WEIMAR. (fgw) William Shakespeares Trauerspiel “Othello, der Mohr von Venedig” um das Liebespaar Othello und Desdemona und das personifizierte Böse, den intriganten Jago, dürfte wohl zumindest dem Namen nach fast jeder erwachsene Deutsche kennen. Shakespeare bezog sich in seinem Eifersuchtsdrama auf eine Novelle von Giraldi Cintio. Und nun hat ihrerseits Silvia Stolzenburg diesen Stoff ebenfalls aufgegriffen. Statt eines Bühnenstückes schrieb sie aber einen historischen Roman unter dem Titel “Töchter der Lagune”.
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Hierin ist nicht Othello der Held, dieser kommt auch namentlich nicht vor. Stattdessen stülpte sie der Figur den Charakter eines historisch verbürgten Vizegouverneurs von Famagusta, Christoforo Moro, über. Wenngleich dieser in einer anderen, einer früheren, Zeit lebte. Doch dieses “Moro” steht sinnbildlich passend für den “Mohr von Venedig”.
Auch wenn Silvia Stolzenburgs Version des Stoffes sehr frei erzählt ist und zum Teil sehr stark von der Shakespeare-Variante abweicht, soll auf eine kurze Inhaltsangabe des Handlungsstranges verzichtet werden. Denn in den Grundzügen dürfte dieses Eifersuchtsdrama allgemein bekannt sein.
Helden dieses Romans, besser Heldinnen, sind drei junge Frauen aus Venedig: Desdemona, ihre jüngere Schwester Angelina sowie Elissa, die Tochter eines Kaufmanns. Letztere kommen bei Shakespeare nicht vor, geben der Autorin jedoch die Gelegenheit, Nebenstränge in der Geschichte zu eröffnen. Gerade diese Nebenstränge um das Liebespaar Angelina und Francesco sowie um das ungleiche Paar Elissa und Selim II. stellen die Verbindung zum Weltgeschehen her. Die bei Shakespeare von Raum und Zeit mehr oder weniger isolierte, und doch eher private, Handlung wird nun eingebettet in die reale Geschichte. Daher bilden neben der Festung Famagusta auch das osmanische Feldlager vor eben dieser sowie der Topkapi-Palast von Sultan Selim II. in Istanbul weitere Schauplätze.
Man schreibt die Jahre 1570/71. Die osmanischen Türken, die bereits fast den gesamten Osten und Süden des Mittelmeeres unter ihre Kontrolle gebracht haben, schicken sich an, nun auch die letzte strategisch wichtige Festung Famagusta auf Zypern zu erobern.
Desdemonas jüngere Schwester Angelina hatte sich in Venedig in einen jungen Offizier Moros verliebt, dieser in sie. Heimlich schleicht sich Angelina an Bord des nach Zypern segelnden Schiffes. Auch sie setzt sich der Liebe wegen über den Willen ihres Vaters hinweg und rebelliert so gegen die moralischen Konventionen ihrer Zeit. Angelina wird zwar entdeckt, doch sie darf auf Zypern bleiben und schließlich mit Zustimmung von Schwester und Schwager dort sogar heiraten. Aber die Zeiten sind nicht für Liebes- und Eheglück bestimmt. Und so steht ihr beider Schicksal unter keinem guten Stern, zumal Federico bald danach in die Hände des osmanischen Belagerungsheeres fällt…
Ganz anders sieht es mit dem Erzählstrang um Elissa aus. Diese wird während einer Seereise rund um Italien von Piraten gefangen genommen und als Sklavin ins Osmanische Reich verkauft. Doch ihr Schicksal gestaltet sich widersprüchlich. Zwar wird sie Sklavin, doch der lüsterne und weinsüchtige Sultan Selim giert nach einem neuen und vor allem blonden Sexobjekt. So gelangt Elissa in den Topkapi-Palast und wird dort wider ihren Willen die bevorzugte Bettgenossin des Sultans. Die Umstände bringen es mit sich, daß sie schwanger wird, und daß der verweichlichte Sultan doch noch höchstselbst in den Krieg nach Zypern ziehen muß; Elissa und deren Freundin und Zofe in seiner Begleitung. Hier sinnen die beiden Frauen auf Flucht, hier kreuzen sich ihre Wege mit Angelinas Mann Francesco.
Wie nun diese beiden Erzählstränge weiter verlaufen, das soll nicht verraten werden, man lasse sich einfach mal überraschen.
Silvia Stolzenburgs Variante des Othello-Stoffes verleiht dem Geschehen, im Vergleich mit der allseits bekannten Bühnenfassung von Shakespeare, epische Breite und Tiefe. Die einzelnen Charaktere können (und werden es auch) differenzierter und auch blutvoller gezeichnet werden.
Die Zeit des letzten Drittels des 16. Jahrhunderts kommt durch die drei (inclusive Venedigs zu Beginn sogar vier) Schauplätze plastischer und realistisch in den Blick des Lesers. Deutlich wird das auch durch die immer wieder deutlich werdenden Lebensalter der drei Heldinnen. Sie sind junge Teenager – und nicht wie auf dem Theater üblich alterslose Frauen, die durch eher ältliche Aktricen dargestellt werden.
Die Autorin idealisiert keinen Charakter, verzeichnet auch keinen simplifizierend, sondern läßt jeden in seiner Zeit agieren. Religiöse Dogmen und Praktiken beider Seiten, Katholizismus hier, Islam dort, werden nicht aus heutiger Sicht be- oder gewertet.
Deutlich wird aber auch, warum sich seinerzeit das Osmanische Reich so rasant und ohne größere Widerstände zu einem Weltreich entwickeln konnte: dafür stehen nicht nur einheitliches Handeln der muslimischen Krieger, nicht nur ihre überlegene Militärtechnik und Strategie und Taktik, sondern nicht zuletzt das Verhalten gegenüber der Bevölkerung in den eroberten Gebieten. Auch wenn zeitbedingt grausames und grausamstes Foltern und Strafen bei den Osmanen nicht minder üblich waren als im christlichen Europa, so waren sie doch klüger und weitblickender als beispielsweise die christlichen Kreuzzügler im “Heiligen Land” oder die Konquistadoren bei der Eroberung der Neuen Welt:
“Sie [die Osmanen; SRK] konnten es sich nicht leisten, den Groll oder gar Hass der Bevölkerung auf sich zu ziehen (…) Zudem hatte er ausdrücklich untersagt, die Frauen der Stadt in irgendeiner Art und Weise zu belästigen. Vergewaltigungen und Schändungen würden durch Vollkastration geahndet (…) Plünderungen oder Überfälle auf Privathäuser, Moscheen oder Kirchen würden mit dem Abhacken einer oder beider Hände belohnt, je nach Schwere des Falles.” (S. 227)
Sehr realitätsnah, jenseits jeder europäischen Verklärung bzw. Verdammung, sind die in jeder Hinsicht anschaulichen Beschreibungen des Lebens im Harem des Sultans.
Und wer nun meint, der Handlungsstrang um Elissa und Selim wäre eine erfundene und unglaubwürdige Story, der irrt. Zugrunde liegt diesem Teil des Romans eine wahre Begebenheit, die Silvia Stolzenburg lediglich frei variiert hat: der reale Sultan Selim II. hatte 1545 in Konya seine Sklavin Nurbanu geheiratet. Diese war eine venezianische Adlige, die eigentlich Cecilia Venier-Baffo hieß und als Kind von Piraten entführt und versklavt worden war. Später führte sie als Valide Sultan de facto die osmanische Regierung im Zuge der so genannten Weiberherrschaft…
Daß sich dieser historische Roman aus der Feder Silvia Stolzenburgs – wie all ihre anderen – mit großer Spannung und sinnlichem Vergnügen lesen läßt, braucht wohl nicht besonders betont werden. Das liegt nicht nur an der höchst abenteuerlichen und wendevollen Geschichte selbst, ist nicht nur in den Charakteren und den attraktiven Schauplätzen begründet, sondern ganz besonders in ihrer Fabulierkunst, ihrer Erzählstruktur und Schreibweise.
Der Roman “Töchter der Lagune” kann nicht nur deshalb wärmstens empfohlen werden, sondern weil er vielleicht auch theaterferne jüngere Menschen anregt, sich mit der Shakespeare’schen Variante des Themas zu befassen.
Silvia Stolzenburg: Töchter der Lagune. Roman. 404 S. geb.m.Schutzumschl. Edition Aglaia im Bookspot-Verlag. München 2012. 16,95 Euro. ISBN 978-3-937357-60-7
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]