Pervertierte Dienerschaft

Von Ralfwestphal @ralfw

Was kann uns der Deal zwischen den USA und der HSBC über die Softwareentwicklung sagen?

Dass der stellvertretende US Generalstaatsanwalt die Verantwortlichen für Milliarden-Geldwäscheaktionen ungeschoren davon kommen lässt, ist natürlich ein Skandal. Aber ist das das Hauptproblem? Nein.

Das Hauptproblem ist, dass überhaupt eine Begründung gegeben werden konnte, wie sie gegeben wurde:

Eine andere Strafe hätte nicht nur die HSBC destabilisiert, sondern das weltweite Finanzsystem. Weil die HSBC systemrelevant ist.

Dass es überhaupt 1 Firma, also eine Organisation außerhalb eines Staates geben kann, die eine Größe hat, die sie im Grunde außerhalb von Gesetz und Ordnung stellt… das (!) ist der wahre Skandal.

Ob die HSBC so eine Organisation ist, ist zweitrangig. Erstrangig ist, dass es denkbar, gar hoffähig ist, dass es solche Organisationen gibt.

Da gibt es ein Kartellrecht, dass begrenzt, wie sich Organisationen entwickeln, um einen Markt nicht zu dominieren. Eine gute Sache!

Doch wo ist das Recht oder noch vorher das Prinzip oder der Wert, um Systemrelevanz zu vermeiden? Das finde ich viel wichtiger.

Wir hängen von vielen Systemen ab: Finanzsystem, Verkehrssystem, Kommunikationssystem, Energieversorgungssystem, Gesundheitssystem, ökonomisches System, politisches System usw. Dass es diese Systeme gibt, sei akzeptiert. Das nennen wir auch Zivilisation.

Doch dann sollten wir doch tunlichst darauf achten, dass wir diese Systeme funktionsfähig halten. Beim ökonomischen System und dem politischen System haben wir doch davon eine sehr präzise Vorstellung: Zur Funktionsfähigkeit, zur Flexibilität, zur Erhaltung von Freiheit gehört Vielfalt, also eben die Abwesenheit von Dominanz. Wir wollen keine Monopole in der Wirtschaft, wir wollen keine politischen Monopole (Ein-Parteien-System, Diktatur).

Und dann lassen wir es zu, dass es im Finanzsystem so große “Player” gibt, die das System gefährden? Oder auch im Verkehrssystem: Die Deutsche Bahn hat dort systemrelevante Größe. Wir müssen uns der Bahn beugen. Für den Schienenfernverkehr ist sie alternativlos. Oder im Energiesystem: RWE & Co sind so groß, dass sie die Politik bestimmen.

Denn das ist es, was bei systemrelevanter Größe unweigerlich entsteht: eine “Inversion of Control”. Nicht das System (bzw. die Politik) kontrolliert die ”Player”, sondern ein “Player” kontrolliert das System. Systemrelevanz stellt den “Player” quasi außerhalb des Systems. Aus einem Diener wird ein Herr. Das ist pervers. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, der von einer Bank, einem Verkehrsbetrieb, einem Energieproduzenten usw. erwartet, dass er den Menschen dient. Unternehmen sind Mittel und keine Zwecke.

Anders jedoch im Fall der HSBC: Hier hat sich das Mittel zum Zweck aufgeschwungen, den es zu verfolgen gilt. Die Erhaltung der HSBC ist wichtiger, als Recht in vollem Umfang zu sprechen.

Bezug zur Softwareentwicklung

Was für unsere zivilisatorischen Systeme gilt, gilt natürlich auch für unsere technischen. Wenn Systembestandteile systemrelevante Größe erreichen, beginnen sie ein Eigenleben. Sie stellen sich außerhalb sachlicher Entscheidungen. Sie tendieren dazu, sich selbst zu erhalten – und allen Umständen.

Nicht mehr Werte und Prinzipien bestimmen dann den Mitteleinsatz. Sondern Mittel werden eingesetzt, weil sie bereits eingesetzt sind. Ihr Platz im System und/oder in den Köpfen ist so groß, dass ihr Austausch ein unabsehbares Risiko ist.

Dafür haben wir auch eine Begriff: lock-in. Der wird zwar gewöhnlich in Zusammenhang mit einem Hersteller gebraucht (vendor lock-in), doch der lock-in lauert überall. Letztlich ist lock-in auch immer selbstgemacht. Kein Hersteller kann uns fesseln und einsperren; die Entscheidung zur Aufgabe von Freiheiten, zum Eintritt in einen lock-in liegt immer bei dem, der einen Hersteller, ein Paradigma, eine Methode, ein Tool einlädt und zu systemrelevanter Größe heranwachsen lässt.

Am Anfang sieht das meist nicht so schlimm aus. Was später ein lock-in wird, beginnt meist als Vorteil irgendeiner Art. Und warum auch nicht? Niemand sollte per se etwas gegen SAP oder Oracle oder das relationale Datenmodell oder Entity Framework oder Sharepoint oder Java oder Ruby on Rails oder oder oder haben.

Vorteile bei Kosten, Performance, Skalierbarkeit, Entwicklerverfügbarkeit, Sicherheit oder sonst was sollen eingestrichen werden.

Ich denke jedoch, dass all diese “Vorteilsnahme” immer eine Begrenzung erfahren sollten, sobald ihr Mittel droht, systemrelevante Größe erreicht. Wenn SAP, Oracle, Entity Framework, Sharepoint, Java oder Ruby alternativlos werden, wenn man sich nicht mehr vorstellen kann, sie zu ersetzen… dann ist Gefahr im Verzug. Dann hat man alles auf eine Karte gesetzt und seine Seele verkauft.

Systemrelevante Technologien, Tools, Datenmodelle, Paradigmen sind Perversionen. Sie dienen nicht mehr dem System, sondern sind das System. Das ist falsch.

Beispiel: Das “System” “Nachhaltige Softwareentwicklung” kann sich entscheiden, Objektorientierung als Mittel zu wählen, um sein Ziel zu erreichen. Oder es kann sich entscheiden, auf die Sprache C++ zu setzen. Das ist völlig ok – solange klar erkannt wird, dass Objektorientierung und C++ eben nur Mittel sind – die austauschbar bleiben sollten.

Wer daran jedoch nicht denkt und 10 Jahre Millionen von Zeilen C++ produziert – der hat das ursprüngliche “System” “Nachhaltige Softwareentwicklung” untergraben. Es ist hohl geworden, weil Entscheidungen im Sinne der Nachhaltigkeit nicht mehr frei getroffen werden können. Immer sitzt die systemrelevante Größe OOP bzw. C++ mit am Tisch – und hat ein Interesse, sich zu erhalten.

Neue Trends – C# oder Funktionale Programmierung – haben dann kaum eine Chance. Sie zerschellen an der systemrelevanten Größe, die nicht nur die Artefakte dominiert, sondern auch raumfordernd in den Köpfen gewuchert ist.

So stirbt dann ein System. Es bricht nicht zusammen, sondern erstarrt durch Perversion eines oder weniger Konstituenten.

Systemrelevanz lauert überall. Plattformen oder Produkte sind dabei noch einfach auszumachen. Aber auch Tätigkeiten (z.B. bug fixing) oder Personen (so genannte Wissensinseln) oder Vorgehensmodelle oder Glaubenssätze (z.B. Präsenzarbeit) können Systemrelevanz annehmen, d.h. alternativlos und somit einschränkend sein.

Was damit der HSBC geschehen ist, oder besser: was eben nicht geschehen ist, das ist skandalös. Doch wir sollten nicht glauben, dass das nur eine Perversion ist, die irgendwo da draußen passiert. Pervertierte Dienerschaft existiert auch in unseren Systemen in vielerlei Gestalt.

Wer Nachhaltigkeit ernsthaft erreichen will, der muss jeden Tag darauf achten, das Wachstum der gewählten Mittel unterhalb systemrelevanter Größe zu halten. Nachhaltigkeit kann es nur in Vielfalt und Alternativenreichtum geben.