Perfektionismus ist der Versuch, Scham zu vermeiden. - Besser, Sie befreunden sich mit Ihrer Unvollkommenheit.

Von Rkoppwichmann

Besser, Sie befreunden sich mit Ihrer Unvollkommenheit.

Was hat Perfektionismus mit Scham zu tun?

Brené Brown beschreibt das in ihrem Buch „Verletzlichkeit macht stark“ sehr gut:

Perfektionismus ist eine Abwehrstrategie.
Es ist der Glaube, wenn wir etwas perfekt machen oder perfekt aussehen, den mit Tadel, Beurteilung und Scham einhergehenden Schmerz verringern oder vermeiden zu können.

Wer perfekt sein will, sucht Bestätigung.
Die meisten Perfektionisten wurden in der Kindheit für Erfolge und Leistung gelobt (Zensuren, Benehmen, das Befolgen von Regeln, Beliebtheit, äußere Erscheinung, sportliche Erfolge).
Mit der Zeit haben sie das völlig verinnerlicht: „Ich bin, was ich zustande bringen und wie gut ich es hinbekomme.“
Bei Perfektionismus geht es dann mehr darum, wie man von anderen wahrgenommen wird als um die eigene innere Motivation.“

Aber mit der eigenen Unvollkommenheit sich befreunden?

Wie soll das gehen? Wer will schon unvollkommen sein?

Nun, wer will sein ganzes Leben damit verbringen, unglücklich zu sein? Die Antwort wäre: niemand. Aber das ist es, was Sie wahrscheinlich tun, wenn Sie auf der Suche nach Perfektion sind. Hier ist Unvollkommenheit nicht das Gegenteil von Vollkommenheit, als ob das Gute das Gegenteil des Bösen wäre.

Unvollkommenheit verstehe ich hier eher als die „Freiheit vom Perfektionismus“. Und das ist es, wonach die meisten Perfektionisten sich sehnen: frei sein von den Ketten unerbittlicher Perfektion.

Aber Perfektionismus zu überwinden ist nicht einfach.

In Selbsthilfebüchern lesen Sie immer vom Loslassen, verstehen aber nie so ganz , wie das gehen soll. Wir alle wollen uns aus den Fängen befreien, die uns Tag für Tag nach einer unerreichbaren Vollkommenheit in allen Bereichen unseres Lebens streben lassen:

  • Eine gute Beziehung reicht nicht, sie sollte perfekt sein.
  • Das Kind ist gut in der Schule, hat aber wenig Freunde.
  • Das Gesicht ist perfekt – und jetzt dieser Pickel.
  • Der Garten ist immer nur zwei Tage perfekt, dann macht die Natur wieder alles zunichte.
  • Das Haus ist perfekt aufgeräumt – jetzt darf bloß niemand drin wohnen.

Offensichtlich haben einige Menschen diese Ebene des „perfekten Loslassens“ erreicht, sonst würden sie wohl keine Bücher darüber schreiben. In diesem Blog habe ich schon zweimal darüber geschrieben: „Wie Sie aus der Psychofalle des Perfektionismus herauskommen“ und „Wie man übertriebenen Perfektionismus überwinden kann.“

Heute erfahren Sie, was Unvollkommenheit und Perfektion bedeuten. Ich hoffe, Sie finden damit heraus, wie Sie Ihre innere „Unvollkommenheit“ annehmen sich damit anfreunden können.

Wer bin ich?

Wie viele von uns haben diese Frage vor dem Spiegel gestellt? Doch diese Frage können Sie Ihr ganzes Leben lang stellen. Was für Antworten bekommen Sie? Könnte es sein, dass Sie die Wichtigkeit dessen, was Sie wirklich sind, bisher nicht begriffen haben, so dass Sie immer wieder nachfragen müssen?

Die meisten Leute denken, dass sie immer wieder fragen, weil sie noch nicht perfekt sind. Hier eine alte Neuigkeit: Niemand ist perfekt. Solange Sie in Ihrer menschlichen Haut stecken, werden Sie immer Fehler machen. Und wenn die Natur perfektionistisch wäre, gäbe es Sie nicht.

Denn alles Leben entsteht nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“. Die Natur spielt.  Das könnte auch ein gutes Modell für Ihr Leben sein. Sie finden Dinge heraus, indem Sie lernen. Der Lernprozess besteht darin, dass Sie etwas versuchen, vielleicht Fehler machen oder scheitern, es wieder versuchen und eine Lösung finden, damit Sie weitermachen können. Neue neuronale Pfade entstehen durch Erfahrungen, gute und schlechte, positive und negative.

Wie wäre es, diese universale Gesetzmäßigkeit endlich zu akzeptieren? Ihre Eltern konnten es vermutlich nicht. Deshalb hoben sie die Augenbrauen, wenn Sie frech waren. Oder waren enttäuscht, wenn es wieder nur eine Zwei in der Klassenarbeit war.

Viele Menschen schauen auf andere, um herauszufinden, wer sie sind.

Das ist müßig. Feedback von anderen ist manchmal wichtig und nützlich. Aber andere Menschen können nur ihre Erfahrungen mit Ihnen beschreiben, aber das ist nicht Ihre ganze Geschichte. Denn jeder Mensch hat eine einzigartige Geschichte. Selbst wenn Sie einige Erfahrungen mit anderen teilen, ist Ihre Perspektive auf etwas nie genau die eines anderen.

Manche Menschen sterben ohne zu merken, dass sie ein Leben lang eine Rolle spielten.

Wer sie sein sollten, war verloren in dem, was sie glaubten, wie sie sein sollten oder wer sie sein mussten, um sich „einzufügen“. Das ist ziemlich tragisch. Wir verdanken es uns selbst, dass wir lieben und geliebt werden für das, was wir sind.

Sich mit sich selbst und seiner Unvollkommenheit anzufreunden.

Das ist es, was Sie sich vermutlich im tiefsten Herzen wünschen – mit sich selbst zufrieden zu sein.  Doch wie geht das?

Es geht nicht um materielle Dinge, obwohl Werbung und Marketing es Sie glauben machen wollen. Doch wenn das der Fall wäre, warum erliegen dann Menschen, die anscheinend „ganz oben angekommen“ sind, Drogen, Alkohol oder bringen sich um? Sie brauchten sich keine Sorgen um Geld zu machen, was machte sie so unglücklich?

Viele denken, die Antwort sei „mehr Geld“, vor allem dann wenn es fehlt. Doch Menschen, die genug Geld haben sind meist dann unglücklich, wenn sie sich zu wenig bestätigt, geschätzt oder geliebt fühlen.

Wenn Sie außerhalb von sich selbst nach Bestätigung suchen, werden Sie sie vielleicht finden. Doch wahrscheinlich ist es eine Achterbahnfahrt, bei der Sie manchmal die Bestätigung bekommen – und manchmal nicht. So können Sie schlecht in Ihrem Leben auf die Dauer Zufriedenheit finden.

Wenn Sie ein volles und erfülltes Leben führen möchten, dann geht es um Ihre Unvollkommenheiten und wie Sie sich mit ihr befreunden. Und das geht, indem Sie anfangen, in Ihrem Leben Mut, Mitgefühl und Verbundenheit pflegen und kultivieren.

Gegen Perfektionismus hilft Mut.

Wenn man an Mut denkt, denkt man zuerst an Soldaten, Notärzte und Menschen, die gefährliche Sportarten ausüben. Der Mut, der ich hier meine, ist die gewöhnliche Art von Mut, den viele Menschen eher meiden:

  • Es ist der Mut, für jemand anderen einzutreten,
  • Seine Verwundbarkeit dort zu zeigen, wo man keine Lorbeeren bekommt.
  • Der Mut zu sein, wer Sie sind, egal, was andere darüber denken oder sagen.

Warum tun wir das so selten?

Oft ist es die oben beschriebene Scham oder ein Gefühl der Verlegenheit oder Schuld. Sie heben im Meeting nicht die Hand und bitten beim Vortragenden um Klarstellung, weil alle anderen es ja anscheinend verstanden haben. Sie sprechen den Vater, der auf offener Straße sein Kind schlägt nicht an, weil es ja nicht Ihr Kind ist und es Ärger geben könnte.

Aber oft ist es so: Wenn Sie Mut zeigen, für sich selbst zu kämpfen und Ihre Hand heben, werden andere folgen. Einer muss den Anfang machen.

Gegen Perfektionismus hilft Mitgefühl.

Im Internet kann man es täglich beobachten. Jemand äußert eine Meinung, die nicht ganz dem vermeintlichen Mainstream entspricht und schon erhebt sich ein Shitstorm.  Hunderte springen auf denselben Zug, um einen anderen zu beschuldigen, weil alle anderen es auch tun. Eine Flut von Rechthaberei, angeblichen Wahrheiten ergießt sich.

Was ist überhaupt Mitgefühl?
Es ist die Anerkennung der hellen und dunklen Orte in unserem Leben, allerdings meistens eher die dunklen Orte.

Mitgefühl funktioniert auch, wenn es mit Grenzen gekoppelt wird. Die Menschen für ihr Handeln zur Verantwortung zu ziehen, zeigt den Wunsch, ihnen zu helfen, ihr Bestes zu erreichen. Es hilft ihnen, das, was sie tun oder nicht tun, von dem zu trennen, was sie sind. Das Gegenteil ist oft der Fall, wenn wir „beschämen und beschuldigen“.

Anstatt ihnen zu helfen, tut es ihnen weh. Sie sehen dabei auch nicht gut aus. lhr Verhalten wird in Frage gestellt, weil Sie jemanden auf diese Weise belästigen. Wenn Sie Grenzen setzen, wissen die Leute, dass Sie es ernst meinen. Grenzen setzen zeigt auch, dass Sie Vertrauen in den anderen Menschen haben – und in Ihre Beziehung zu ihm.

Meine Nase ist jetzt perfekt. Aber schauen Sie bloß nicht auf meine Ellbogen.

Gegen Perfektionismus hilft Verbundenheit.

Facebook, Instagram & Co sind kein Ersatz für echte Beziehungen. Klar, es ist Kommunikation mit anderen, aber es geht nicht wirklich um ein Kennenlernen. Dazu braucht man mehr als 140 Zeichen, einen Smiley oder eine „Gefällt mir“ klicken.

Dazu braucht es Anstrengung, Mut und Mitgefühl. Aus dem Fernsehsessel können Sie sagen, dass Sie einem anderen helfen würden, aber was würden Sie tun, wenn Sie sich tatsächlich mit einer Situation konfrontiert sehen? Möchten Sie gute Beziehungen zu Kollegen, Ehepartnern, Kindern und Freunden aufbauen? Dann üben Sie, in Kontakt zu bleiben und Verbundenheit zu bleiben.

Denn wenn wir uns die Zeit nehmen, in ein anderes Leben zu investieren, wird unser eigenes Leben verbessert.

Was braucht es, um zu investieren?

  • Sie könnten den anderen nach seiner Familie fragen.
  • Zeigen Sie Interesse und hören Sie aktiv zu, wenn ein anderer spricht.
  • Schauen Sie ihn an anstatt an ihm vorbei oder auf Ihr Smartphone.
  • Sehen Sie sich selbst in seiner Situation.
  • Lassen Sie Bewertungen und Urteile weg, wenn Sie zuhören.
  • Geben Sie keine Ratschläge aber bieten Sie Hilfe an.

Ein paar Tipps für ein Leben ohne Perfektionismus.

Jetzt, da Sie ahnen, was Sie brauchen, um ein unvollkommenes Leben zu führen (Mut, Mitgefühl und Verbundenheit), finden Sie hier einige Tipps, wie Sie diese Eigenschaften in die Praxis umsetzen können. Und nur die Praxis, also Ihr Leben, zählt.

Loslassen ist nicht dasselbe wie aufgeben.
Was Sie loslassen müssen, sind die Erwartungen der anderen an Ihr Leben. Setzen Sie Ziele für Ihr Leben und fordern Sie sich selbst heraus. Aber tun Sie es nur mit Zielen, die Ihre Lebenseinstellung befriedigen. Benutzen Sie nicht den Massstab eines anderen, um Ihren Weg zu bestimmen.

Lieben Sie sich selbst – das ist der größte Tipp.
Einige Menschen werden ihre Werte und Überzeugungen nicht teilen, das macht nichts. Sie können sie trotzdem akzeptieren, vielleicht sogar lieben.
Es lohnt sich nicht, Ihren Hunger nach Anerkennung und Bestätigung einzutauschen für zu viel Anpassung und Nettsein. Investieren Sie in sich selbst, indem Sie sich die Zeit nehmen, um herauszufinden und sich damit anzufreunden, wer Sie sind. Denn nur dann werden Sie Orte, Menschen und Gelegenheiten finden, in denen Sie selbst sein können – und nicht eine schlechte Kopie.

Vergessen Sie Perfektion – es ist ein Hirngespinst.
Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung von dem, was ihm wichtig ist. Ihre Vorstellung ist die, an der Sie festhalten können. Finden Sie gangbare Wege, Ihr Leben in diese Richtung zu leben. Teilen Sie es mit anderen. Seien Sie damit offen – also auch verletzlich. Finden heraus, wie Sie der beste Mensch sein können – in Ihrem Leben. Nicht in dem der anderen.

Verändern Sie sich – jeder entwickelt sich im Laufe der Zeit.
Der Mensch, der Sie gestern waren, ist nicht derselbe Mensch, der Sie in zehn Jahren sein werden. Veränderung ist unausweichlich – wenn Sie sich nicht dagegenstellen oder sie zu vermeiden suchen.

Ihre Veränderung sollte aber nicht auf unrealistischen Erwartungen von Partnern, Freunden oder der Gesellschaft oder Freunden basieren. Wenn Sie Änderungen in Ihrer Haltung, Ihrem Körper, Ihrer Karriere oder Ihrem Familienleben wünschen, tun Sie dies, weil Sie es für richtig oder angebracht halten nicht, um jemand anderen zu beeindrucken.

Vertrauen Sie sich selbst.
Wer könnte besser als Sie wissen, wohin Sie wollen?
Machen Sie einen Schritt in diese Richtung. Wenn es nicht funktioniert, ändern Sie den Kurs. Vertrauen Sie auf den Prozess, der Ihr Leben ist. Nehmen Sie sich die Zeit, Ihre Vorlieben, Abneigungen, Träume, Hoffnungen und den ganzen Rest kennenzulernen.

Alle anderen Beziehungen ergeben sich aus der Beziehung, die Sie zu sich selbst haben. Es ist schwer, etwas einem anderen Menschen zu geben, wenn man diese Dinge nicht zuerst in sich selbst hat.


Wir sind oft fasziniert von Perfektion – ich auch.

Weil es ein Symbol für das Paradies ist. Wo alles gut war. Bevor die Schlange, also die Dualität, die Trennung in Gut und Böse in die Welt kam.

Doch auf dem Weg zur Perfektion in dieses Nirvana finden die meisten Menschen eher Enttäuschung, Angst, Unzufriedenheit.  Sie sehen ein Gesicht im Spiegel, das nicht wirklich ihr eigenes ist. Wer Sie sind, ist dem Leben wichtiger als der Versuch, sich einer bestimmten Form oder einem bestimmten Anspruch von irgendjemand anzupassen.

Die Welt wartet auf Sie und Ihre einzigartigen Gaben, Talente und Präsenz. Es würde etwas Entscheidendes fehlen, wenn Sie sich selbst billig verkaufen, indem Sie sich  den Wünschen der Welt anpassen und nicht dem in Ihnen schlummernden Potential, das darauf wartet, entdeckt und gelebt zu werden.

Unvollkommen zu leben ist kein Makel, sondern ein Privileg. Wenn Sie den Mut haben, frei zu sein und sich so zeigen, wie Sie sind, ermutigen Sie damit auch andere, sie selbst zu sein. Und das ist ein Gewinn für uns alle.

Was tun Sie für oder gegen Ihren Perfektionismus?

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Bild: © zoonar/Robert Kneschke

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