1
Paul macht sich Sorgen. Über Weihnachten. Im Kindergarten haben Frau Timm und Frau Henna-Euler den Kindern erzählt, dass bald der Weihnachtsmann kommt.
Im Kindergarten haben sie sogar Bücher von dem Weihnachtsmann. Paul hat sie sich ganz genau angesehen, denn zuhause gibt es keine Bücher über den Weihnachtsmann, nur Bücher von Maria und Josef und dem Jesuskind.
In den Büchern im Kindergarten hat er gesehen, dass der Weihnachtsmann einen weißen Bart hat und einen roten Mantel.
Manchmal quetscht er sich durch einen Schornstein, und manchmal hat er einen Schlitten dabei, auf dem sich die Geschenke stapeln. Auf jeden Fall bringt er die Geschenke. Von Maria und Josef und dem Jesuskind gibt es kein einziges Buch im Kindergarten!
Da hat Paul das erste Mal eine Befürchtung bekommen: Mama und Papa haben keine Ahnung von Weihnachten!
Als Paul Mama gefragt hat, wo der Weihnachtsmann wohnt, hat Mama gesagt, dass der Weihnachtsmann nur eine Geschichte sei, die sich irgendein Werbefuzzi ausgedacht hat.
„Paul“, hat Mama gesagt, „die Geschenke kaufen wir und Oma Hamburg, das weißt du doch! Und an Weihnachten feiern wir die Geburt von Jesus!“
Wirklich! Mama hat wirklich überhaupt keinen blassen Schimmer vom Weihnachtsmann! Max Mutter dagegen scheint sich ganz genau mit dem Weihnachtsmann auszukennen, denn sie weiß auch ganz genau, wem der Weihnachtsmann Geschenke bringt und wem nicht.
Der Weihnachtsmann bringt nur den lieben Kindern Geschenke. Vorsichtshalber beschließt Paul lieb zu sein. Am Abend hat Paul Mama gefragt, ob er ein liebes Kind sei.
„Natürlich bist du ein liebes Kind“, hat Mama gesagt und schnell die Milch in den Kartoffelbrei gerührt, „und jetzt sei ein besonders liebes Kind und sag Papa bescheid, dass es gleich Essen gibt, ja?“
2
Am nächsten Tag geht Mama mit Paul und Mia in die Stadt. Paul ist müde, aber Mama will unbedingt noch in den Bekleidungsladen, um sich noch was Schickes zu kaufen.
Mama guckt und guckt, und Paul wird langweilig.
„Fang mich!“ ruft er Mama zu.
Mama lacht:
„Na, warte!“
Sie jagt ihn einmal um den runden Kleiderständer.
Als sie an der Kasse fertig sind, ruft Paul:
„Ich versteck mich!“ Und flitzt los.
Mama ruft: „Nee, Paul, jetzt muss du mich fangen!“
Mama schiebt den Kinderwagen, an dem die große Einkaufstüte hängt, schnell in Richtung Ausgang.
Paul schreit: „Nein, du sollst mich fangen!!“
Aber Mama schiebt weiter und winkt ihm, er solle kommen.
Paul wird stinkig. Er will Mama nicht fangen! Sie soll ihn suchen!
Paul macht sein beleidigstes Gesicht. Und außerdem mag er das nicht, wenn Mama so schnell wegläuft.
Als Paul zwischen zwei Regalen mit Herrenunterwäsche wieder auftaucht, steht Mama schon vor der Tür und zieht sich gerade Mütze und Handschuhe über.
Paul steht im Gang und guckt immer noch wütend. Soll sie ihn doch holen! Mama ruft ihm was zu, aber er versteht sie nicht.
Plötzlich stehen zwei alte Damen in langen Pelzmänteln vor Paul.
„Na, Jungchen“, lächelt die eine Dame mit geschminkten Lippen, „du machst aber ein böses Gesichtchen.“
„Wo ist denn deine Maamii?“ fragt die andere Dame.
„Jetzt guck mal nicht so bös“, sagt die erste Dame wieder, „ist doch Weihnachtszeit.“
Pauls Blick wird noch finsterer.
Er ist stinkig auf Mama, die einfach nicht tut, was er will, und außerdem soll er nicht mit fremden Leuten reden.
„Hast du deine Zunge verloren?“ fragt die erste Dame, „komm Jungchen, wir bringen dich zu deiner Mama.“
Sie hebt ihre Arme wie eine pelzige Fledermaus und will ihn vor sich herscheuchen.
Paul ist ein bisschen erschreckt, aber dann läuft er los zu Mama.
Als er bei ihr ankommt, merkt er, dass die beiden pelzigen Damen hinter ihm hergekommen sind.
Sie lächeln Mama an, und die lächelt ein bisschen zurück.
„Ach, da haben sie ja nooch ein Kindchen. Ihr Jungchen kann ja vielleicht schmollen!“
Die Damen lachen ein bisschen und schauen auf Paul. Paul stinkt´s. Die sollen ihn nicht angucken! Und schon gar nicht Jungchen nennen!
Als die eine Dame sich umdreht, gibt Paul ihr einen Schubs.
„Paul!“ ruft Mama erschrocken, „keine fremden Frauen schubsen! Was ist denn in dich gefahren!“
Die geschubste Dame dreht sich um und sieht auf einmal gar nicht mehr freundlich aus. Zwei rote Flecken bilden sich auf ihren Wangen.
„Jungchen!“
Ihr Zeigefinger wackelt in der Luft herum, „das ist ganz böse!! Das erzähle ich dem Weihnachtsmann! Und dann“, sie keucht, „gibt es keine Geschenke!“
Paul starrt auf die Dame. Er war nicht lieb. Er hatte ganz vergessen, dass er lieb sein wollte. Wenigstens bis Weihnachten. Und wenn Max und Max Mutter und die pelzige Dame recht haben, dann gibt es kein einziges Geschenk!
Paul wird blass und seine Augen groß. Plötzlich schiebt sich von hinten eine Hand über seine Schulter. Es ist Mamas Hand.
„Hör nicht auf die Frau“, sagt Mama laut, „die Frau erzählt Quatschtüdelkram.“
Der Zeigefinger bleibt in der Luft stecken, und die Dame mit dem Pelzmantel starrt Mama an. Mama starrt zurück. Dann dreht sich die Dame um und hakt sich bei der anderen pelzigen Dame ein. Einmal schaut sie noch zurück, und diesmal ist es Mama, die einen wütenden Blick abbekommt.
3
Am Abend beim Ins-Bett-bringen erzählen Papa und Paul, was am Tag passiert ist. Paul fragt Papa, ob er ein liebes Kind sei.
„Aber klar, Paul“, sagt Papa, „wie kommst du denn darauf?“
„Papa, wenn man einmal nicht lieb war, kommt dann der Weihnachtsmann nicht?“
Paul hat eine Träne im Auge.
„Paulchen Pantherbär“, sagt Papa, „wieso denkst du, dass du kein liebes Kind bist?“
Die Träne rollt aus dem Auge die Wange herunter und bleibt am Kinn hängen.
„Ich hab heute die Frau geschubst“, sagt er, „und die hat gesagt, dass sie dem Weihnachtsmann erzählt, dass ich böse bin, und jetzt kommt der Weihnachtsmann bestimmt nicht, und ich kriege keine Geschenke.“
„Aha“, sagt Papa und überlegt. „Wer sagt denn, dass es dann keine Geschenke gibt?“
„Max“, sagt Paul.
„Und was sagt Max noch?“ fragt Papa.
„Dass liebe Kinder immer auf ihre Eltern hören und immer ihr Zimmer aufräumen und nicht schubsen und nicht herumschreien und keine bösen Wörter sagen.“
„Aber Paulchen“, sagt Papa, „es gibt kein Kind, nicht ein einziges, dass immer auf seine Eltern hört und immer ein aufgeräumtes Zimmer hat und nie schubst und nie herumschreit oder böse Wörter beunutzt.
Mama schreit ja auch manchmal… .“
„…und haut die Tür zu“, ergänzt Paul.
„Äh, ja“, sagt Papa, „und ich habe auch schonmal zu jemandem ein böses Wort gesagt, weil ich so ärgerlich war. Also wenn das danach geht, Paul, dann, also dann, kriegt wirklich niemand ein Geschenk. Nur komplett immer lieb ist einfach kein Mensch.“
Paul guckt Papa an. Irgendwie tröstet ihn das ein bisschen.
„Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht entschuldigen sollen, wenn wir was Doofes gemacht haben.“
„Mama sagt auch immer, dass es ihr leid tut, wenn sie herumgebrüllt hat“, sagt Paul.
Papa nickt und seufzt ein bisschen.
„Na, jedenfalls heißt es nicht, dass wir uns gegenseitig schubsen sollen oder beschimpfen oder sonstwas“, fährt Papa fort, „und wenn sowas ist, dann können wir uns entschuldigen und wenn das nicht mehr geht, dann können wir auch Gott sagen, dass es uns leid tut.“
„Okee“, nuschelt Paul, „`ntschuldigung, Gott!“
Papa wuschelt Paul durch´s Haar.
„Und schließlich und überhaupt“, sagt Papa, „gibt es an Weihnachten keine Geschenke, weil wir lieb waren und deshalb eine Belohnung verdient haben, sondern weil da Jesus geboren wurde. Und weil in jedem von uns sozusagen ein bisschen von Jesus steckt, deshalb schenken wir uns gegenseitig zu Weihnachten schöne Dinge.“
„Und der Weihnachtsmann?“ fragt Paul.
„Der Weihnachtsmann ist nur so eine Geschichte“, sagt Papa, „die wir so aus Spaß und Quatsch glauben, einfach weil unsere Eltern die Geschichte auch schon erzählt haben. Und deren Eltern ihnen auch schon.“
„Aber es gibt ihn doch, oder Papa?“ fragt Paul verwirrt, „Frau Henna-Euler hat gesagt, der Weihnachtsmann bringt die Geschenke!“
Jetzt macht er sich aber doch Sorgen. Was ist denn, wenn Papa und Mama nicht an den Weihnachtsmann glauben? Schicken die ihn dann wieder weg, wenn er kommt, um Pauls Geschenke abzugeben?
Mama hat schon einmal einen Mann mit einem großen Paket weggeschickt hat:
„Neenee“, hat sie gesagt, „da müssen Sie sich in der Hausnummer geirrt haben. Also, ich habe jedenfalls nichts bestellt!“
Papa seufzt.
„Also, so oder so, Paul“, sagt er, „ganz sicher: du bekommst Weihnachtsgeschenke. Versprochen!“
„Ganz großes Ehrenwort?“ fragt Paul.
„Ganz großes Ehrenwort!“
4
Als Paul am nächsten Morgen aufwacht, ist er mit sich und der Welt zufrieden. Papa hat ihm so ernst und feierlich versprochen, dass er, Paul, Weihnachtsgeschenke bekommt, dass das einfach stimmen muss.
Als Mama ihn am Nachmittag vom Kindergarten abholt, hüpft Paul froh neben ihr her.
„Was ist denn mit dir los, Paul?“ fragt Mama erstaunt.
Doch Paul summt und hüpft nur weiter. Nach einem Zwischenstopp im Supermarkt geht es schnurstracks nach Hause.
Frau Dohling steht vor ihrem Reihenhäuschen und schippt Schnee vom Bürgersteig. Ganz rot ist sie im Gesicht, und auf dem Kopf hat sie eine weiße Mütze mit einem roten Puschel obendrauf.
„Was machst du da?“ fragt Paul.
Frau Dohling schwingt die Schippe und sagt: „Ich mache alles sauber für Weihnachten, Paulchen.“
Sie beugt sich zu ihm runter: „ Und du? Warst du auch lieb und hast schon dein Zimmer aufgeräumt, Paul? Du weißt ja: Sonst bringt der Weihnachtsmann keeeine Geschenke!“
Frau Dohling zieht ihre Augenbrauen hoch und die Mundwinkel runter und nickt ganz ernst dazu. Aber Paul kennt sich ja jetzt aus. Frau Dohling macht ihm keine Angst.
„Hach“, sagt er, „das ist doch Quatschtüdelkram, Frau Dohling. Sooo liebe Kinder gibt es doch gar nicht!“
Paul lacht und springt und hüpft summend um den Schneehaufen herum, den Frau Dohling vor dem Gartentörchen zusammengekehrt hat.
Mamas Mund öffnet sich und schließt sich wieder.
Frau Dohling bekommt ihren Mund gar nicht mehr zu, und sie vergisst ganz und gar weiterzufegen.
Aber Paul sieht das schon gar nicht mehr.
Munter hüpft er den Weg zur Haustür entlang, unbeschwert und froh, wie ein Kind eben sein sollte. Denn schließlich steht Weihnachten vor der Tür. Und Weihnachtsmann hin oder her: Kann es denn was Besseres geben?