Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus

Von Ralf Boscher @RalfBoscher
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Bevor ich hier wiedergebe, was mir mein alter Freund aufgewühlt am Telefon schilderte, möchte ich betonen: Folgende Ausführungen sind sicherlich ungerecht, zudem völlig subjektiv und einseitig in ihrer Schilderung. Ein Einzelfall gesehen durch die Brille persönlicher Betroffenheit. Nicht die Regel also. Sicherlich nicht.

Bin ich zu empfindlich?

„Also bin ich zu empfindlich, oder was? Weil ich denke: Das kann doch nicht wahr sein! Die können mich doch nicht einfach dort liegen lassen. Stundenlang in diesem dämlichen Flügelhemdchen. Ohne einen Schluck zu trinken, vor allem ohne Nachricht, dass sich die Operation verzögert, ohne von sich aus wenigstens einmal einen Blick in mein Zimmer zu werfen, um zu schauen, wie geht es denn dem Herrn in den vielleicht letzten Stunden mit all seinen Familienjuwelen.

Ich sage Dir, das ging mir auf den Sack. Die OP war auf 10 Uhr terminiert. Mich weckten sie um 7 Uhr, schickten mich zum Duschen. Anschließend Kompressionsstrümpfe und Flügelhemdchen überziehen. Habe dann noch ein wenig geschlafen. Wachte um halb 10 auf. Es wurde 10. Halb 11. Niemand kam. 11 Uhr. 12 Uhr. Allmählich hatte ich das Gefühl, dass sie mich vergessen haben. Da klingelte ich dann doch einmal nach einer Pflegekraft. Die auch prompt kam. Das muss ich gerechterweise sagen. Ließ sich von sich aus auch nur selten jemand blicken, auf die Klingel wurde immer prompt reagiert. Und freundlich und hilfsbereit waren die Pflegenden dann auch immer. Aber wer will schon einer dieser lästigen Patienten sein, die immer klingeln?

Zudem: kann man nicht ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erwarten? Jemand hätte doch auf den Gedanken kommen können, dass in Zimmer Soundso ein Mensch liegt, der eine OP vor sich hat, eine Vollnarkose, und vielleicht sogar eine einschneidende Veränderung in seinem Leben. Auf die Idee kommen, dass dieser Mensch wenn nicht ängstlich, so doch nervös ist. Dass hier ein wenig pflegerische Zuwendung jenseits von Temperaturmessen, Spritzensetzen, Bettmachen angebracht wäre? Auf mein Klingeln hin kam dann Auszubildender Andi (Pflegeschüler im dritten Jahr) und teilte mir auf Nachfrage mit, dass eine andere Operation dazwischen geschoben werden musste. Was ja auch kein Problem ist. Nur hätte ich das gerne eher gewusst. Dann hätte ich mich nicht so wie bestellt und nicht abgeholt gefühlt. Vor allem weil Auszubildender Andi nicht den Eindruck machte, dass diese Information für das Personal auf Station neu war.

Aber warum sollte auch jemand auf die Idee kommen, diese Information gegenüber demjenigen zu kommunizieren, der hier eigentlich schon seit 2 Stunden unter dem Messer gelegen haben sollte? Und überhaupt, die Kommunikation! Sag mir, bin ich zu empfindlich?“

Nein, versicherte ich meinem alten Freund, Du bist nicht zu empfindlich. Außerdem fand ich, dass er bei der Diagnose und weil eine Operation, egal welcher Art, immer gewisse Risiken trägt, alles Recht gehabt hätte, empfindlich zu sein. Aber er hatte, ohne noch einmal zu klingeln, bis um 13.30 Uhr ausgeharrt, als sie ihn endlich zur OP holten.

Krebs. Eine schreckliche Diagnose. Ein Schock. Aber dann doch nicht ganz so schlimm, wie mein alter Freund meinte. Denn: Hodenkrebs. Gut heilbar, wie die Doctores versicherten. Puh. Glück im Unglück gehabt. Doch dann sackte das Wort tiefer in sein Bewusstsein. Sackte an die Stelle seiner selbst, an der das ganze feine Gespinst an Gedanken, Bildern, Erinnerungen, Vorurteilen, Hoffnungen, Ängsten, Leidenschaften zusammenlief, die in ihrer Summe das Selbstbewusstsein ausmachen. Hodenkrebs. Oh Mann! Ein Schock.

Kommunikation – nicht Krebs – das war jetzt einige Tage nach der OP das Thema meines Freundes. Vielleicht schob er dieses sich aufgrund seiner Erfahrungen anbietende Thema vor das Schreckgespenst „Krebs“, vielleicht war er auch einfach froh, sich an einem anderen Thema als der Diagnose und ihren Konsequenzen abarbeiten zu können. Vielleicht nutzte er auch nur sinnvoll die Wartezeit auf den histologischen Befund mit berechtigter Kritik an dem Teil des Gesundheitssystem, mit dem er in Berührung gekommen war.

Wie auch immer. Ich konnte seine Kritik nachvollziehen, ja nachfühlen. Auch ich hatte mich vor nicht allzu langer Zeit einer Operation unterziehen müssen. Ein Daumenbruch, der unter Plexus-Narkose gerichtet und verschraubt werden musste. Also nicht vergleichbar mit seiner OP. Aber gleichwohl hatte auch ich in einem Vorbereitungsraum gelegen. Während um mich herum letzte Vorbereitungen getroffen wurden, dämmerte ich aufgrund des oral gegebenen Beruhigungsmittels bereits weg. Plötzlich schob sich aus der Geschäftigkeit um mich durch den Sedativnebel hindurch ein Wort, das ich im Vorfeld der OP bereits an mehreren Stellen unter der Rubrik „Allergie“ zu Protokoll gegeben hatte: Penicillin. Ich hatte es beim Orthopäden in meiner Heimatstadt gesagt und es war notiert worden. In der handchirurgischen Praxis, in die ich überwiesen worden war, wurde meine Penicillin-Allergie in den Unterlagen vermerkt. Beim Aufnahmegespräch im Krankenhaus, wo die Handchirurgen OP-Zeiten gemietet hatten, hatte ich es ebenso wie gegenüber dem Narkosearzt gesagt, bei dem ich im Vorfeld der OP vorstellig wurde. Zudem war auf Station von einer Krankenschwester in mein Patientenstammblatt eingetragen worden, dass ich auf Penicillin sehr allergisch reagiere. Gleichwohl hörte ich in meinem präoperativen Dämmerzustand, dass die eine OP-Schwester die andere bat, schon einmal das Penicillin für die OP vorzubereiten. Kaum mehr Herr meiner Sinne, geschweige denn meiner Stimme, die nach 3 Promille Alkohol im Blut klang, konnte ich gerade noch Widerspruch einlegen. „Oh.“, meinte die eine der beiden OP-Schwestern nur, „Dann bereiten wir ein anderes Antibiotikum für die OP vor.“

Oh ja, die Kommunikation

Oh ja, die Kommunikation – ich kann verstehen, warum mein alter Freund so sauer war, dass diese sich in seinem Fall als so mangelhaft herausstellte. Ich teile zwar nicht seine Angst davor, dass vor einer OP Patienten verwechselt werden oder versehentlich an falschen Stellen operiert wird. Aber ich fand es ebenfalls bedenklich, dass der Urologe im Krankenhaus teilweise die Schrift seines Kollegen, der die Voruntersuchung gemacht hatte, nicht lesen konnte. „Was steht da?“ „Patient konnte sich noch nicht für oder gegen Prothese entscheiden.“, half mein alter Freund dem Krankenhausurologen die Schrift zu entziffern. „Ah ha, und möchten sie jetzt im Fall einer Orchidektomie eine Silikon-Prothese erhalten?“, fragte dieser dann, und kritzelte das Nein meines Freundes in einer ähnlich unleserlichen Schrift neben den fraglichen Satz.

„Warum eigentlich alles handschriftlich?“, fragte mein Freund mich. Sicherlich wird alles in der EDV erfasst, wandte ich ein, wobei ich dies ehrlich gesagt nicht wusste. „Meinst Du? Ich habe niemanden bei allen Vor- und Aufnahmegesprächen etwas in einen Rechner eingeben sehen. Diverse Bögen mit vielen Fragen, die entweder von einer Krankenschwester oder einem Arzt oder von mir handschriftlich ausgefüllt wurden – und das nicht immer leserlich. Aber wie auch immer, jedenfalls hätte ich vor der OP gerne noch den Chirurgen gesprochen und von ihm gehört, was er mit mir zu tun gedenkt.“ Ich dachte an meine Penicillin-Erfahrung und musste ihm in gewissem Umfang Recht geben, was seine Befürchtungen anging. Man hört ja auch so viel. Und auch wenn so vieles, von dem man hört, nicht wahr ist, könnte vor einer OP dennoch auf eventuell vorhandene Ängste eingegangen werden.

Mein Freund sah den Chirurgen nicht, nicht vor und nicht nach der OP. Ich versuchte, ihn zu beruhigen: Vielleicht bist du ja aufgrund des Sedativs weggedämmert, bevor der Chirurg mit dir sprechen konnte, oder du erinnerst dich nicht daran.

„Pah, weggedämmert! Patient 3. Klasse, das ist es, sag ich dir!“, fauchte mein Freund wütend ins Telefon hinein. „Es ist genauso, wie es die Schwester beim Aufnahmegespräch im Krankenhaus vor sich hingemurmelt hatte. Sie blickte auf meine Unterlagen, stellte fest: Sie sind bei der AOK. Dann fragte sie: Irgendwelche Zusatzversicherungen? Als ich verneinte, murmelte sie, während sie den entsprechenden Eintrag machte, vor sich hin: Ah, 3. Klasse. Und deswegen ließ sich der Chirurg auch nicht blicken!“

Patient 3. Klasse?

Patient 3. Klasse? Das ist vielleicht ein wenig zu hart gesagt. Aber hinsichtlich der Kommunikation hat sich das Krankenhaus-Team ihm gegenüber jedenfalls nicht mit Ruhm bekleckert.

Es ist nicht korrekt, dass niemand vom Operationsteam nach der OP mit meinem Freund sprach, nachdem er aus der Narkose erwacht war. Die Pflegekräfte im Aufwachraum sagten, sie könnten nichts sagen, weil sie bei der OP nicht dabei waren. Auf Station konnte man nichts sagen, weil sie noch keine Informationen hatten. So lag mein Freund also da, nicht wissend, wie die OP gelaufen war, ob es Komplikationen gegeben hatte, und vor allem: Hatten sie ihm den – hoffentlich linken – Hoden jetzt entfernen müssen? (es fühlte sich so an, aber wirklich sicher war er sich nicht). Und hatten sie die Biopsie des rechten Hodens vergessen (fühlte er unter seinen Fingern an besagter Stelle doch kein Pflaster, keine kleine Wunde). Nein, er erhielt zunächst keine Antworten. Die erhielt er erst am folgenden Tag bei der Visite.

„Das gleiche Trauerspiel beim CT!“, erboste sich mein Freund. „Am Tag nach der OP um 11 Uhr das CT, am Tag danach bequemen sich die Herrn Doctores dann, mir den Befund mitzuteilen.“

Nun gut, dass er beinahe 24 Stunden darauf warten musste, dass ihm jemand definitiv sagte, dass sie beim CT keine Metastasen gefunden hatten, ist verständlich. Der Radiologe muss Zeit finden, einen Bericht zu diktieren, der muss in der Schreibstube aufs Papier gebracht werden. Dieser abgeschriebene Bericht muss vom zuständigen Radiologen freigegeben werden… Das kann schon mal dauern… Dass es dauern kann, hat meinem Freund allerdings niemand gesagt hatte, der angesichts des für ihn folgenschweren Befundes mit baldiger Nachricht rechnete. Somit kann ich seine Wut auf das Krankenhaus verstehen, das Gefühl, dort als Patient 3. Klasse behandelt worden zu sein. Das Gefühl, dass niemand es für nötig hielt, ihn als mündigen Menschen zu behandeln.

Sicherlich war dies nicht so. Dieser Eindruck hatte sich bei ihm am OP-Tag verfestigt und durch diese Brille sah er dann alles weitere. Das eine oder andere Gespräch mit Freunden wird auch Eindruck gemacht haben. Wie, nach der OP kam nicht alle halbe Stunde eine Pflegekraft und hat Blutdruck und Temperatur gemessen? Das ist nicht korrekt! (denn alle halbe Stunde in den ersten 2 Stunden nach der Rückkehr auf Station müssen die Vitalzeichen kontrolliert werden, danach stündlich). Ich aber kann mir vorstellen, dass er die Stunden nach der OP erschöpft vor sich hingedämmert hat, so dass ihm entging, dass regelmäßig eine Pflegekraft bei ihm die Vitalzeichen checkte. Möglich ist das. Und somit ist seine Aussage, dass bei ihm erst gegen Abend, rund 4 Stunden nach der OP, wie üblich Temperatur und Blutdruck gemessen wurden, nicht auf die Goldwaage zu legen.

Zumal er sein allgemein negatives Votum selbst dahingehend abschwächte, dass Auszubildender Andi sehr bemüht gewesen sei und es auch verstanden habe, ihn mit seinen Scherzen zum Lächeln zu bringen (allerdings hätte er es mit der Händedesinfektion nicht so genau genommen). Zudem hätte sich der Urologe, der die Voruntersuchung durchgeführt hatte, für ihn viel Zeit genommen, um ihm die Diagnose und die Konsequenzen zu erklären. Auch der Urologe, der ihn bei der Aufnahme im Krankenhaus noch einmal untersucht hatte, sei sehr freundlich gewesen. Waren auch beide nicht mit einer leserlichen Handschrift gesegnet (aber vielleicht gehört das zum Berufsstand „Arzt“ auch dazu, dass man unleserlich zu schreiben hat, wenn ich mich da an manche ausgestellten Rezepte erinnere…), so gaben sich beide alle Mühe, ihm seine Situation verständlich zu machen und ihn zu beruhigen. Hodenkrebs sei sehr gut heilbar, sagten sie. Gute Chancen… Über 90% Zwar sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man seinen linken Hoden entfernen müsse. Aber das sei der erste Schritt zur Heilung. Und die geringe Menge im Blut gefundener Tumormarker deute daraufhin, dass der Tumor begrenzt und der rechte Hoden nicht befallen sei. Somit würde der gesunde Hoden für zwei arbeiten, kein Problem, für sein Mannsein würde sich somit nichts ändern. Testosteron würde er in diesem wahrscheinlichen Fall als orale Hormongabe nicht benötigen.

Falls man (ein „man“, das so unbestimmt bleiben sollte, weil mein Freund bis heute nicht den Namen des Chirurgen weiß) den linken Hoden entfernen müsse (das entscheidet der Chirurg während der OP durch bloße Begutachtung und seine Erfahrung) müsse man natürlich die histologische Untersuchung des befallenen Hodens abwarten. Denn für das weitere Vorgehen, ob zum Beispiel eine Bestrahlung oder eine Chemotherapie notwendig sei, sei die Art des Tumors entscheidend. Zudem würde eine Biopsie des recht Hodens durchgeführt werden, heißt, durch einen kleinen Schnitt wird eine winzige Menge Gewebe entnommen, um sicherzustellen, dass der rechte Hoden karzinomfrei ist. Aber wie gesagt, sagten beide Urologen: Gut heilbar. Gute Chancen… Viel Glück!

Eine Biopsie war bei meinem Freund nicht gemacht worden. Macht man nicht mehr nach neuen Richtlinien, erklärte der Oberarzt ihm am Tag nach der OP bei der Visite, ohne eigentlich etwas zu erklären. Warum macht man das nicht mehr? Aus welchem Grund wurde die Richtlinie geändert? Was bedeutet dies hinsichtlich der Frage, ob der rechte Hoden gesund ist? Fragen über Fragen, mit denen sie meinen Freund alleine ließen.

Kein Mensch – Hodenkarzinom links

Fragen, die zu weiteren Fragen führten: Warum sagten die Urologen bei der Voruntersuchung und bei der Aufnahme übereinstimmend, dass eine Biopsie durchgeführt werden würde? Waren sie freundlich, kommunikativ, vertrauenerweckend, aber nicht auf dem neuesten Stand der Dinge? Gar inkompetent? Was ist dann von ihrer Einschätzung zu halten, dass Hodenkrebs gut heilbar sei? Kurz: Mein Freund war bis ins Mark verunsichert.

Die beiden genannten Urologen waren ihm kompetent erschienen. Wären sie es nicht, dann wären sie sicherlich auch nicht mit so wichtigen Aufgabe wie Voruntersuchung und Aufnahme betraut gewesen. Oder täuschte er sich in der Wichtigkeit dieser Aufgaben? Waren sie in Wahrheit nur kleine, unbedeutende Rädchen im medizinischen Arbeitsprozess, auf die hinsichtlich einer erfolgreichen Behandlung der Patienten verzichtet werden könnte? War ihre Funktion, die sie mit Gesprächsbereitschaft und Freundlichkeit ausfüllten, vielleicht nur eine Art Zugeständnis an den Wunsch der Patienten als Mensch gesehen zu werden?

Sind Freundlichkeit und Kommunikationswilligkeit vielleicht nur ein Deckmäntelchen für Inkompetenz?

Ja, kann es sein, dass ein gewisses Maß an Unfreundlichkeit, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass nicht mit, sondern über den Menschen im Bett gesprochen wird, und ein gerüttelt Maß an Widerwillen zur Kommunikation mit dem Patienten, ein Widerwillen, der sich in einer abgehakten, von Fremdwörtern strotzenden, nur Fachleuten zugänglichen Aussagesatzsprache äußert, Zeichen von Kompetenz? Weil Ärzte nur dann im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten sind, wenn sie mit dem Patienten lediglich als Fall und nicht als Mensch zu tun haben? Weil Ärzte gewissermaßen eines Teiles ihrer medizinischen Kraft beraubt werden, wenn sie sich auf Menschensprache einlassen, wenn sie gezwungen sind, sich Laien verständlich zu machen. Weil die wirklichen Koryphäen auf ihrem Gebiet wahrhaft nur noch mit ihresgleichen kommunizieren können?

Somit wäre die Klinik kein Ort der Kommunikation zwischen Menschen, darf kein Ort der Kommunikation zwischen Mensch und Mensch sein, weil sie ein Ort der Koryphäen ist. Das Bedürfnis meines Freundes, zu erfahren, was passiert ist, erklärt zu bekommen, was passiert, wäre demnach kontraproduktiv. Eigentlich ein Missverständnis. Liegt diesem Bedürfnis doch der Gedanke zugrunde, dass er ein kranker Mensch sei. Wohingegen er doch nichts weiter als ein Hodenkarzinom links ist. Jedenfalls sein sollte, um den Fachleuten die Kommunikation zu ersparen, die sie nur von ihren Aufgaben ablenkt und sie auf das Niveau des Allzumenschlichen hinabzieht. Dieses Missverständnis zu durchschauen, hieße, sich fraglos in die Hände der Fachleute zu überantworten und zu verstehen, dass Unfreundlichkeit und das Fehlen von Kommunikation keine Anzeichen von schlechter Pflege und Betreuung sind, sondern Zeichen des notwendigen Abstandes der Experten von ihren Fällen, um im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten objektiv das Richtige zu tun. Gottvertrauen ist gefragt!

Sähe mein Freund dies ein, so würde sich das schäbige Gefühl verlieren, als Patient 3. Klasse behandelt worden zu sein. Er würde nicht mehr darauf pochen, von den Ärzten als Mensch behandelt zu werden. Hodenkarzinom links. Mehr würde er in medizinischen Zusammenhängen nicht mehr sein wollen. Für menschliche Bedürfnisse gibt es schließlich die Familie, psychologische Beratungseinrichtungen, Seelsorger – oder Freunde wie mich.

Gott bewahre!

Und ich erwarte jetzt jeden Moment den Anruf meines alten Freundes, der dann endlich Gewissheit hat, welcher Art der Krebs war, denn sie aus ihm herausgeschnitten haben, weil nun endlich der histologische Befund vorliegt, dessen Ausfertigung sich etwas verzögert hat, wie mein Freund nach einigen Telefonaten herausfand. Warum?, dies konnte ihm niemand sagen. Wann es denn soweit sei, ließ sich nicht voraussagen.

Sicherlich hätte sein Urologe an seinem Heimatort diese Telefonate für ihn geführt, bei seinen Kollegen auf den Busch geklopft, um die Verfassung des wichtigen Befundes zu beschleunigen, oder wenigstens mündlich wichtige Anhaltspunkte für die anstehenden nächsten Schritte zu erhalten. Denn sollte aufgrund der Krebsart – Gott bewahre! Ein eher unwahrscheinliches, aber dennoch realistisches Szenario – eine Chemotherapie notwendig sein, so würde hier schnell gehandelt werden müssen. Aber sein Urologe vor Ort war für zwei Wochen in den wohlverdienten Urlaub gefahren, was leider versäumt worden war, meinem Freund vor seinem Klinikaufenthalt mitzuteilen. An einen Termin bei dem ihn vertretenden Arzt war schwer heranzukommen. Erst war der Anschluss der Praxis ständig besetzt, dann…

Aber schließlich hat es doch geklappt, per Telefon hat mein Freund dafür gesorgt, dass der Vertretungsarzt alle Unterlagen erhält („Na, hoffentlich klappt das!“, meinte mein Freund vor einigen Tagen mit müder Stimme). Heute ist dieser Termin. Er war schon vor einigen Stunden. Ich bin schon ganz kribbelig. Nun gut, vielleicht musste mein Freund lange warten, vielleicht – ah, endlich. Das Telefon klingelt.

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