Eine Touristin verpasst einen der seltenen Landbusse, verirrt sich und gilt von nun an als vermisst. Monate später wird ihr abgetrennter Kopf gefunden. Entomologe McGregor wird in die Ermittlungen gezogen. Und dann ist da noch Jennifer, Tochter eines bekannten Schauspielers, die neu an ihrem Internat ist. Jennifer kann mit Insekten kommunizieren und ist möglicherweise für McGregor die einzige Möglichkeit den Fall zu lösen. Klingt verrückt? Nein, klingt nach dem italienischen Giallo-Meister Dario Argento und dem für mich besten europäischen Horrorfilm aller Zeiten... Phenomena!!!
Schon der Prolog des Films lässt nur das Unheilvolle vermuten. Ein Mädchen verpasst einen der hier selten verkehrenden Busse und läuft ver(w)irrt durch die Natur, entdeckt ein alleinstehendes Haus, betritt dieses und macht Bekanntschaft mit ihrem zukünftigen Mörder. Dario Argento, Regiemeister des europäischen Horrorthrillers - dem Giallo - deutet bereits in den ersten Minuten sein großes Können an. Was mit Frühwerken wie The Bird with the Crystal Plumage oder The Cat o’ Nine Tails seinen Anfang nahm und mit Tenebre und Suspiria für viele Genrefans ihren Höhepunkt fand, wurde für mich erst mit Argentos wohl zugänglichstem Werk seiner Glanzzeit Phenomena zur Perfektion getrieben. Die perfekte Symbiose aus mysteriöser, nie ganz greifbarer Geschichte und faszinierender Audiovisualität.
Über die Geschichte des Films lässt sich wirklich herrlich streiten. Für manche ist es fraglos Trash, für andere, u.a. dem Autor dieser kurzen Abhandlung eine großartige Verknüpfung aus übernatürlicher Oberwelt und den klassischen Gialloelementen mehr oder weniger im Hintergrund. Und ja die gute Jennifer Connelly (Requiem For A Dream, Labyrinth, Blood Diamond, Dark City) spricht und interagiert hier mit Insekten. Und auch ja, Donald Pleasence (Halloween, Escape From New York, You Only Live Twice) lässt seinen Rollstuhl von einem Schimpansen manövrieren. Aber das macht die genial-verrückte Geschichte nur noch aufregender. Bei Connelly und Pleasence sind wir auch schon bei einem wichtigen Schachzug Argentos. Die Besetzung des Films mit einer talentierten, amerikanischen Jungdarstellerin und ihrem horrorerfahrenen, legendären Co-Star hätte nicht besser funktionieren können. Jennifer Connelly, damals erst 15 Jahre alt und am Beginn ihrer Karriere, wandert als blasse Schneewitchen-Lolita durch den Film und zieht magisch jede Szene an sich. Wie perfekt Connelly zu Argento passt, beweist eine Szene in der Jennifer einen nächtlichen Ausflug in den Wald macht um einem Glühwürmchen zu folgen. Welche audiovisuelle Pracht.
Phenomena ist ausgereifter als die anderen Vertreter des Giallo-Subgenre. Das Pacing ist klasse. Der Film beginnt rasant, kurbelt sich im vorletzten Viertel etwas zurück um letztlich mit einem der stärksten und bemerkenswertesten Finale der Horrorgeschichte zu enden. Während andere Giallo oft mit Leerlauf zwischen den aufwendig inszenierten Kills ermüden, schafft es Phenomena tatsächlich das Interesse des Zuschauers konsequent aufrechtzuerhalten. Die Geschichte ist einfach interessant, spannend und bringt auch nach fortgelaufener Spielzeit noch neue Facetten mit sich. Dafür sorgt auch der angesprochene Genrebruch innerhalb des Films. Dass Argento sich ausgerechnet von seinem eigenen Film Suspiria vor allem für die Ausgangslage des Films inspiriert sah, sei verziehen.
Aber was wäre Argento ohne die markanten audiovisuellen Qualitäten? Das Auge für großartige Kulissen, Landschaften und Szenerien bestimmt seit jeher das Schaffen des Altmeisters. Phenomena bewegt sich in dieser Hinsicht auf einem Niveau mit dem ebenfalls großartigen Suspiria. Egal ob die trügerischen, verwaisten Alpentäler, der nächtliche, stürmische Wald oder das antiquierte Spukhaus. Argento hat ein perfektes Gefühl dafür, atmosphärische Bilder abzuliefern. Sein großartiger Kameramann Romano Albani wird ihm dabei nie zum Nachteil. Um diese Genialität in den Bildern nachvollziehen zu können, muss man Argentos Filme erlebt haben. Neben den zeitlosen Bildern nimmt in der Regel die Musik die zweite Hauptrolle in den Filmen des Italieners ein. Neben den meisterhaften Klängen der Argento Spezies der italienischen Progressive Rocker Goblin, steuerten auch Motörhead und Iron Maiden ein paar knackige Metalsounds bei. Der Soundtrack bzw. Score ist einfach nur fantastisch und verleiht jeder einzelnen Szene noch mal deutlich mehr Ausdruckskraft. Gott, ich liebe diesen Soundtrack.
Phenomena wirkt auf mich persönlicher als Argentos andere Filme. Der Regisseur zeigt sich menschlicher, emotionaler und deshalb auch zugänglicher. Dafür, dass Argento scheinbar als Frauenfeind gilt, ist Phenomena zudem ziemlich feministisch angehaucht. Abgesehen davon interessiert sich der Film wenig unterschwellig mit der Natur und Wissenschaft.
Wo Phenomena im Vergleich zu anderen Argentos und generell Giallo Abstriche tätigt ist die Brutalität. Natürlich liefert Phenomena wieder einige herrlich stilisierte Mordsequenzen und auch das ungewöhnliche Bad, welches Jennifer Connelly im Schlußakt über sich ergehen lassen muss, ist alles andere als leicht verdaulich, aber seine sonstigen durchaus abstrakten Fantasien lebt Argento hier definitiv nicht aus. Trotz einiger verstörender Bilder gehört Phenomena aus meiner Sicht zu den zarteren Genreproduktionen, was ebenfalls für die leichte Zugänglichkeit und der mehr im Vordergrund stehenden Emotionalität spricht.
Phenomena ist für mich nicht nur Dario Argentos bestes Werk. Phenomena ist für mich einer meiner absoluten Horrorfavorites. Die spannende, toll inszenierte, außergewöhnliche Story mit all ihren filmtechnischen Qualitäten und der gelungenen Besetzung ist für mich bis heute einzigartig. Der Film eignet sich ebenfalls hervorragend als Einstieg für Genreneulinge, da er alle Qualitäten des Giallo in sich vereint.
OT: Phenomena VÖ: 1985 Laufzeit: 116 Minuten FSK: - (deutsche Fassungen geschnitten) R: Dario Argento D: Jennifer Connelly, Donald Pleasence
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Christian
Bildquelle: Arrow Films