In seinem (bereits 2008 erschienen) Buch schreibt er mit spürbaren Herzblut gegen den sozialen Zerfall unserer Gesellschaft an.
Leider hat sich in der Zeit seit Erscheinen des Buches nichts im Sinne des Buches verändert. Im Gegenteil ist die schwarz-gelbe Regierung dabei, die letzten Reste dessen, was als “Sozialstaat” bekannt war, zu zerschlagen. Schreiner macht jedoch keinen Hehl daraus (anders als aktuell Gabriel), dass es die eigene Partei war, die – in Zusammenarbeit mit den Grünen – diese Zerschlagungspolitik begann. Das Zerreißen des Sozialnetzes hat das Wort “Reform” seitdem dermaßen in Misskredit geführt, dass es heute nicht mehr bedeutet, was es einmal meinte: das vorsichtige Ändern zum Besseren bestehender Verhältnisse. Reform heute macht nur noch Angst. Nimmt heut ein Politiker – egal welcher Partei er angehört – das Wort “Reform in den Mund, halten die Bürger dieses Landes ihr Portemonnaie fest.
Schreiner zeigt an drei ausgewählten Bereichen auf, wie der Sozialstaat auf Forderung mächtiger Lobbygruppen abgebaut wurde und wie dies parallel medial so begleitet wurde, dass es zu einem permanenten Angstzustand in der Gesellschaft kam. Das zu lesen ist nicht neu; aber es ist erschreckend.
Hartz IV und die Folgen
Wie krass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland mittlerweile auseinandergeht, zeigt ein plastisches Beispiel: Die 50 reichsten Deutschen haben ihr Vermögen im letzten Jahr um 50 Milliarden Euro vermehren können. Von dieser Summe müssten sich die knapp zwei Millionen Kinder, die von Hartz IV leben müssen [...] über 30 Jahre lang ernähren. (Seite 52)
Mit Beispielen wie diesem macht Schreiner deutlich, dass Deutschland seinen (aktuellen) wirtschaftlichen Aufschwung vor allem auch der Tatsache dankt, dass eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung immer mehr an und unter die Armutsgrenze gedrückt wird, während es einige Wenigen – dafür und deshalb aber Mächtigen – gelingt, daraus Profit zu schlagen.
Das gesamte Buch ist eine Anklage gegen den Verlust der Solidarität in der Solidargemeinschaft. Schreiner zeigt anhand nachprüfbarer Zahlen auf, dass Deutschland – entgegen anderslautender medialer Beteuerungen – im europäischen Durchschnitt am unteren Ende der sozialen Fürsorge steht.
Deutlich wird, dass die Einführung von Hartz IV die Grundlagen der Solidargemeinschaft nicht nur erschütterten, sondern zerstörten. Schreiner geht davon aus, dass es der Mittelstand ist, der eine Gesellschaft trägt. Und da durch den inzwischen kleinen Schritt von Mittelschicht zur Unterschicht eine permanente Angst die Menschen prägt.
Insofern scheint mir das wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: je ängstlicher die Menschen an ihrem Lebensstandart festhalten, desto unsolidarischer werden sie gegenüber denen, die wie sie ums Überleben kämpfen. Welche Auswirkungen das haben kann zeigt sich aktuell darin, dass derzeit die Lokführer um höhere Löhne streiten – und das “Bodenpersonal” dabei unsolidarisch allein lassen. Für deren minderbezahlten Jobs findet sich im Heer der Arbeitslosen immer Ersatz; für ausgebildete Lokführer nicht.
Bildung
Ein zweites Feld, aufzuzeigen, dass Deutschland sich tatsächlich abschafft – aber anders als es Herr S. meint – zeigt der Autor am Beispiel der Bildung. Es wurde so viel über das Thema geschrieben und gesprochen: in Deutschland ist es wichtiger, was die Eltern “sind” als was die Kinder können. Konsequenzen daraus? Gibt es nicht.
Schreiner weist nach, dass es neoliberales Denken und Handeln ist, dass die Unternehmen davon abhält, sich qualifizierten Nachwuchs auszubilden. Denn das kostet. Diese Aufgabe wird auf den Staat abgewälzt, der damit deshalb überfordert ist, weil er weder Konzepte noch Ideen hat.
Unser Bildungssystem ist weit davon entfernt, den Anforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Die notwendigen Voraussetzungen für ein erfolgreiches Bestehen auf dem Arbeitsmarkt haben sich im Zuge des Strukturwandels und der Globalisierung des Wettbewerbs so weit von der Leistungsfähigkeit unserer Schulen entfernt, dass deren Grenzen deutlich erkennbar geworden sind. (Seite 134)
Renten
Als dritten Punkt spricht Ottmar Schreiner den Zusammenbruch des Rentensystems an. Und ich gebe zu: hier wird es mir einfach übel. Denn wenn sich die Entwicklung so fortsetzt, werde ich der Generation angehören, die zwar ein ganzes Arbeitsleben lang in die Rentenkassen eingezahlt haben, deren Rente aber möglicherweise unter dem Sozialhilfeniveau liegen wird.
Warum das so ist: das erklärt Schreiner ausführlich und mit Deutlichkeit. Er zeigt auf, dass es eine neoliberale Lüge ist, wenn davon gesprochen wird, dass die Rente deshalb unsicher ist, weil die Bevölkerung älter wird. Der wahre Grund dafür ist, dass durch die mit der Hartz IV-Reform eingeführten prekären Arbeitsverhältnisse, für die keine Sozialabgaben gezahlt werden, das Rentensystem an der Wurzel erschüttern. Und: je höher das Einkommen, desto (im Verhältnis) niedriger ist die Rente. Das ist die Aufhebung des solidarischen Gedankens im Rentensystem. Das ist die Ursache dafür, dass immer weniger Arbeitnehmer immer geringere Summen in die Kassen einzahlen.
Fazit
Wie gesagt: es ist das alles nicht unbedingt neu, was Schreiner in seinem Buch beschreibt. Aber in der Geballtheit schon erschreckend und aufrüttelnd.
Doch er hält sich nicht nur mit Kritik auf; Schreiner macht Vorschläge zur Änderung des Systems. Diese sind klar sozialdemokratisch – also keine Änderung des Wirtschaftssystemes. Aber er fordert eine “Vermenschlichung” der Gesellschaft.
Interessant sind seine Gedanken zur innereuropäischen Struktur. Damit beschäftigt er sich im letzten Kapitel des Buches. Und das sind wirklich neue Ideen – und neue Zusammenhänge – die er beschreibt. Ich muss es zugeben: auch ich sehe in der EU nur eine unbewegliche Bürokratie, die sich über den Krümmungsgrad von Bananen und Gurken unterhält… ich sah bisher nicht die Chancen die beispielsweise darin liegen, dass sich europäische Gewerkschaften auf einen sozialen Mindeststandart einigen um Lohndumping innerhalb der EU auszuschließen.
Diese müssten im Bereich der Beschäftigungsbedinungen sowie im Arbeits- und Gesundheitsschutz ausgeweitet und auch auf Sozialleistungen angewendet werden. (Seite 217)
Alles in Allem: ein lesenswertes Buch, das den Leser entweder deprimiert zurück oder aber kämpferisch werden lässt. Es ist – denk ich – klar, was es in mir auslöste.
Nic
Der Autor ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen und Mitglied im SPD-Parteivorstand. Er hat eine eigene Webseite.
Ottmar Schreiner: Die Gerechtigkeitslücke, Wie die Politik die Gesellschaft spaltet; Propyläen 2008, ISBN 978-3549073490; eventuell noch neu erhältlich, ansonsten antiquarisch