Von Samurai und Zen-Mönchen. Eine Reise quer durch Japan. (Im Jahr 2000)
Hagakure, die Bibel der Samurai, war ein voller Erfolg. Ich hatte das Weisheitsbuch übersetzt und mittels digitalem Buchdruck auf den Markt geworfen. Schon rang der Piper Verlag mir eine Taschenbuch-Lizenz ab und bat mich, eine Fortsetzung zu schreiben. „Das liegt nicht an mir“, meinte ich nachdenklich, „da bin ich ganz auf den Übersetzer in Japan angewiesen. Nur der kann dieses alte Japanisch im Original verstehen.“ So zeigte sich Piper großzügig bei den Tantiemen und ich konnte mir einen langgehegten Traum erfüllen: die Reise ins unergründliche Land der aufgehenden Sonne. Neben Takao Mukoh, der mir die Vorlage für die Hagakure-Fortsetzung liefern wollte, würde ich den Übersetzer des bedeutendsten zen-buddhistischen Werkes, des Shobogenzo, in seinem Tempel aufsuchen. Und vor allem mit dem Shinkansen, dem japanischen Express-Zug, durchs Land düsen. Vor der Ankunft am Flughafen Kansai fühlte ich mich zum erstenmal in einem Flieger wie neugeboren. Die Einreisepapiere durften nämlich keinerlei Zweifel an meiner Gesundheit aufkommen lassen. So erklärte ich mich für kerngesund. Die Blicke der Beamten in Japan sind streng. Ihre Fragen militärisch kurz. Und dann hat man plötzlich ein Dreimonats-Visum. Zuerst musste ich ein Zimmer organisieren. An fast allen Orten meiner Reise, so sollte sich herausstellen, gab es Büros, die dem Touristen Stadt- und U-Bahnpläne, Hotelführer und meist auch ein nettes Sonderangebot aushändigten. Ich musste bloß noch einen Anruf machen. Auf zu den Automaten, die, eingehüllt in japanische Schriftzeichen, verschiedene Telefonkarten ausspucken. Ich zog prompt die falsche und konnte damit keinen der drei Apparate nebenan benutzen. Vom Flughafen fuhr ich etwa eine Stunde Richtung Osaka-Stadt. Die Ansage in der Bahn war zweisprachig, beinahe gesungen, von einer Frauenstimme, die einem langsam die Wirbelsäule runter und wieder hoch kriecht. Touristenfreundlich auch die Beschilderung der Stationen. Bloß die Werbeposter, die allenthalben von den Waggondecken hängen, waren meinem Skalp im Weg. Die ersten arbeitsgestressten Japaner schliefen neben mir im Stehen ein, Meister der Balance. Andere lasen in Comics und Pornos. Also doch. Die erste Taxifahrt. Der Zähler bewegt sich minutenlang nicht. Schließlich macht er einen großen Sprung auf die nächste Einheit, aber am Ende ist die Fahrt billiger, als ich dachte. Und natürlich will ich’s wissen und gebe dem Fahrer Trinkgeld. „Okay, okay“, sage ich und laufe weg. Da rennt er mir hinterher und reicht mir das Trinkgeld zurück. Beidhändig und mit einer Verbeugung. Ich lache, verbeuge mich ebenfalls und klopfe ihm auf die Schulter. „Only joking.“ Das billigste Hotel, nach dem ich verlangt hatte, kostete, wie die meisten meiner Unterkünfte, etwa 100 Mark (5000 Yen) die Nacht. Günstigere Alternativen sind Jugendherbergen und Privatpensionen (minshuku). Ich kam stundenlang nicht vom Klo, weil es das erste in meinem Leben mit beheizbarer Brille war. Später erfuhr ich von meiner Mutter, das solch ein Klo der Traum meines verstorbenen Vaters war. Hat er mir nie erzählt, aber ich verstehe ihn nun. Die Luxustoilette hatte noch mehr drauf. Sie reinigte und massierte einen von unten mit Wasserstrahlen, die man variieren konnte. Manchmal stand ich auf, um mir das Schauspiel zu betrachten. Dann spritzten die Fontänchen alles nass. Standard in japanischen Hotels. Im Fernseher liefen seltsam langweilige Programme, bis auf eine lustige Serie, in der ein Typ anderen auf der Straße hinterherlief, um ihnen dann plötzlich laut ins Ohr zu schreien. Ich hatte gehofft, eine der vielen Shows mit meinem Idol Beat Takeshi (Hana-Bi, Brother) sehen zu können, über dessen Filme ich schon einige Kritiken verfasst hatte. Stattdessen stieß ich auf den obligatorischen Pornokanal, der entweder im Übernachtungsangebot enthalten ist oder sich nach einigen Sekunden abschaltet. Dann muss man Geld in einen Metallkasten werfen, der am Fernseher angebracht ist, und kann wieder ein paar Minuten zuschauen. Wie bei einer Peepshow. Am nächsten Tag besuchte ich das Osaka City Museum, das 1960 in einem ehemaligen Militärgebäude eröffnet wurde. Auf drei Stockwerken wird die Geschichte der Stadt ausgebreitet, die früher als Naniwa bekannt war. Dort traf ich Kayoko, eine Studentin, die mir anhand alter Münzen und einer Waage ein überkommenes Zahlungssystem klarzumachen suchte. Zwar verstand sie mein Englisch, konnte aber ihren eigenen Wortschatz nicht recht nutzen. Eine Erfahrung, die mich zunehmend in Japan frappierte, einem Land voller Bildung und Kultur, hatte ich doch zuvor bei einem Zwischenstopp auf den Philippinen jedes zweite Kind Englisch sprechen hören. Später wurde ich in der Bahn von einer älteren Frau angesprochen, ob sie sich wohl mit mir unterhalten dürfe. Nachdem wir so eine Weile ausgerechnet über dieses Problem des schematischen Sprachunterrichts in Japan geredet hatten, fragte ich sie nach ihrem Beruf. Sie war Englischlehrerin. Das ganze Gespräch über war ihr peinlich gewesen, es zuzugeben. Im Osaka Castle Museum konnte ich mich kaum sattsehen an der Fülle von akribisch recherchiertem Material zur Geschichte des Fürsten Hideyoshi Toyotomi und des Tokugawa-Shogunats (1603-1867). Da findet sich fast alles, was ein Samurai-Fan sucht. Fürst Toyotomis Abschiedsgedicht hängt da, zart kalligraphierte Worte: „Alles ist ein Traum. Das menschliche Streben der Traum aller Träume. Mit dem grandiosen Osaka im Herzen muss ich nun wie ein Tautropfen vergehen.“ Am aufregendsten war jedoch die moderne Technik (Stereoskopie und Diorama, sagt der Fachmann), die zur Darstellung von Schlüsselszenen aus Japans Geschichte benutzt wird. Hinter Glas liefen bunte Filmszenen in Miniatur ab, dreidimensional wie animierte Hologramme. Ganze Schlachtszenen saugte ich da wie ein Gulliver auf. Während ich mir meine Nase platt drückte, nahmen die jüngsten Besucher das technisch brilliante Schauspiel als selbstverständlich hin. Erste Einblicke in die wirtschaftliche Krise Japans brachte der Besuch des Osaka International Peace Centers, denn auf dem Weg dorthin sah ich ein Lager aus blauen Zelten und Planen, in dem sich Obdachlose zusammengetan hatten. Einige rasierten sich gerade oder wuschen sich das Gesicht. Während diese Menschen ohne Wohnung sind, hat man im Peace Center eine Privatstube aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs nachgebaut. Zeugenaussagen und detaillierte Statistiken rufen die Erinnerung an fünfzig Bombenangriffe auf Osaka wach. Plötzlich wurde ich krank. Fiebrig und böse hustend wie immer einmal im Jahr. Ich stellte mich schon auf eine Woche im Hotel ein, zog mir am Automaten eine „Cup Noodle“ von Nishin, eine Instantsuppe im Plastikschälchen (bekannt durch die lustigen Spots, die in der Steinzeit spielen) und füllte am Automat daneben heißes Wasser ein. Dann schlurfte ich zum Krämer um die Ecke, um mir Vertrautes einzukaufen. Schokolade, Kekse, Fruchtsäfte. Nicht zu fassen, es gab reinen Apfelsaft aus Deutschland, der war billiger als der japanische Tee in Flaschen. Dann pfiff ich mir meine allzeit bereiten Antibiotika ein. Am nächsten Morgen fühlte ich mich gesund. Da wusste ich, warum die Japaner so produktiv sind. Es lag an den Instant-Nudeln. Die machen einen über Nacht gesund. Dazu gibt es eine tolle Geschichte. Das Nishin-Prokukt war nämlich anfangs gar nicht erfolgreich, weil es 100 Yen (2 Mark) kosten sollte, während andere Tütensuppen schon für ein Fünftel des Preises zu haben waren. Dann kam es zu einer Geiselnahme, dem „Asama-Sansou-Vorfall“. Polizisten und die Presse umlagerten ein Gebäude, in dem der Geiselnehmer der Menschheit Schlimmes androhte. Die hungrigen und frierenden Polizisten zogen sich nun reihenweise Nishins Instantsuppen rein, die Fernsehzuschauer sahen zu: der Beginn des Siegeszuges von „Cup Noodle“. In der Folgezeit erlebte ich nicht nur den heißesten Sommer meines Lebens und war schon fünf Minuten nach Verlassen des Hotels schweißnass, ich erfuhr auch den Segen der flächendeckend drappierten Getränkeautomaten, die jedes Schleppen von Trinkbarem überflüssig machen. Die Dosen und Flaschen darin kosten kaum mehr als im Laden. Ich trank mich einmal durchs ganze Sortiment, von kaugummiartigen Brausegetränken über ungezuckerte Tees bis hin zu meiner Lieblingssorte mit einem Gramm Vitamin C pro Dose. Bevor ich Osaka verließ, wollte ich mir anschauen, wie die Überbleibsel einer EXPO ausschauen können. Im EXPO ´70 Commemoration Park findet man einen großen japanischen Garten, auf den man sich beschränken kann, wenn man für all die kleinen Zen-Gärten keine Zeit findet. Neben ein paar Kulturgegenständen und übriggebliebenen Stahlpavillions sind die Nationalmuseen für Ethnologie und Kunst die interessantesten Ziele des Geländes. Ein „Internationales Institut für Kinderliteratur“ beherbergt fast 600.000 Schriftstücke. Den Rest der ersten Woche verbrachte ich in Kobe und Kyoto, die man von Osaka aus in jeweils einer Stunde erreicht. Die Hafenstadt Kobe war Ausgangspunkt einer Fahrt ins Wochenendhaus des emeritierten Professors Mukoh und dessen Frau Agnes Chieko, die beide Samurai-Geschlechtern entstammen. Umgeben von Japans kostbarstem und hellem Hinoki-Holz tauschten wir unsere Bücher aus (Mukoh hat zum Beispiel noch einige über Business Englisch verfasst) und berieten uns über die Bedeutung der Samurai-Philosophie für unsere Zeit. Sein Haus, so erzählte Mukoh, sei auch Treffpunkt für Paare, die mit ihren Kindern Probleme haben. Dropouts, Alternative und Revoluzzer bereiten ihren Eltern große Scham; wer sich in Japan nicht anpasst, wird gerne totgeschwiegen. Vielleicht ist das der Grund, warum sich Obdachlose bei ihrer Morgentoilette ganz leise verhalten, um ihre schlafenden Kumpanen nicht unnötig zu wecken. Einer bat mich mal um etwas Essen, indem er sich wortlos in Kreisen über den Bauch rieb und leidend sein Gesicht verzog. Die Mukohs und ich fuhren trotzdem in ein Restaurant, die Hagakure-Fortsetzung war gebongt und ich versuchte, meine Suppe mit Stäbchen zu löffeln. Auf der Rückfahrt erklärte Agnes Chieko ihrem Mann genau den Weg: wo er vorsichtig zu sein und wo er abzubiegen hatte. Er müsse sich beim Fahren total auf sie verlassen, meinte Mukoh scherzhaft. Ich fühlte mich wie bei einer Rallye, wo unser Geschick vom Co-Piloten abhing. Kürzlich erhielt ich ein Fax, in dem Mukoh sich nach einer deutschen Industrienähmaschine erkundigte, die mehr wiegt als ich. Seine Frau hatte ihm das ganze Leben über die Kleider genäht, nun wollte er ihr ein Spezialgerät der Firma Adler für das Stechen der Knopflöcher schenken. „It could be my legacy“, meinte der 70jährige. Es könnte sein Vermächtnis sein.