Parteien: Wähler vergessen alles, auch die 68er

Die Masse der Wähler ist leicht zu manipulieren, sagen sich die Regierungeparteien von heute. Und die Anzahl der Unentwegten, die ihr Kreuz noch machen, schrumpft von Wahltermin zu Wahltermin, während die Prozentzahl der sich verweigernden Gefrusteten stetig zunimmt.

Gedenktafel_Dutschke

68er: Rudi Dutschke ist tot, Cohn-Bendit will an der Seite der USA in Syrien einfallen (2) – Foto: © Dishayloo, wikipedia / public domain

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Nichtwähler ungefähr verdoppelt, in vielen westlichen Bundesländern liegt sie bei ca. 40%, im Bundesschnitt bei ca. 30%, Tendenz weiter steigend. Bei den Europawahlen ist es noch schlimmer, da finden beinahe 60% der Wähler den Weg zum Wahllokal nicht mehr, bei Kommunal- und Burgermeisterwahlen verweigern sich bis 75%.

Im Jahr 1972, als man noch an Veränderungen glaubte, die Zeit des Umbruches durch “Den Langen Marsch durch die Institutionen” seine parlamentarische Fortsetzung finden sollte,  waren es nur knapp 9%, die nicht wählen wollten. Politk war etwas, das jeden anging.  Heute ist der “Lange Marsch im Arsch”.

„Heute würden Permanenzrevolutionäre, nicht Wortschwätzer (die Revolutionsdiskussion ist inzwischen von uns als Ersatz für die praktische Arbeit entlarvt worden), die in den Fabriken, in den landwirtschaftlichen Großbetrieben, in der Bundeswehr, in der staatlichen Bürokratie systematisch den Laden durcheinanderbringen, von allen Lohnabhängigen vollkommen akzeptiert werden… Den ,Laden in Unordnung bringen’ heißt nur, die Lohnabhängigen und andere mehr unterstützen, bei ihnen lernen, neue revolutionäre Fraktionen herauszubrechen. Die Permanenzrevolutionäre können immer wieder hinausgeworfen werden, immer wieder in neue Institutionen eindringen: Das ist der lange Marsch durch die Institutionen.“
Rudi Dutschke 1967 (1)  

Und wie sieht es im Jahr 2013 aus? Die Menschen sind entpolitisiert, man kann das Gefühl haben, die “Kritischen Massen” haben sich dem Konsumzwang ergeben. Irgendwie scheint es so, als seien breite gesellschaftliche Bündnisse mit den heute existierenden Menschen kaum noch möglich; zu individuell sind wir einerseits geworden und zu groß sind die Unterschiede in der verwendeten schicht- und milieuspezifischen Sprache, dem eigenen Bewußtsein und -wenn vorhanden- den Lebenszielen. Für die eigene  Existenz in der Marktwirtschaft irrelevant, scheint das Bedürfnis, sich mit anderen zusammen zu tun um so gemeinsam(e) Interessen durchzusetzen.

Es gibt nicht wenige, die glauben, diese “Entsolidarisierung” sei eine geplante Nebenwirkung der durch die “Privatisierungs-Doktrin” eingeleiteten Veränderungen im Europa und den USA der beginnenden 80ger Jahren, nach dem der “Lange Marsch”  sich in der lähmenden und ineffktiven Routine, bürokratischer Fallstricke und Verkrustungen totgelaufen hatte.
Eine Gegenüberstellung von volkswirtschaftlichen Kosten und Nutzen der Privatisierung staatlicher Unternehmen war einmal die Prämisse. Über die beinahe als universelle Weisheit einer höheren Macht gepriesene These, daß private Unternehmen Güter kostengünstiger produzieren würden als staatliche, wurden wesentliche Elemente staatlicher Lenkungs- Regulierungmöglichkeiten aufgegeben. Private seien innovativer, könnten sich angeblich grundsätzlich schneller und besser auf Herausforderungen des Marktes einstellen. Doch der Anreiz, stärker als staatliche Unternehmen ihre Gewinne zu maximieren, führte zur Macht- und Kartellwirtschaft in den ehemals (national-)staatlich kontrollierten Bereichen, zur Übernahme sozialpolitischer Macht, zu Lohndumping und Lobbyismus international agierender Unternehmen.

Da in der Marktwirtschaft jedoch nur “rentable Güter” angeboten werden oder schnelle oder weniger schnelle Gewinnmitnahmen anstelle des “sozialen Gewissens” unternehmerische Entscheidungen prägen und Private darüberhinaus mit der Bereitstellung “öffentlicher Güter” – z.B. in Ballungsräumen – überfordert schienen, sprang der Staat mit seinen Steuergeldern wiederum oftmals in die Bresche. Die Mär von der alles regulierenden “sozialen” Marktwirtschaft wandelte sich binnen weniger Jahrzehnte im Nachkriegseuropa zur reinen Machtwirtschaft. Als Ergebnis sind der Verlust der von den Bürgern mit Steuergeldern aufgebauten Staatsunternehmen zu beklagen, die erst hüben, dann drüben verscherbelt wurden – hauptsächlich die gewinnträchtigen-, so wurden die möglichen Gewinne privatisiert, die Verluste bleiben verstaatlicht, die Arbeitnehmerrechte werden immer weiter an den Rand gedrängt, der Begriff Lohnsklaverei erhält eine neue euphemistische Zuspitzung: Werksverträge.

“Der Tag gehört euch ­ gestylt und adrett!
Die blitzenden Banken. Der Schritt zum Kredit.
Alles, was leuchtet und bunt ist und fett!
Der Tag gehört euch, ­ den nehmt ihr noch mit.”
aus: Die Schlafende Armut von Heinz Ratz(3)

Da haben es Funktionäre leicht, sich wiederwählen zu lassen.  Bloß keine kontroversen Themen anpacken, bloß nichts worüber sich die Bürger aufregen.
Alters-Armut und Rentendiskussion: Ach naja, noch geht´s ja. Katastrophale Energiewende-Pannen: Aktiv beschweigen, die Windräder drehen sich ja offshore schon, auch wenn keine Kabel liegen. Fracking: Bloss nicht drüber reden, wir fracken nach der Wahl außer in Wasserschutzgebieten… Die CSU-Amigo-Affaire: Aussitzen und weitermachen – wenn schon Verwandte beschäftigen, dann besser verschleiern und nicht erwischen lassen. ESM, Fiskalpakt und Euro-Krisenszenarium, Solidarität mit den abgehängten Regionen: Laßt uns doch mal über was anderes reden, ist eh kein deutsches Thema, sondern das von den ineffektiven Europäern 2. Klasse – Kroatien ist in der EU: Nun auch im Urlaub bei Lidl, Aldi und Penny KZ-Fleisch kaufen und Tafelwein aus Trauben der europäischen Union im Pappkarton, neben Hänchenteilen von Wiesenhof finden.

Und da das spätsommerliche Wetter auch noch ideal in die Botschaft passte: “Alles ist prima und mit uns wird alles super bleiben” kann beinahe nichts mehr schiefgehen.  Wie praktisch für die Strippenzieher, sich so gezielt von Wahl zu Wahl in den Ämtern bestätigen zu lassen. Die Rolle und die Entwicklung der Parteien hatte Rudi Dutschke schon 1967 auch für heute in unglaublich präziser weise beschrieben; unter anderem hätten jene sich nach 1945 entwickelt zu “Instrumenten um die bestehende Ordnung zu stabilisieren”
(siehe ab Min. 4:18)


Rudi Dutschke 1967 weiter: “Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar” aus: Zu Protokoll: Günter Gaus im Gespräch mit Rudi Dutschke(5)
.
Da heute im Jahr 2013 selbst das Angebot der antretenden politischen Interessenvertreter verwechselbar ist, man sich durchaus auch mit den Grünen darauf verlassen darf, dass die bisherige “Friedenspolitik” mit Nato- Atomwaffenstationierung in Deutschland inkl. der Auslandseinsätze weitergeht (2), bei der SPD die “Sozialpolitik” der CDU ihre Fortschreibung findet und die CDU koalieren kann, wie sie möchte, da bei keinem Alternativangebot nennenswerte “Wirtschaftsregulierung” zugunsten einer tatsächlich “sozialen” Marktwirtschaft propagiert wird, sondern die Macht unseres Staates auf dem Altar von ESM und Freihandelszonen von den üblichen 4 verdächtigen Parteien in Einigkeit und Freiheit -aber ohne Recht- gänzlich abgegeben, bzw. bewußt der “Wirtschaft” geopfert wird, geht es nur noch darum, wer aus dieser Jongliermasse von Köpfen und Beziehungsgeflechten an den staatlichen nationalen und Europäischen Geldtöpfen saugen darf. Politisch wird sich voraussichtlich nichts ändern, oder wenn nur in Nuancen.

So treiben die Parteien auf dem Meer der “machtwirtschaflichen” Unabänderlichkeiten, deren Grundlagen sie selbst geschaffen haben und Flickschustern sich ohne neuen Gesellschaftsentwurf von Wahl zu Wahl, während die Grundpfeiler demokratischer Staatsgebilde längst vom Morast privater Interessen verschlungen werden. Solange das so bleibt, keine neue “Utopie” entwickelt wird, die in der breiten Gesellschaft als erstrebenswertes Ziel diskutiert werden kann, bleibt dem Wähler bei den so genannten Etablierten nur die Wahl zwischen größeren und kleineren Übeln – und bei den kleineren Parteien, die mit mehr oder weniger guten Ansätzen.

Die Besinnung und die Erinnerung daran tut not, was im Rest Europas los ist, jedoch heute ausgeblendet wird: Der wirtschaftliche und soziale Absturz ganzer Länder ist in vollem Gange. Europas Ränder sind im Begriff zum Armenhaus zu werden. Wir können nicht so tun, alsob das alles nicht “unsere” Angelegenheit sei. Das Ausblenden dieses Absturzes ist nur ein Symptom der gelenkten Entpolitisierung, die uns gerne als unpolitisches Stimmvieh sehen möchte.

Ihr Reichen, ihr Schönen, ihr immer Gerechten,
ihr feiert euch selber voll Leidenschaft.
Aber hört ihr den Ruf aus den dreckigen Nächten?
Auch die schlafende Armut ­
Auch die Armut hat Kraft!
aus: Die Schlafende Armut von Heinz Ratz(3)

Eines ist sicher. Wer nicht wählen geht, bestätigt die jetztigen “etablierten” Parteien auf ihrem Weg, uns alles wegzunehmen, was uns einmal jenseits des reinen Materialismus wichtig erschien. Bis auf den Fernseher, vielleicht. Den können wir sicher behalten, egal wie groß er sein mag.


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