Perito Moreno

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Das Städtchen El Calafate prosperiert. El Calafate ist obligatorisch – ein Synonym: El Calafate ist Perito Moreno, ein 60.000 Meter langes und bis zu 80 Meter aus dem Wasser ragendes Naturwunder, das trotz Klimaerwärmung wächst – einen Meter am Tag. Noch. In gewissen Intervallen bricht der Gletscher ein. Seit einigen Jahren auch zu Winter. Wegen der Klimaerwärmung. Solch ein Naturwunder zieht nicht nur Menschen an, sondern auch gewiefte Geschäftemacher …

Im Gästehaus fanden ich und Achsa zwei weitere Neugierige: Añis aus Frankreich und Katharina aus Deutschland. Zu viert bestellten wir ein Taxi. Ein Busticket war noch immer zu teuer. Zu unserem Glück hatten wir einen ›hilfsbereiten‹ erfahrenen Taxifahrer und dieser hatte einen Kofferraum, der groß genug war, um die zarte Añis und die proper Achsa darin verschwinden zu lassen, was den Eintrittspreis – den in dieser Höhe selbstverständlich nur Touristen zu entrichten hatten – nochmals halbierte …

Achsa wunderte sich über die Flora, wieder einmal: Einerseits erstreckte sich eine schier unendliche grau-gelbe Steppe, ausgedörrt, staubig, von Winden heimgesucht, die nur niedrige zerzauste Dornenbüsche wachsen ließen. Anderseits erhoben sich plötzlich, unmenschlich hohe Berge, deren Kuppen mit Schnee und Eis bedeckt, und deren Bergrücken von flammenden – oder schon kahlen – mehrstämmigen Südbuchen bewachsen waren. Wasserläufe haben in manche Bergkämme breite Furchen – Quertäler – geschnitten. Achsa erinnerten diese Bergzüge an klobige Tierpfoten. Ich schmunzelte, sie sprach aus, was ich dachte.

Über Gehsteige, die unseren Drang quälend einengten, nährten wir uns Perito Moreno. Meine anfängliche Skepsis – ich befürchtete ein Disneyland wie in Iguazu – barst allmählich unter seinem Knarren und Donnern. Und je weiter wir nach unten stiegen, uns dem Wasserspiegel näherten, umso unvorstellbarer wurde seine Größe, umso schillernder seine Schönheit: Selten zählte ich so viele Türkis- und Azurtöne. Aus ihren tiefsten Spalten glomm sie blau, fast heilig, diese gigantische Armee aus Eis. Dicht an Dicht schoben sich ihre einzelnen Eiferer – sich bedrängend, ausweichend und überwerfend – diesem einen höchsten Anführer hinzu, der zum Festland stürmte. Immer wieder brach die Masse in sich zusammen. Der Anführer hielt Stand, und sofort drängten sich die nächsten Fanatiker an ihn. Und irritiert wartete man auf das Aufschlagen von tonnenschwerem, hausgroßem Eis im Wasser, und erst als der Schall in das Ohrinnere schlug, die kalte Gischt das Gesicht benetzte, wurde mir wieder bewusst, welche Distanz zwischen mir und diesem wuchernden Wall noch lag. Eugène Delacroix’sLa Liberté guidant le peuple‹ war das erste Bild, das meinen Geist okkupierte. Und dort verteidigte es sich bis zum Schluss.

Achsa und die anderen Mädels harrten bis zum Sonnenuntergang aus. Der Gletscher verfärbte sich. Die Luft wurde purpur.

Was darf Natur kosten? Was soll Natur kosten? Soll Natur kosten? Darf Natur kosten? Wer entscheidet das? Und warum der, der entscheidet?


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