Özlem Sahin vs. Juana Pastrana – eine klassische Tragödie

Prolog
Tragödien kommen zustande, wenn sich Götter in das Leben der Menschen einmischen. Meist meinen es die Götter sogar gut und wollen ausgewählte Menschen belohnen. Aber dies geht immer schief und endet für den belohnten Menschen schlimm. Der Mensch, den die Götter diesmal belohen wollten, war Özlem Sahin. Die Götter gaben ihr die Chance um ihren WM-Titel, auf Erden heißt er International Boxing Federation Titel, boxen zu dürfen. Es kam wie es kommen musste, es kam zu einer Tragödie.
Die Bühne ist aufgebaut. Die Akteure sind bereit. Gleich ziehen wir den Vorhang zur Seite und wir schauen Özlem Sahin Tragödie.

Erster Akt
Madrid, Mittwoch, der 20. Juni 2018 – Tag der Ankunft
Die Minimumgewichtlerin Özlem Sahin (27 Kämpfe, 24 Siege, 8 durch KO, 2 Niederlagen, 1 Unentschieden) landete um 13:00 Uhr in Madrid. Sie kam nach Spanien, um den vakanten Titel der IBF im Minimumgewicht auszuboxen. Ihre Konkurrentin um den Titel war die Spanierin Juana Pastrana (14 Kämpfe, 13 Siege, 4 durch KO, 1 Niederlage). Der Veranstalter Alvaro Gil Casares, Reiseunternehmer und Sohn eines großen Spirituosenherstellers in Spanien, kam persönlich zum Flughafen, um Sahin, ihren Trainer Sebastian Tlatlik und zwei weitere Mitglieder des Teams Sahin in Empfang zu nehmen und zum Hotel zu fahren.
Das Hotel einer Internationalen Hotelkette lag in einem Gewerbegebiet, verkehrstechnisch gut, unweit der Halle, in der der WM-Kampf später stattfinden sollte. Eine Ausfallstraße war nur einen Steinwurf entfernt und rings herum fanden sich Autohäuser, Autowerkstätten und andere Betriebe und Büros.
Nun begann das große Warten. Abwechslung boten die Ankunft weiterer Teammitglieder, das Essen (Sahin aß ein wenig Kalbfleisch mit Soße) und eine Minitrainingseinheit. Im untersten Deck der Tiefgarage des Hotels gingen Tlatlik und Sahin einmal kurz die Taktik für den Kampf durch. Den Schlusspunkt setzte ein Spaziergang. Bettruhe war um 23:00 Uhr.

Zweiter Akt
Madrid, Donnerstag, der 21. Juni 2018 -Tag der Waage
Der Tag begann mit einem langen gemeinsamen Frühstück des Teams. Sahin wirkte immer noch entspannt und gelöst. Sie aß Bananen und trank schwarzen Tee im Glas. Nach dem Frühstück machte sie einen zweistündigen Spaziergang. Anschließend zog sie sich auf ihr Zimmer zurück. Um 16 Uhr kamen die Delegierten des spanischen Verbandes ins Hotel. Sahin nutzte die Gelegenheit, um kurz auf die Waage zu steigen. Bis dahin gab es immer noch den Rest an Ungewissheit: Zeigt die eigene Waage das gleiche an wie die offizielle Waage?
Das offizielle Wiegen fand um 17:00 in einem Kellerraum im Hotel statt. Es war sehr voll. Pastrana saß mit einem Teil ihres Teams auf Tischen in dem Kellerraum, als Sahin, eine Flasche Wasser trinkend, mit einem Teil ihres Teams den Raum betrat. Pastrana reagierte darauf nicht sehr entspannt.
Die Prozedur dauerte lange, weil erst die Vorkämpfer gewogen wurden. Dann stieg Sahin auf die Waage, 47,2 KG, schließlich Pastrana, 47,5. Die leerte praktisch noch auf der Waage eine Flasche mit einem blauen isotonischen Getränk. Nachdem beide unter dem Gewichtslimit geblieben waren, folgten Photos für die Presse, ein Showwiegen vor der Sponsorenwand auf Teppichboden für den Internetfernsehsender und Interviews. Dort antwortete Sahin auf die Frage, was sie von ihrer Gegnerin halte: „Sie ist eine Gegnerin wie jede andere. Wie gut sie als Boxerin ist, kann ich erst nach dem Kampf sagen.“
Das anschließende Rulesmeeting dauerte über eine dreiviertel Stunde. Hiernach fuhr das gesamte Team Sahin zu einer Shopping Mall, wo sie alle in einem Burger Restaurant aßen. Danach saß man noch in einem Cafe zusammen. Hier hielt Sahin eine kurze bewegte und sehr bewegende Rede, in der sie sich für die Arbeit, Mühe und Zeit ihrer Teammitglieder bedankte. Man verbrachte die restliche Zeit in der Hotellobby. Sahin ging um 23:30 auf ihr Zimmer.

Dritter Akt
Madrid, Freitag, der 22. Juni 2018 in Madrid – Tag des Kampfes
Um 09:30 gab es das Nachwiegen der IBF im Kellerraum. Sahin wog nun 48,2 Kg und Pastrana 51,8 Kg. Özlem Sahin fuhr mit einem Teil ihres Teams zu einem nahe gelegenen Großsupermarkt, um dort in einem der Cafes zu frühstücken. Sie wirkte sichtlich angespannter als an den vorangegangenen Tage. Auch als sie im Internet den Vorbericht zum Kampf mit dem Titel: „Las provocaciones de Sahin a Pastrana antes del Mundial“ (Die Provokationen von Sahin zu Pastrana vor der WM) sah, besserte sich ihre Laune nicht.


Sahin ging mit ganz wenigen Begleitern bis 15:00 in einer großen klimatisierten Shopping Mall spazieren, wo sie auch aß. Die Aufenthalte in den Tempeln des Konsums waren bei einer Außentemperatur von 30 bis 35 Grad die einzige Option. Hiernach zog sich Sahin auf ihr Zimmer zurück und schlief ein paar Stunden. Um 21:00 wurden sie und ihre Ecke vom Fahrdienst des Veranstalters abgeholt und zum Veranstaltungsort, dem Polideportivo Jose Caballero Alcobendas, gebracht. Dies ist ein Sportzentrum mit vielen verschieden Sportplätzen und Sporthallen. Die Boxveranstaltung fand in einer Multifunktionshalle statt, in der sonst wohl hauptsächlich Roll Hockey gespielt wird. Es waren, vom Veranstalter sehr großzügig geschätzte, 2.000 Zuschauer da.
Während Sahin sich in ihrer Kabine umzog und vorbereitete, lief noch das Vorprogramm. Es gab fünf Amateurkämpfe und vier Profiboxkämpfe zu sehen. Bei den Profis kamen die Gewinner (Juan Hinostroza, Alex Rat, Angel Moreno und David Gonzalez) alle aus der roten Ecke, also der Ecke von Pastrana. Der letzte von ihnen, der Weltergewichtler David Gonzalez (6 Kämpfe, 4 Siege, 2 Niederlagen), wurde von seinem Gegner Carlos Cuesta (3 Kämpfe, 1 Sieg, 1 durch KO, 2 Niederlagen) drei von vier Runden lang regelrecht verprügelt.
Unterdessen gab es Ärger in den Kabinen. Der italienische Supervisor war unzufrieden mit den Bandagen. Er ließ alle wieder aufschneiden, verwies den beaufsichtigenden polnischen Ringrichter Grzegorz Molenda der Kabinen und schickte ihn in die Halle zurück. Dann mussten beide Ecken nacheinander auf dem Gang vor den Kabinen die Hände neu machen.
Sahin ging um 23:30 zum Ring. Ihre Einmarschmusik, die als CD abgegeben worden war, wurde nicht gespielt. Dafür spielte man die erste Strophe des Deutschlandlieds („Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt … Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“). Bei der zweiten Strophe wurde nach „Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang“ ausgeblendet.

Vierter Akt
Madrid, Freitag, der 22. Juni 2018 – der Kampf

Sahin besetzte von Anfang an die Ringmitte und ging vorwärts in Pastrana rein. Diese versuchte ihren Reichweitenvorteil zu nutzen, indem sie viel die Führhand schlug. Sahin ging nach vorne und kam immer wieder mit der Rechten zum Kopf durch. Pastrana konnte sie nur selten abkontern. Die wenigen Schlagabtäusche gingen eindeutig an Sahin. Pastrana schlug sehr hart auf die kompakte Deckung von Sahin.
Zu Anfang der zweiten Runde kam Pastrana zweimal schön zum Körper durch. Am Ende der Runde brachte ein Schlag hinter das rechte Ohr Sahin aus der Balance. Pastrana kam dadurch anschließend mit einer Rechten zum Kopf durch.
In den folgenden zwei Runden trug Sahin Pastrana immer wieder den Kampf und kam immer wieder mit Kombinationen durch. In Runde vier wurde Pastranas Hinterkopfschlagen abgemahnt.
In der fünften Runde war Pastrana vor allem damit beschäftigt, wegzulaufen und Schwinger zu schlagen. Kurios war, dass Sahin das Signalklopfen für die letzten zehn Sekunden für den Rundengong hielt. In der sechsten und siebten Runde schlug Pastrana mehr, aber erhöhte dadurch dadurch nicht ihre Trefferzahl. Die dann folgende Runde wurde intensiv geführt. Beide Boxerinnen erhöhten das Tempo und suchten nach dem entscheidenden Schlag.
In den letzten beiden Runden erhöhte Sahin immer weiter den Druck. Pastrana hatte immer größer werdende Probleme, nicht KO zu gehen. In der letzten Runde nahm Pastrana Schlag um Schlag: Sie ging zwar vor Erschöpfung zu Boden, aber der Ringrichter wertete dies als Nierenschlag.

(Der Kampf fängt bei 2:05:00 an.)

Fünfter Akt – Samstag, der 23. Juni 2018 in Madrid
Hier nun haben wir den klassichen Konflikt, den die sterblichen Menschen nicht lösen können: Auf der einen Seite haben wir eine Boxerin aus dem Ausland, die den Kampf bestimmt und mehr Treffer ins Ziel bringt. Auf der anderen Seite haben wir die einheimische Boxerin, die beim einheimischen Veranstalter unter Vertrag ist und deren Kampf von der Internetseite der sehr großen Sporttageszeitung AS übertragen wird. Zehn Runden lang läuft sie weg und trifft zumeist nur die Deckung. Wer soll nun die neue Weltmeisterin der IBF im Minimumgewicht werden?
Bei einer klassischen griechischen Tragödie kommt aus den Bühnenboden ein Deus ex Machina, also es taucht eine Gottheit mit Hilfe der Bühnenmaschinerie auf und löst den Konflikt. Da es sich hier aber um eine spanische Tragödie handelte, kam kein Gott aus dem Bühnenboden und der Ringsprecher verkündete das Urteil: Punktsieg durch Mehrheitsentscheidung (97-93, 95-95, 96-94) für Juana Pastrana.
Die Halle tobte vor Freude.
Sahin brauchte eineinhalb Stunden für die Dopingkontrolle.
Der italienische Supervisor – die Offziellen wohnten im selben Hotel wie Team Sahin – erklärte in der Hotellobby sybellinisch. „Ein Kampf entscheidet sich im Ring.“

Epilog
Man kann wieder einmal feststellen, dass in allen Ländern und bei allen Verbänden Boxerinnen und Boxer um ihre verdienten Siege gebrachte werden. Ja, das werden sie. Aber jede dieser Fehlentscheidungen ist eine Tragödie, eine persönliche Tragödie für die betroffene Sportlerin oder den betroffenen Sportler. Sie haben sich schließlich wochen- und monatelang auf den Kampf vorbereitet. Sie haben Jahre lang auf dieses eine Ziel hin gearbeitet und dann fällt die Entscheidung eben nicht im Ring. Das ist eine Tragödie. Es ist aber auch eine Tragödie für den Sport.
(C) Uwe Betker


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