Wolfgang Krisai: Pilze. Tuschestift.
Ein neuer Versuch von Handke? Jüngst habe ich bei einem Flohmarkt einen Sammelband mit den ersten drei Versuchen (… Müdigkeit, … Jukebox, … geglückten Tag) erstanden, die ich allesamt schon längst gelesen habe, und vor einigen Wochen oder Monaten den vierten, jenen über den „Stillen Ort“ gelesen, da passt nun dieser fünfte (und angeblich letzte) Versuch gut in die Reihe.
Ein „Versuch über den Pilznarren“? Das muss ich natürlich lesen, stamme ich doch aus einer Familie, wo diese Spezies vorkommt, und zwar in ihrer wissenschaftlichen Ausprägung.
Gestern hörte ich mir im Büchermarkt-Podcast eine Sendung über diesen neuesten „Versuch“ an, die mir zusätzlich Lust auf die Lektüre machte. Ich borgte mir also das Exemplar der Schulbibliothek aus und las gleich einmal die Hälfte, also die ersten hundert Seiten (locker bedruckt, also keine besondere Leseleistung). Heute kaufte ich mir das Buch selbst und las nun in meiner eigenen Ausgabe den Rest.
Durch den Podcast war ich schon vorinformiert, und das war wohl gut so: Handke schreibt hier über einen „Freund“, der ein fanatischer Pilzsammler ist, eben jenen „Pilznarren“. Aber diesen Freund gibt es in Wirklichkeit nicht, es ist Handke selbst, der sich hier nach außen projiziert. Das bestätigt er übrigens in dem äußerst lesenswerten Interview mit Klaus Nüchtern aus dem „Falter“ vom Dezember 2012:
„Ich schreibe einen letzten „Versuch“, den „Versuch über den Pilznarren“. Ich erzähle so, als ob es jemand anderer wäre – von einem Freund, der durch diese Leidenschaft verschollen geht.“
Der Freund
Also: Handke gibt vor, einen gleichaltrigen Kindheitsfreund aus seinem Geburtsort Griffen zu haben, der schon als Kind, um zu Geld zu kommen, auf die Idee verfallen ist, Pfifferlinge, also Eierschwammerl (die im ganzen Buch seltsamer Weise nie so genannt werden, sondern mit allerlei Umschreibungen bezeichnet sind – ist in Kärnten der Begriff „Eierschwammerl“ nicht geläufig? Heißen sie dort „Rehlein“?) zu sammeln und am Ortsrand an eine Pilzsammelstelle, die von einer balkanischen Flüchtlingsfamilie betrieben wird, zu verkaufen.
Was kauft sich der Bub für die paar Schilling, die er für die Schwammerl bekommt? Klar: Bücher! Sachbücher.
Dennoch wird er später „nur“ Jurist, während der Ich-Erzähler Handke zwar Jus studiert, dann aber Schriftsteller wird (dem entsprechend hat Handke als Bub auch keine Sachbücher, sondern literarische Bücher gekauft).
Der Fund
Der Jurist schlägt eine Anwaltslaufbahn ein, die er erfolgreich vorantreibt, er heiratet eine Frau aus dem Nachbardorf. Als diese hochschwanger ist, will der Freund sich mit ihr in der Stadt zum Essen treffen und geht durch ein stadtnahes Waldstück, wo er plötzlich seinen ersten Steinpilz, noch dazu ein Prachtexemplar, entdeckt. Diese für einen Pilznarren epochale Begegnung nimmt denn im Versuch auch breiten Raum ein. Der Pilz wird irgendwie aus dem Erdreich praktiziert, wie eine Naturmonstranz durch die Stadt getragen, im Restaurant der Frau enthüllt (die gar nicht so hingerissen ist wie der italienische Kellner), vom Kellner fachmännisch in hauchdünne Scheibchen geschnitten und von allen dreien dann aufs Gourmetmäßigste verzehrt. Diese Steinpilz-Entdeckung weckt beim Juristen die inzwischen eingeschlafene Pilz-Leidenschaft, die nun immer mehr sein Leben zu bestimmen droht.
Auch andere Pilzarten kommen zu Ehren, etwa die Stinkmorchel, aber auch der Parasol (dessen gewaltige Hüte in der Nachkriegszeit als Schnitzel-Ersatz paniert wurden), und weitere, unter denen ich mir als Nicht-Pilzkenner weniger vorstellen kann.
Steigerungsformen einer Leidenschaft
Die Pilzleidenschaft des Juristen steigert sich allmählich. Er geht in den Wald hinaus, im Anzug, aktenbepackt, und schreibt seine Plädoyers auf einer versteckten Lichtung, zu Füßen ein Häufchen zuvor gesammelte Pilze. Er entwickelt einen Sammelinstinkt, der auch an den unwahrscheinlichsten Plätzen noch zu Funden führt, in der Wüste, im tiefsten Winter, im Zentrum der Großstadt… Er vernachlässigt seine Frau und seine Tochter, die ihn schließlich verlassen. Er nimmt an Mykologenkongressen teil, bei denen er vor allem die bereitwillig erzählten Sammleranekdoten liebt, während er der wissenschaftlichen Seite dieser Veranstaltungen weniger abgewinnen kann. Schließlich wirft er seinen Job hin, um sich ganz seiner Pilzsammelei zu widmen, obwohl er die angehäuften Pilze gar nicht verwerten kann und sie ihm im Keller haufenweise verschimmeln. Eines Winters verschwindet der Pilznarr im Wald und kehrt nicht wieder.
Auferstehung
Nein, das doch nicht. Das wäre ein zu tristes Ende. Handke lässt ihn also nach einem geschlagenen Jahr wieder auftauchen, quartiert den Narren bei sich ein, durchstreift mit ihm die Gegend irgendwo nordöstlich von Paris (wohl Marquemont im Vexin, wo Handke das Buch zum Teil geschrieben hat) und speist zum Abschluss des Textes in einer „Auberge du Saint Graal“, einem kleinen Landgasthaus. Hier stellt sich, von Handke herbeigerufen, auch die Gattin des Juristen ein, und es gibt ein versähnliches Wiedersehen. Und sogar eine vierte Person gesellt sich hinzu. Nur – wer? Der Ausruf „O Jugend!“ könnte bedeuten: die Allegorie der Jugend, wie bei Ferdinand Raimund. Oder ist es Parzival, oder Amfortas? Des Grals wegen? (Schon vorher wird ja das Pilzsammeln als das letzte Abenteuer, man könnte sagen, als die letzte mögliche „Aventiure“ gepriesen. Dass die Aventiuren schließlich zum Gral führen, passt da gut.)
„Aber ist das am Ende nicht zu viel des Märchens? Mag sein: Im Märchen wurde er geheilt. In der Wirklichkeit aber…“ (S. 216). … lässt sich die Pilzleidenschaft des Autors Peter Handke wohl nicht „heilen“, auch nicht dadurch, dass er sie sich von der Seele schreibt. Handke wird also seine Gesprächspartner wohl weiterhin mit beiläufig aus Sakkotaschen hervorgekramten Pilzen überraschen.
Märchenversuchsportraitbiographie
Was ist das nun für ein Text? Ein „Märchen“? Ein „Essay“, also „Versuch“? Ein „Portrait“? Eine „Biographie“? Eine Mischform aus allen vieren. Ein „Versuch“ ist es jedenfalls am wenigsten, wenn man darunter eine „kürzere Abhandlung … in … geistreicher Form“ (Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur) versteht. Eher schon ist es ein Portrait, eigentlich Selbstportrait, denn es wird ja praktisch nichts anderes als diese Person des Pilznarren behandelt. Andere Aspekte der Pilzsammlerei (Wissenschaft, Pilzkundliches, Fragen des Artenschutzes, etc.) kommen nur andeutungsweise, wenn der Pilznarr konkret damit zu tun hat, zur Sprache. Am häufigsten natürlich, da der Narr ja vorwiegend ein Sammler von Speisepilzen ist, das Zubereiten und Essen von Pilzgerichten. Da darf man sich allerdings nicht erwarten, dass Rezepte eingestreut seien, sondern es wird eben gelegentlich ein Pilzgericht gegessen.
Stilistisch ist es ein interessanter Text. Handke schreibt, wie man sprechen könnte, mit Einwürfen und Selbstunterbrechungen:
„Und jetzt, in der ganz neuen, in, wie sagt man?, „unserer“ Zeit häufen sich anscheinend die Erzählwerke, worin die Pilze eher ihrer Rolle in den Phantasmagorien der Allgemeinheit nachkommen, entweder als Mordwerkzeuge oder als Mittel zur, wie sagt man?, „Bewußtseinserweiterung“. Nichts von dem allen, weder der Pilzjäger als Held, noch als der Träumer vom vollkommenen Mord, noch als der Vorläufer eines anderen Ich-Bewußtseins, soll in dem „Versuch über den Pilznarren“ erzählt werden. Oder, in Ansätzen, vielleicht doch? So oder so: Eine Geschichte wie die seinige, wie die sich ereignet hat, und wie ich sie, zeitweise aus nächster Nähe, miterlebt habe, ist jedenfalls noch keinmal aufgeschrieben worden.“ (S. 13f)
Wer also etwas Neues über Pilzsammler lesen will: Das!
Peter Handke: Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich. Suhrkamp, Berlin 2013. 216 Seiten. Fadengeheftet.
Links:
Büchermarkt des Deutschlandfunks vom 26. 9. 2013
“Ich kann nicht realistisch über Frauen schreiben”, von Klaus Nüchtern, Falter 49/12.