Im Rahmen von FRIDAY LATE findet alle zwei Monate eine Diskussion mit dem Philosophen Paulus Kaufmann über philosophische Themen statt. Am 4. Oktober geht es um das Thema Privilegiert sein, am 6. Dezember reden wir über Small Talk und am 7. Februar über Bevormundung. Wir nehmen uns Zeit zum Nachdenken, wobei alle eingeladen sind, ihre Blickwinkel zu teilen. In diesem Gastbeitrag spricht Paulus Kaufmann über das Thema des zweiten Philosophischen Foyers: Kindheit, dass am 3. Mai stattgefunden hat.
Wenn wir über Kindheit reden, reden wir meist darüber, wie wir unsere Kinder erziehen sollen, was Kinder in der Schule lernen müssen oder welche Rechte Kinder besitzen. Wir fragen also danach, wie wir Erwachsene mit den Kindern umgehen sollen. Hinter unseren Antworten auf diese praktischen Fragen verbergen sich allerdings oft bestimmte Auffassungen davon, was die Kindheit denn eigentlich ist. Diese Frage – „Was ist die Kindheit?“ – verdient es daher, auch einmal gesondert behandelt zu werden. Die Frage ist nämlich nur auf den ersten Blick einfach zu beantworten. Bereits die simple Frage, wann die Kindheit beginnt und wann sie endet, erweist sich als knifflig. Wenn wir sagen, die Kindheit beginne mit der Geburt, dann ziehen wir keine Grenze zwischen dem Säuglingsalter und der Kindheit. Aber beginnt die Kindheit nicht eigentlich erst mit der Fähigkeit zum Spiel und zum Austausch mit anderen? Nach oben hin sieht schon der Gesetzgeber verschiedene Grenzen vor: Mit 14 sind wir bedingt strafmündig, mit 16 dürfen wir begleitet Auto fahren und vielleicht auch bald wählen, mit 18 sind wir volljährig, aber erst mit 21 werden wir für Straftaten voll zur Rechenschaft gezogen. Wenn wir nun noch in die Geschichte blicken, entdecken wir eine noch größere Vielfalt. Der Soziologe Pierre Ariès hat in seiner berühmten Studie zur Geschichte der Kindheit darauf aufmerksam gemacht, dass die Altersgrenzen in anderen Epochen sehr unterschiedlich gezogen worden sind und auch unser modernes Vokabular zur Bezeichnung von Lebensphasen häufig ganz anders verwendet wurde. Das lateinische Wort „puer“ beispielsweise wurde für Personen vom Kleinkindalter bis hin zu 25-Jährigen gebraucht. Auch der heutzutage in vielen Sprachen verwendete englische Ausdruck „Baby“ wurde ursprünglich auch für junge Erwachsene benutzt. Dies lässt sich ja auch heute noch nachvollziehen, etwa wenn Nina Simone singt „My baby just cares for me“.
Neben der Frage nach den zeitlichen Grenzen der Kindheit scheint die wichtigere Frage die zu sein, was das Kindsein denn eigentlich ausmacht und worin der besondere Wert der Kindheit besteht. Auf diese Frage finden wir in der Geschichte der Philosophie sehr unterschiedliche Ansichten. Die Griechen – mit Ausnahme des Stoikers Zenon von Kition – verehrten die Kinder und glaubten, diese stünden den Göttern aufgrund ihrer natürlichen Frömmigkeit und Aufrichtigkeit näher als die Erwachsenen. Die römischen Philosophen sahen die Kinder wesentlich nüchterner. Der Rhetoriker Quintilian beispielsweise hielt die kindliche Spontaneität für ein Hindernis, wenn man den Heranwachsenden die Welt erklären möchte. Im Christentum finden wir dann wiederum eine positive Einstellung zur Kindheit, die u.a. deutlich wird durch das Jesuswort „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“. Insbesondere werden die kindliche Unschuld, ihr blindes Vertrauen in die Eltern, ihre Spontaneität und Natürlichkeit gepriesen. Diese Motive tauchen dann auch bei französischen Denkern der Neuzeit wie Fénelon und Rousseau sowie bei den Romantikern wieder auf. Demgegenüber betrachteten Descartes, Kant und viele Philosophen der Aufklärung Kinder als unfertige Erwachsene, als Übergangswesen zwischen Tierheit und Menschheit. So sagt etwa Kant über die Kinder: „Bei ihnen ist dieses aber nicht ein edler Hang zur Freiheit, wie Rousseau und andere meinen, sondern eine gewisse Rohigkeit, indem das Tier hier gewissermaßen die Menschheit noch nicht in sich entwickelt hat. Daher muss der Mensch frühe gewöhnt werden, sich den Vorschriften der Vernunft zu unterwerfen. Wenn man ihm in der Jugend seinen Willen gelassen und ihm da nichts widerstanden hat: so behält er eine gewisse Wildheit durch sein ganzes Leben.“
Interessanterweise greifen die kindheitskritischen Philosophen wie Zenon, Quintilian und Kant oft dieselben kindlichen Merkmale heraus, die von Philosophen, die der Kindheit positiv gegenüber stehen, gelobt werden. Spontaneität, Freiheitsdrang und Emotionalität werden also mal positiv, mal negativ bewertet. Dies ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, wie komplex diese typisch kindlichen Eigenschaften sind. Spontaneität kann zu kreativen Lösungen und unverstelltem Ausdruck führen, kann aber auch in einer Unfähigkeit zum Planen gründen. Freiheitsdrang kann Anzeichen einer gesunden Autonomie aber auch von Egozentrik sein. Emotionalität schließlich kann Unmittelbarkeit und Zugewandtheit in sich schließen, kann den Menschen aber auch zum Sklaven seiner Stimmungen und Befindlichkeiten machen. Gerade Kinder kennen depressive Grübeleien, unnötigen Zank, Langeweile und Lustlosigkeit. Kindheit erweist sich somit als eine Zeit voller Widersprüche, die sich nicht leicht und eindeutig bewerten lässt. Kinder sind eben zugleich bewundernswerte wie unreife Wesen.
Genervt sein
Das 3. Philosophische Foyer zum Thema „Genervt sein“ fand am 5. Juli statt. Den Audiobeitrag dazu finden sie hier:Paulus Kaufmann diskutiert mit dem Publikum darüber, warum wir genervt sind. Ein ideales Thema um „hier selbst tätig zu werden… und eine Theorie des Genervtseins“ zu entwickeln. Wärend der Veranstaltung werden Gruppen gebildet, wodurch alle aktiv an der Diskussion teilnehmen. Die Gruppe der Analytiker*innen liefert die Definition zum Thema wie z.B. „enttäuschte Erwartungen“. Die Gruppe der Therapeut*innen versucht zu ergründen „wie wir mit diesen Phänomenen umgehen“. Die Skeptiker*innen hinterfragen das Dargelegte und geben (einen oft augenzwinkernden) Anstoß das „Genervt sein“ nicht mehr als Gefühl, sondern unter anderem als „Reizreaktion vom Rückenmark gesteuert“ zu sehen.
Das nächste Philosophische Foyer findet am 4. Oktober um 19 Uhr zum Thema „Privilegiert sein“ statt. Mehr Informationen dazu gibt es hier.
Kinder und Philosophieren? Unbedingt!
Für die kleinsten Philosophen bieten wir außerdem das hier:
Um das Philosophieren mit Kindern geht es bei den Kursen und Workshops von philolino. Kinder stellen große Fragen – doch nur selten bekommen sie gute Antworten darauf. Bei den philolino Kursen nehmen wir uns die Zeit, gemeinsam über das nachzudenken, was Kinder umtreibt. Zum Beispiel geht es um Fragen wie: „Was ist ein Freund?“, „Was bedeutet Toleranz?“ oder „Was ist Glück?“.
Wir möchten Kinder ermutigen, ihre eigenen Antworten zu finden, Dinge zu hinterfragen, ihre Meinung zu artikulieren und den Spaß am Abenteuer im eigenen Kopf zu erleben – spielerisch und ohne Druck. Ergänzt wird das Nachdenken durch kreatives Werkeln passend zum Thema. Gelegenheit zum Philosophieren gibt es wieder am 17. November bei FRÄNZCHEN zum Thema „Sein oder Schein?“ (ab 10 Jahre). Weitere Termine unter FRÄNZCHEN sowie Infos auch unter www.philolino.de .