Persönliches Nachwehen der Atomkraft

Von Stefan Sasse
Ich muss zugeben, vor Fukushima war Atomkraft für mich kein wirklich großes Thema. Ich war prinzipiell dagegen, aber in der Materie nicht firm genug, um die Argumente gegen den Atomausstieg - keine Möglichkeit, den Atomstrom zu ersetzen - wirklich gegenprüfen zu können. Deswegen befasste sich mein "Grundsätzliches"-Artikel auch hauptsächlich mit den finanziellen Umständen und dem Lobbying. Die Möglichkeit eines Super-GAUs war auf meinem Radar vor Fukushima einfach nicht vorhanden, ich gebe das gerne zu. Und so sehr ich es hasse, in solchen Fällen auf den allgemeinen Entsetzenszug aufzuspringen und "ab heute wird alles anders" zu rufen: in dem Fall tue ich es. Fukushima ist eine Wegmarke in der Geschichte moderner Technologien, die einen Urglauben in die Beherrschbarkeit der Technik nachhaltig erschüttert hat und wohl zu einer noch kaum abschätzbaren Umorientierung führen wird - ähnlich dem Untergang der unsinkbaren, alle Widrigkeiten beherrschenden "Titanic" eingangs des 20. Jahrhunderts es für die Zeitgenossen tat. 
Der Ausstieg aus der Atomenergie ist so schnell wie möglich zu vollziehen. Die Gründe dafür sollten jedem klar sein. Nicht nur belasten wir uns seit fünf Jahrzehnten mit einer stetig wachsenden Menge Mülls, der noch tausende von Jahren strahlen wird und von dem niemand weiß, wo man ihn lagern soll. Eine in den USA eingesetzte Kommission kam nun auch zu dem Schluss, dass es keine Möglichkeit gibt, selbst im Falle eines geeigneten Lagerorts nachfolgende Generationen sicher zu warnen - wenn unsere Schilder einmal nicht mehr gelesen oder verstanden werden, können immer noch Leute auf den Müll stoßen, ohne zu wissen und zu verstehen, wo das Problem damit liegt. Das kann in zehntausend Jahren der Fall sein, es ist völlig unabsehbar. Atomenergie ist ein Verbrechen an all jenen, die nach uns kommen, das zeigt der Müll deutlich. 
Das Risiko ist aber auch für die jetztige Generation eigentlich unzumutbar. Statistisch, darauf hat Urban Priol ätzend hingewiesen, ereignet sich etwa alle 20, 25 Jahre ein Super-GAU. Mit zunehmenden Alter der Meiler steigt die Wahrscheinlichkeit hierfür sogar eher noch an. Nun ist es in der Tat äußerst unwahrscheinlich, dass eine Serie von technischen Pannen hierzulande zu einem Super-GAU führt, oder gar dass ein Flugzeug auf einen Meiler stürzt. Aber die gegen Erdbeben der Stärke 8 sicheren Fukushima-Meiler haben auch dort alle denken lassen, dass es extrem unwahrscheinlich sei, dass etwas passiere. Dann aber kam das Erdbeben Stufe 9, unvorhersehbar und mit fatalen Folgen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das hierzulande nicht passieren könnte. Andernfalls würden kaum so viele Menschen Lotto spielen. 
Würde beispielsweise der Meiler Neckarwestheim eine ähnliche Entwicklung nehmen wie Fukushima, und müsste eine Zone von rund 40 Kilometern evakuiert werden, beträfe dies die Hälfte von Baden-Württemberg inklusive der Landeshauptstadt Stuttgart. Würde eine echte Kernschmelze mit Explosionen und allem drum und dran nach dem Vorbild Tschernobyl stattfinden, wäre Baden-Württemberg danach für die nächsten paar tausend Jahre eine radioaktive Sperrzone, und alle angrenzenden Länder könnten sicher sein, dass sie ihren Teil abbekommen würden. Allein die Vorstellung ist so grausig, dass man den Abschaltknopf gar nicht schnell  genug suchen kann. 
Die Gegenargumente sind hinreichend bekannt, aber sie überzeugen noch weniger als ehedem. Die regenerativen Energiequellen können so viel Strom nicht bereitstellen? Dann brauchen wir eben mehr oder bessere davon. Die Leitungen verschandeln die Landschaft? Dann baut sie eben unterirdisch. Ja, das ist teurer. Im Zweifel stellt noch ein Gas- oder Kohlekraftwerk hin. Wenn dort etwas schiefgeht, sind die Folgen bei weitem nicht so dramatisch. Die Kosten dieses Energiewandels können eigentlich kein Argument mehr sein. Und ja, bei einem solchen Ausstieg würde es zu schwerwiegenden Verwerfungen in der Wirtschaftslandschaft kommen, weil plötzlich einige riesige Stromkonzerne ihre Geschäftsgrundlage verlören. Ihre Aktien würden massiv einbrechen. Damit muss man leben. 
Denn Geld ist ultimativ ersetzbar. Vielleicht steigen die Strompreise durch diesen Ausstieg ein wenig; vermutlich aber müssten sie das gar nicht, wenn man die Macht endlich aus den Händen der Stromkonzerne nähme. Wenn die wirtschaftlichen Konsequenzen aus dem Ausstieg für selbige zu massiv wären, bliebe immer noch die Zerschlagung und Dezentralisierung; es würde dem Wettbewerb ohnehin nur gut tun. Das Kartellrecht gibt die Möglichkeiten dafür ohnehin. Geld ist ersetzbar. Ein verstrahltes Land ist es nicht. Der Ausstieg muss kommen, besser heute als morgen, für uns, unsere Kinder, und die Nachfahren in tausend Jahren. Die Atomenergie war ein historischer Irrweg, für den wir bereits teuer bezahlt haben. Sorgen wir dafür, dass die Kosten nicht noch weiter steigen.

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