Die Ostertanztage in Hannover 2016 haben mit einem grandiosen Auftakt begonnen: Das Leipziger Ballett gastierte mit Mozart Requiem, Choreografie Mario Schröder.
Es schwingt in mir. Noch heute, drei Tage später. Es schwingt in mir, weil am Anfang engelsgleiche Wesen in weißen Röckchen auf Schaukeln sitzen, von oben herab schweben, schaukeln, teils ganz herabgelassen werden, teils abspringen, teils auf den Boden gleiten und liegen bleiben. Das war ein wunderbares Eingangsbild, ein besseres kann ich mir kaum vorstellen.
Es schwingt in mir, weil die Musik von Mozart nachklingt. Mit 35 Jahren hat er sie kurz vor seinem Tod komponiert, konnte sie aber nicht vollenden. (Schwingungen sind auch unbewusste Ergänzungen.)
Und es schwingt in mir die wunderbare italienische Sprache, wie sie von einem Sprecher so gekonnt vorgetragen wurde, der die Texte Pasolinis immer erst auf Italienisch und dann auf Deutsch gesprochen hat.
Und in mir schwingen auch die meditativen Momente nach, die es immer wieder gab, der Musik entsprechend. Die Wirkungsmittel wurden nur sparsam eingesetzt: Farben, Kostüme, Videoprojektionen ... Das hat mich sehr gefreut, die Aufführung war nicht mit Sinneseindrücken überladen (wie es sonst oft geschieht). Die Farben der Kostüme zum Beispiel beschränkten sich lange auf Weiß und Schwarz, später kam Rot hinzu, keine weiteren Farben.
Eine geniale Idee von Mario Schröder war es, die kirchlichen Texte mit Texten des Filmemachers Pier Paolo Pasolini zu verbinden. Warum Pasolini? wurde Schröder im anschließenden Publikumsgespräch gefragt. Der Anlass jetzt war ein sehr persönlicher, doch hatte Schröder immer schon eine Vorliebe für Pasolini. Mozart und Pasolini haben eines gemeinsam: die mysteriösen Umstände ihres Todes. Die Textzitate stammen aus Pasolinis "Die Nachtigall der katholischen Kirche" und umkreisen Leben und Tod. Auf der Projektionswand werden Bilder aus Pasolinis Film "Teorema" zitiert.
Es zeigt sich, dass die kirchlichen Texte und die Pasolini-Texte - auf Italienisch, auf Deutsch - und Mozarts Musik großartig zusammenpassen. Überhaupt scheint mir Mario Schröders größte Leistung darin zu liegen, dass es ihm gelungen ist, eine beeindruckende Ganzheit zu schaffen: Sein Ensemble aus etwa 30 Tänzerinnen und Tänzern (aus vielen Nationen!) - in wechselnden Zahlen eingesetzt - wirkt sehr aufeinander eingespielt; ohne dass die Individualitäten unterdrückt sind. Ohne Frage steht auch harte Disziplin dahinter, aber das lassen die Tänzerinnen und Tänzer nicht spüren; im Vordergrund stehen Spiel- und Einsatzfreude.
Die Bühnengestaltung ist angenehm schlicht. Außer den Schaukeln gibt es eine weiße Trennwand mit verschiedener Funktion: Mal ist sie Grenze zwischen Lebenden und Toten (die dann als Schatten auf ihr erscheinen), mal ist sie Projektionsfläche und Hintergrundsbild. Manchmal werden die Filmausschnitte aus "Teorema" gezeigt, aber nicht in ablenkender Fülle; längere Zeit erscheinen unbewegte Augen auf ihr, nur ab und zu schließen sie sich.
Der Sprecher (Alessandro Zuppardo) hat eine besondere Aufgabe: Normalerweise spricht er, wie gesagt, in zwei Sprachen die Pasolini-Texte, aber an zwei Punkten tritt er als Handelnder auf. Einmal trägt er eine rot gekleidete junge Frau (ein Kind?) auf den Armen: Symbol der Zukunft jenseits von Tod und Leben. (War es im Agnus Dei? Leider erinnere ich mich nicht mehr genau ... ) Ein anderes Mal wird er selber vom Ensemble auf Händen getragen - in der Kreuzigungsszene während des Lacrimoso. Das sind Szenen, die in Erinnerung bleiben.
Das Lacrimoso ist auch der Teil, in dem Mozarts Original-Musik abbricht. Die Komposition wurde jedoch von Franz Xaver Süßmayr fortgeführt und wird heute auch gewöhnlich mit seiner Musik bis zum Ende aufgeführt. Der Bruch aber ist spürbar.
"Das Leben kennt viele Tode. Immer wieder sind wir gezwungen, uns von Dingen zu verabschieden. Immer wieder sind wir auf der Suche nach Vollkommenheit, die erst in jenen Grenzbereichen erfahrbar wird. Das gilt insbesondere für" die Künstlerin, "den Künstler" (Christian Geltinger im Programmheft).
"Oh Individuum, oh Doppelgänger, bist Du gemacht / aus mir, aus meiner Wärme, und feindselig / durch einen Tod, / der meinem Sterben vorausging" (Pasolini "Ex vita", gesprochen nach dem Lacrimosa).
Warum heute noch Theater und Ballett, warum ist es so wichtig, für den Erhalt zu kämpfen? Darauf versucht Mario Schröder im Publikumsgespräch eine notwendigerweise unvollkommene Antwort zu geben. Der andere Umgang mit Zeit ist ihm wichtig: nicht nur Hektik und Geschwindigkeit, statt dessen eine andere Sicht auf die Dinge und Verhältnisse sich in Ruhe entwickeln lassen. Theater soll nicht als Konkurrenz zu anderen Medien gesehen werden, es hat seine eigene, nicht ersetzbare Identität. Theater ist Spiegel, Reflektion, Ort der Inspiration. Theater überzeugt durch Intensität und Authentizität.
Tanz ist eine Ursprache. In diesem Sinne: Besuchen Sie die Ostertanztage. Inzwischen hat, am Mittwoch, 23. März 2016, eine weitere Aufführung stattgefunden: "Three is a Party" mit der Balletttruppe der Staatsoper Hannover. Gündonnerstag und Karfreitag war Pause. Samstag geht es weiter mit einem weiteren Gastspiel: Sasha Waltz & Guests "Sacre - ein Abend in drei Teilen", dann Ostersonntag "Was ihr wollt" nach Shakespeare. Und schließlich am Ostermontag-Nachmittag die Ergebnisse der Kinder-Ballettwoche und der Spätbewegten Spezial. S. auch Vorblick in diesem Blog.
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bilder: © Ida Zenna (als Pressefotos nicht frei verfügbar).