Otto Hirsch ✡ Ein stiller Kämpfer seiner Zeit

Otto Hirsch war ein typischer Vertreter des deutschten Judentums seiner Zeit, assimiliert, aber sich seines jüdischen Glaubens und dessen Tradition bewusst und doch ein patriotischer Deutscher, eher konservativ als progressiv. Am 9. Januar Otto Hirsch1885 in Stuttgart geboren, wuchs er im wohlhabenden Mittelstand seiner bereits schon voll assimilierten Großhändlerfamilie auf, und studierte, nach sehr erfolgreichem Abitur, an den Universitäten in Heidelberg, Leipzig, Berlin und Tübingen Rechtwissenschaften. In dieser Zeit des Studiums schuf er sich bereits ein Netzwerk für die spätere berufliche Laufbahn, weit über die Fakultäten der Rechtswissenschaft hinaus. 1903 unterbrach er sein Studium, um seinen Wehrdienst zu absolvieren, aber auch um der Zeit gemäß Uniformträger gewesen zu sein. Zwar war es ihm als Jude nicht möglich zum Reserveoffizier aufzusteigen, doch hatte er auch hier sich eine positive Reputation erarbeitet, die dies nicht zum Nachteil für ihn gereichte. Er war kein leidenschaftlicher Redner, eher ein Mann des schriftlichen, genauen Wortes und so war es nur folgerichtig, dass er nach erfolgreichem Studium und dem Abschluss des zweiten Staatsexamens, in die Verwaltung ging. 1912 trat er seine erste Stelle als Ratsassessor in der Stadtverwaltung Stuttgart an. Zwei Jahre später heiratete er Martha Loeb, mit der er eine Familie gründete, die seiner jüdischen Tradition entsprach, doch tief verwurzelt im deutschen Wertesystem der damaligen Kaiserzeit. Da er als Rechtsrat in Stuttgart das Kriegsleistungswesen leitet, zu dem er auch einen Gesetzeskommentar verfasste, wird er im Ersten Weltkrieg für unabkömmlich erklärt und wird nicht zum Kriegsdienst eingezogen. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er an der Verfassung der Weimarer Republik mit, die Artikel 97 bis 100 gehen weitgehenst auf ihn zurück, Thema sind die Wasserstraßen des Reichs. In Hinsicht auf Wasserversorgung und Logistik der Wasserstraßen, galt Otto Hirsch zu dieser Zeit als der verwaltungstechnische Fachmann in Deutschland. 1921 wird er zum ersten Vorstandsmitglied der Neckar AG berufen wird, die den Bau des Neckarkanals betreibt, für diese Zeit wird er vom Staatsdienst beurlaubt. Im Jahr 1926 beantragt er, nachdem die Finanzierung des Projektes gesichert ist, seine Entlassung aus dem württembergischen Staatsdienst.

Im gleichen Jahr, also 1926, geht er ganz andere Wege. Er wendet sich seinem inneren Lieblingsprojekt zu, der Begegnung aller jüdischen Richtungen und dem Austausch von Juden und Christen. Im Gegensatz zu vielen deutschen Juden lehnt Otto Hirsch den Gedanken des Zionismus nicht ab, dieser Traum von einem Staat für jüdische Menschen lässt eine Seite in ihm anklingen, die ihn sehr bewegt. Doch er wäre nicht er selbst, wenn er dahingehend nicht auch andere Schlüsse ziehen würde, als die junge Zionistenbewegung, die sich gerade erst in Deutschland und Europa zu etablieren beginnt. Otto Hirsch sieht bei sich selbst, seinen Kindern und in vielen jüdischen Familien ein Manko, das der intellektuellen Ausbildung. Ihm ist klar, dass ein junges Land tatkräftige und bodenständige Menschen braucht, die anpacken können und auch Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbringen, die so manch Intellektuellem nicht in die ‚Wiege’ gelegt wurde, zu dem sollten alle eine gemeinsame Sprache sprechen, denn er dachte dahingehend über Deutschland weit hinaus. Gemeinsam mit dem Fabrikanten Leopold Marx und dem Musikwissenschaftler Karl Adler gründet er das ‚Stuttgarter jüdische Lehrhaus’, in welchem nach dem Vorbild des ‚Frankfurter Lehrhauses’ assimilierte und orthodoxe Juden gemeinsam lernen sollen. Großer Wert wird auch auf den hebräischen Sprachunterricht gelegt; das Haus dient auch als Austauschstätte zwischen Juden und Christen. Seit 1930 ist Hirsch Präsident des ‚Oberrats der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs’, vier Jahre später übernimmt er zudem die Geschäftsleitung der ‚Reichsvertretung der deutschen Juden’. Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten glaubte der ‚deutsche Verwaltungsbeamte’ Otto Hirsch, der er im tiefsten Inneren war ein deutscher Beamter war, an Recht und Gesetz. Ihm war zwar klar, dass sich die Repressalien auf die Juden verstärken würden, doch sein Vertrauen in die zivile Gesellschaft war (noch) groß. Er rief die Juden Deutschlands öffentlich zur Einigkeit auf, und erinnerte die nationalsozialistische Führung, ebenso öffentlich, an die bestehenden Gesetze und das völlig reibungslose Zusammenleben von Juden und Deutschen in den letzten Jahrzehnten. Dass seine Aufrufe und öffentlichen Stellungnahmen wenig Eindruck bei der NS-Führung hinterließ, Buchtitel Reichsvereinigung der Judenist aus heutiger Sicht nachvollziehbar, doch für Otto Hirsch, den tief verwurzelten Deutschen, war es zu der Zeit undenkbar, dass an den elementarsten Gesetzen des Landes und ihrer gesellschaftlichen Werte stark gerüttelt werden könnte. Weite Teile der deutschen Juden, vor allen Dingen Ältere, gingen dahingehend mit ihm konform. Aber es gab auch Stimmen, die ihm vorwarfen, er würde sich dem System der Nationalsozialisten anbiedern. Doch in den nächsten Jahren lag sein Hauptaugenmerk in der Hilfe zu Auswanderung, hier arbeitete er mit allen nationalen und internationalen Stellen zusammen, um so vielen Juden wie möglich Pässe und Visa zu beschaffen, je weiter die Jahre im nationalsozialistischen System und die Bedrängnis der Juden voranschritt, desto häufiger griff er auch zu gefälschten Unterlagen zurück. Doch er verlor bei all der Arbeit nicht aus dem Auge, dass Sprachkurse und das Erlernen praktischer Berufe ein Rüstzeug für die neue ‚Heimat’ sind, denn er unterstützte ganz besonders die Juden, die nach Palästina auswandern wollten. Vom 6. Juli 1938 bis zum 15. Juli 1938 nahm Otto Hirsch an der Konferenz von Évian teil, die auf Initiative des Präsidenten der USA im französischen Évian-les-Bains am Genfersee stattfand. Roosevelt hatte zu dieser Konferenz die Staaten der Welt eingeladen, um die bedrohten Juden aus Deutschland und Österreich aufzunehmen. Auch hier arbeitete Otto Hirsch im Hintergrund, den Teilnehmern den ernst der Lage der Juden im deutschen Reich darzustellen und um an gültige Visa zu kommen. Dass sich die Weltgemeinschaft nicht wirklich auf eine Erhöhung der Einwanderungskontingente für Juden einigen konnte, zeigt, dass diese als gescheitert anzusehen war. Doch Otto Hirsch selbst ging mit einigen Zusagen für Visa zurück nach Berlin. Die Lage der verbliebenen Juden verschlechterte sich immer mehr und die antisemitische Propaganda steigerte sich bis zur Eskalation im November 1938, der Reichspogromnacht. Im Juli 1939 wird die ‚Reichsvertretung der deutschen Juden’ in der alten Form aufgelöst. An ihre Stelle tritt eine ‚Reichsvereinigung’, die direkt der Gestapo unterstellt ist, und in der die Mitgliedschaft für alle noch in Deutschland lebende Juden Pflicht ist. Federführend ist nun auch Otto Hirsch an den Plänen Heydrichs und Eichmann beteiligt, dem sogenannten Madagaskarplan. Dieser sah vor, vier Millionen europäischer Juden auf die französische Inselkolonie Madagaskar zu deportieren. Zu diesem Plan veröffentlichte Hirsch eine Denkschrift, die zu hitzigen Diskussionen unter den deutschen Juden führte und ihm auch wieder der Vorwurf gemacht wurde, zu eng und zu willfährig mit den NS-Behörden zusammen zu arbeiten. Dass er in der Denkschrift erklärte, dass er eine Auswanderung der Juden nach Palästina präferierte, ging dabei unter. Ob der Madagaskarplan nur eine Augenwischerei der NS-Behörden war oder wirklich als Alternative gesehen wurde, muss hier dahingestellt bleiben. Die Situation der Juden im gesamten Reich verschlechterte sich zusehends und mit Beginn des Zweiten Weltkriegs war ihnen jegliche Ausreise verboten. Dem Sohn und den beiden Töchtern Otto Hirschs gelang 1940 die Flucht aus Deutschland; alle drei überlebten die Zeit des Holocaust.
Eingang KZ MauthausenEnde 1940, beziehungsweise Anfang 1941 kam es zu ersten Deportationen deutscher Juden, die Saarpfalz und Baden sollten als erste ‚judenfrei’ werden und galten aus Sicht der Nationalsozialisten als ‚Versuchsballon’, um die Reaktion der Bevölkerung auf die Deportation zu beobachten. Die Badener und Saarpfälzer Juden wurden in französische Auffanglager zusammengefasst, um später in die Vernichtungslager im Osten deportiert zu werden. Nach dieser Deportation erhoben fast alle führenden Mitglieder jüdischer Organisationen öffentlich Protest, in allen jüdischen Kultusgemeinden wurde davon berichtet und dem öffentlichen Protest schloss sich ein Fastentag aller Juden an, auch wurden im gesamten Reich alle jüdischen Kulturveranstaltungen für eine Woche abgesagt. Otto Hirsch beließ es nicht nur bei einem öffentlichen Protest, er legte eine schriftliche Beschwerde beim Reichssicherheitshauptamt ein und drang darauf, dass diese Heydrich zugänglich gemacht wurde. Kurz darauf wurde eine der wichtigsten Personen der ‚Reichsvereinigung der Juden’, der Rechtsanwalt Julius Seligsohn verhaftet, in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht, wo er nach ganz kurzer Zeit verstarb. Dies sollte eine Warnung an Otto Hirsch sein, denn noch wollten die Nationalsozialisten nicht auf den vordergründig kompromissbereiten Mann verzichten. Doch Otto Hirsch arbeitete weiter, um das Leid der Menschen zu mildern, da es nun keine legalen Wege der Auswanderung mehr gab, versuchte er Fluchtwege zu initiieren. Immer häufiger stellte er sich den Forderung der Dienstelle Eichmanns in den Weg, in dem er prinzipiell auf die Gesetze pochte und so die Umsetzung verzögerte oder kurzzeitig stoppte. In dieser Zeit konnten Warnungen an die Gemeinden gegeben werden, was die Arbeit der S-Hedelfingen-Otto-HirschGestapo erschwerte. Im Februar 1941 wurde Otto Hirsch verhaftet und ins Konzentrationslager Mauthausen verbracht. Wenige Monate später, am 19. Juni 1941 verstarb Otto Hirsch, als Todesursache wurde ‚Colitis ulcerosa’ in der entsprechenden Karteikarte angegeben.
Seine Frau Martha wurde im Oktober 1942 verschleppt und gilt als verschollen.

In Stuttgart erinnern die Otto-Hirsch-Brücken im Stadtteil Hedelfingen an den ‚Held ohne Schwert’, als den ihn sein Freund Leopold Marx 1941 in einem Gedicht ehrt.

Weiterlesen:

➼ Die Konferenz von Évian • Ein Scheitern der Welt

➼ Madagaskar • Plan zur Deportation europäischer Juden

➼ Das Konzentrationslager Mauthausen · Eine Einleitung

➼ Die Leiden der Menschen im Konzentrationslager Mauthausen


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