaften.

Die gegenwärtige planetarische Selbstgefährdung kann möglicherweise durch verantwortungsbewusste Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft abgeschwächt und verlangsamt werden. Eine entscheidende Wende ist jedoch nur durch eine Wandlung im Wesen des Menschen möglich.

Und am Ende wird noch einmal resümmiert:

Ohne die Tiefe kann die Ober-Fläche nicht als solche verstanden werden. Deshalb versteht sich die Tiefenphänomenologie als Philosophische Grundwissenschaft (die „prima philosophia“ des technischen Zeitalters), welche an der Erforschung (Aufdeckung und Klärung) von Urphänomenen arbeitet, die – meist unbeachtet oder verdrängt – den geschichtlichen Verlauf ermöglichen und tragen.

Wir befinden uns sicher nicht auf dem Holzweg, wenn wir sagen: dieser Mann sagt einfach dasselbe wie Heidegger – nur verständlicher. Dieses hat er seinem Vordenker immerhin voraus. Spricht Heidegger noch sublimiert vom „Sein“ spricht Murillo offen aus, um was es „eigentlich“ geht: Natur, Mütter, Religion, Verherrlichung vor-vormoderner Einfachheit, Antimodernismus. Er eröffnet so die Möglichkeit, vielleicht auch den tiefsten aller tiefen Dichter und Denker des 20. Jahrhunderts besser zu verstehen – sein unstillbares Unbehagen in der Welt von „Gerede“ und „man“ gar einer therapeutischen Auflösung zukommen zu lassen. Die „Sage“ wird in ihrer entsublimierten Form zurückgeführt auf einfache „Wahrheiten“, wie wir sie aus anderen zivilisationskritischen Ecken kennen. Murillo verrät das Betriebsgeheimnis des Denkens Heideggers. Grund genug, auf diesen unterschätzten Denker der Gegenwart hinzuweisen.

Man bedenke freilich stets: „Die mystischen Erklärungen gelten für tief; die Wahrheit ist, dass sie noch nicht einmal oberflächlich sind.“ (wie oben; III, 126)

  1. Hier waren die Epigonen freilich seinsvergessen. Ohne das genaue Wort, das dem Wesen der Musik in der neuen Sprache zugedacht wurde, zu kennen, müsste es doch in Anbetracht der nicht zu übersehenden metaphysischen Spuren, die dem Namen „Musik“ eingeschrieben sind, einen ursprünglicheren Namen geben, der dem Wesensgefüge, in dem die „Musik“ ursprünglich steht, gemäßer ist. Etwa „Tonkunst“ oder „Singen“, bildet das „Singen“ nebem dem Dichten, Denken und Sagen doch ein weiteres Zimmer in der Behausung, die dem Menschen vom Sein her zugeworfen – der Sprache. „Mus-ik“ würde freilich das „Musische“, das wesenhaft Geschenkhafte der Mus-ik als von den Musen her den Menschen geschickt, an der Musik, was der geläufige Name „Musik“ eher verstellt als entbirgt, deutlicher hervortreten lassen.[zurück]

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