Paradigmenwechsel in der Verteidigungspolitik?

Von Stefan Sasse

File:USS John C. Stennis (CVN-74) & HMS Illustrious (R 06).jpg

HMS Illustrous im Persischen Golf

Seit über einem Jahrzehnt debattiert die EU nicht nur eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch eine verstärkte gesamteuropäische Aufrüstung, um dem Gewicht der EU als Zivilmacht auch einen angemessenen Stock beiseite stellen zu können, mit dem man auf der internationalen Bühne mehr Gewicht hat, sowohl gegenüber dem wichtigsten Verbündeten USA als auch den aufstrebenden Regionalmächten am Golf oder Indien und China. Bislang verliefen diese Debatten regelmäßig im Sand; der Verteidigungshaushalt der EU-Staaten liegt zwischen etwa 1,5% und 2,5%, während der der USA rund 4% beträgt. Offensichtlich ist niemandem ernsthaft daran gelegen, die vielfach geforderte Aufrüstung (die die USA bereits seit 2002 anmahnen) anzugehen oder an einer verstärkten Koordinierung der verschiedenen Armeen zu arbeiten. Ermöglicht wurde den EU-Staaten dies stets auch durch das Bündnis mit den USA, die im Schnitt rund den doppelten Anteil am BIP für die Verteidigung aufwenden und in Europa, Stand heute, über 80.000 Mann stationiert haben, fast 75% davon in Deutschland. Historisch war diese Stationierung das stete Bekenntnis der USA dazu, nicht wie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Isolationismus zu verfallen und ihr Engagement in Europa beizubehalten. Das könnte sich nun rapide ändern. 
Im November vergangenen Jahres hatte Obama bereits eine grundlegende Neuausrichtung der amerikanischen Verteidigungsbestrebungen auf den asiatisch-pazifischen Raum angekündigt. Da das US-Verteidigungsbudget gekürzt werden soll, werden diese Kürzungen die Präsenz in Europa betreffen, wo fast 50% der Truppen abgezogen werden sollen. Der Rückzug aus dem Irak und der absehbare Rückzug aus Afghanistan in den nächsten fünf Jahren machen die europäischen Basen unwichtiger, sofern nicht aus irgendeinem Grund doch noch ein bewaffneter Konflikt mit dem Iran ausbricht. Auf der anderen Seite hat die EU in der letzten Zeit mehr und mehr militärische Engagements begonnen, etwa am Horn von Afrika oder in Libyen. Da sie sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass die USA diese Einsätze leiten und substantiell unterstützen, muss sie entweder darauf verzichten oder ihre Möglichkeiten, solche Einsätze zu führen, aufstocken - und das geht letztlich nur über ein höheres Verteidigungsbudget und eine gemeinsame Koordinierungsebene, die losgelöst von den NATO-Strukturen ist. Großbritanniens und Frankreichs bilaterales Eingreifen in Libyen hat gezeigt, welche Mängel ein solches Vorgehen noch besitzt. 

File:ATF Dingo in German service (Afghanistan).jpg

Bundeswehrsoldaten in Afghanistan

Der Rückzug der USA aus Europa und die Umorientierung Washingtons nach Fernost könnte der Diskussion um eine gemeinsame EU-Außenpolitik einen ganz neuen Schwung geben. Ob das so gut ist, und ob die Aufrüstung insgesamt erstrebenswert ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Da die europäischen Staaten vermutlich nicht begeistert von diesen Kosten sein werden, ist anzunehmen dass die Professionalisierung der Armeen und ihre Konzentration auf out-of-area-Einsätze weiter forciert wird. Aktuell sind 50% des deutschen Verteidigungsbudgets Personalausgaben. Es liegt auf der Hand, dass mit einer solchen Verteilung kaum ein größeres Außenengagement finanziert werden kann. Die Schließung weiterer Standorte, Kreiswehrersatzämter und eine forcierte Verschlankung der Bundeswehrbürokratie dürfte eine zu erwartende Folge sein. Mit der alten Wehrpflichtigenarmee wird diese so entstehende neue Bundeswehr wenig zu tun haben. Eine deutsche Armee, deren Selbstverständnis die Fähigkeit zur Intervention anstatt der Landesverteidigung wird, hat für die deutsche Gesellschaft tiefgreifende Folgen. Wir können uns darauf einstellen, dass die Armee Institutionen wie dem Jugendoffizier mehr Raum geben wird, dass es verstärkt Werbung und Programme geben wird, mit denen einer Karriere bei den Streitkräften mit einer Qualifizierung für spätere Zivilberufe verbunden wird, um attraktiv besonders für junge, aufstiegswillige Menschen zu geben - ähnlich wie in den USA, wo der Eintritt in die Army für viele eine gute Möglichkeit ist, der Armut zu entkommen. 
Wenn die Armee solche Funktionen übernimmt, kann sie aber nicht wie bisher einer bestenfalls gelegentlichen öffentlich-demokratischen Kontrolle und einer Art von benign neglect überlassen werden. Die kaum ernstzunehmende Bundeswehr, bei der man als Mann eben ein Jahr voller Saufen und Geländespiele ableistet und die sonst eigentlich keine Rolle spielt, wäre passé. Um nicht falsch verstanden zu werden: eine solche professionelle Berufsarmee muss nicht negative Folgen für die Demokratie in Deutschland haben; Frankreich, Großbritannien und die USA haben schon seit Ewigkeiten Berufsarmeen, ohne dass das negativen Einfluss auf ihre demokratische Verfasstheit hätte. Das Selbstverständnis Deutschlands und der Deutschen aber würde sich ändern. Ob zum Guten oder zum Schlechten bliebe dabei abzuwarten. Eines aber dürfte klar sein: der Rückzug der USA aus Europa und ihre Hinwendung zum pazifischen Raum wird für Europa mehr Änderungen bedeuten, als uns lieb ist.

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