Pessoa in Südindien

Von Walter

In dieser sommerlich farbigen Welt, die Südindien für mich darstellt – laut, manchmal überlaut, ganz ins äussere Leben und in den Alltag ausgegossen, ja, sich im Äusseren erschöpfend –, zieht es mich hin zur Innerlichkeit Pessoas. Vielleicht um mich auszuruhen, für den grellen Alltag zu stärken, vielleicht um meinem aufgescheuchten Geist eine Richtung zu geben. Vielleicht auch bloss um mich an Pessoas Poesie zu erfreuen: Wie unter Droge stehe ich, wenn ich im «Buch der Unruhe» lese, aufgewühlt von Sätzen wie diesen:

Ich lehne mich an meinen Schreibtisch wie an ein Bollwerk gegen das Leben. Ich empfinde Zärtlichkeit, bis hin zu Tränen, für meine Geschäftsbücher, in die ich schreibe, für das alte Tintenfass, dessen ich mich bediene, für den gebeugten Rücken Sérgios, der ein Stück von mir entfernt Warenbegleitpapiere ausfertigt. Ich liebe all dies, vielleicht weil ich sonst nichts zum Lieben habe – oder vielleicht auch deshalb, weil nichts die Liebe einer Seele wert ist und wir diese Liebe, sofern wir sie aus Sentimentalität dennoch geben wollen, ebensogut meinem kleinen Tintenfass zuteil werden lassen können wie der grossen Gleichgültigkeit der Sterne.

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Kapitel 6, aus dem Portugiesischen von Inés Koebel, Fischer E-Books)

Man muss dazu wissen, dass Pessoas Hauptwerk erst nach seinem Tode in einer Truhe aufgefunden wurde und vor der Veröffentlichung teils mühsam entziffert werden musste. Erst viele Jahre später konnte es deshalb veröffentlicht werden – und wurde sogleich Teil der Weltliteratur. «Das Buch der Unruhe» ist eine Sammlung oft scheinbar unzusammenhängender Kurz- bis Kürzesttexte: die Aufzeichnungen des völlig ambitionslosen Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, der zu tiefer Traurigkeit, ja zum Nihilismus hinneigt und in seiner monotonen Tätigkeit als Hilfsbuchhalter Schutz und Halt findet gegenüber den Abgründen seiner Seele, denen er nachts in Form von wunderbarer, teils geradezu erschütternder Poesie Ausdruck verleiht. «Das Buch der Unruhe» ist ein eigener literarischer Kontinent, den zu durchwandern ein langer Atem braucht – und eine gewisse seelische Robustheit, damit man nicht in die Abgründe des Inneren mitgerissen wird. Bringt man beides, langer Atem und Robustheit mit, so entdeckt man poetisches Neuland der wunderbarsten Art. – Oder einfach verblüffende Sätze wie diesen:

Vielleicht ist es mein Schicksal, ewig Buchhalter zu bleiben, und Dichtung und Literatur sind nur ein Schmetterling, der sich auf meinen Kopf niedersetzt und mich umso lächerlicher erscheinen läßt, je grösser seine Schönheit ist.

(Ebenda, Kapitel 18)


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