Im Rahmen der Oster-Tanz-Tage 2015: Tero Saarinen mit acht Tänzern aus Finnland zu Gast in Hannover mit der Produktion Morphed: Donnerwetter, ich bin beeindruckt, mir fehlen die Worte - so war meine erste Reaktion, vielleicht typisch männlich, nach 60 konzentrierten Minuten. Diese Dichte der Darstellung im Zusammen"klang" mit Musik des finnischen Komponisten Esa-Pekka Salonen ist kaum zu überbieten - Glückwunsch und Dank an die Staatsoper Hannover dafür, dass sie diese Kompanie und diesen Choreografen für einen der Oster-Tanz-Tage nach Hannover holen konnte!
Was ist männlich? Gibt es Ansätze eines Wandels? Diesen Fragen geht Tero Saarinen in seiner neuen Produktion Morphed nach. Dafür hat er die Kompanie extra zusammengestellt (wie er in dem Publikumsgespräch nach der Vorstellung selber hervorhebt) - Tänzer verschiedenen Alters und mit unterschiedlichem tänzerischem Hintergrund. Das ermöglicht individuelle Antworten, Saarinen möchte offen dafür sein. Jedes männliche Individuum darf seinen eigenen Weg finden - heraus aus einer festgefügten Vergangenheit, hinein in eine Zukunft der Veränderung -, jeder einzelne sollte selbst die Verantwortung übernehmen. Schon der Titel Morphed zeigt, dass es Saarinen nicht um den Blick in die einengende Vergangenheit geht, sondern um die Gestaltung der Zukunft: "Morphed" bedeutet so viel wie Gestaltungswandel, bezeichnet etwas, das sich im Prozess befindet.
Es beginnt zu Waldhornklängen mit einem Marsch der Männer: Die Tänzer haben einen Block geformt und gehen im Marschrhythmus nach vorne, wechseln abrupt die Richtung im rechten Winkel, marschieren weiter, wechseln dann wieder die Richtung im rechten Winkel zur vorherigen, marschieren einfach weiter usw. Außer der Musik mit Waldhorn ist nur das rhythmische Stampfen der Füße zu hören, monoton, endlos lange, die Minuten dehnen sich, in den Zuschauerreihen beginnt sich Langeweile auszubreiten. Alle Tänzer sind schwarz gekleidet und haben eine Kapuze auf dem Kopf, eine Uniform ohne Abzeichen. Erst ganz zum Schluss dieses monotonen Marsches, sinn- und ziellos, schert einer der Männer aus und legt sich auf den Boden. Das ist der Ausgangspunkt, der Hintergrund, von dem aus der Wandel beginnen darf.
Die Bühnengestaltung ist einfach. Im Hintergrund und an den Seiten hängen zahllose Seile in Reihen von der Decke (Bühne und Licht-Design: Mikki Kunttu). Sie sind ein wichtiges Gestaltungselement, vielfach verwendbar und Symbol für manches. Die Begrenzung, die erst mit zunehmender Freiheit durchschritten werden kann. Vorsichtiges Erkunden, welcher Weg am besten hindurchführt. Seile sind zum Schwingen geeignet oder, um "in den Seilen zu hängen" (Muße als Freiheitselement?). Ein Mann schert aus der Gruppe aus und fesselt sich selber mit einigen Seilen, wickelt sich darin ein. Die Seile erinnern auch an Haare, sagt Tero Saarinen. Wer lange Haare trägt, wie einige der Tänzer, schert auch schon aus der Uniformität aus.
Brutale Aggressivität kommt auf, entsprechend der Musik, kann aber in sanfte Weichheit umschlagen. Zwei Männer gehen aufeinander zu, recken die Arme dem Gegenüber entgegen, zur Berührung kommt es aber nicht, sie gelingt ihnen (noch) nicht. Nur einer durchbricht die "schwarze Uniform" von Anfang an, er zeigt sein weißes Hemd darunter - gerade dieser Mann, scheint mir, wird oft in die Opferrolle gedrängt. Zum Beispiel beim "Reihenrad" (ich nenne das mal so, weil mir ein Begriff dazu fehlt): Die Männer bilden eine Reihe, Arme auf den Schultern der Nachbarn, und gehen zügig im Kreis mit dem Mittelpunkt bei der Hälfte der Reihe, also etwa zwischen dem vierten und fünften Mann. Die Bewegung erinnert an Windmühlenräder oder an Bewässerungsanlagen, die von Sklaven oder Pferden angetrieben werden. Der weiß-schwarze Mann schert aus, alle anderen drehen sich stur weiter; jedes Mal, wenn sie an dem Einzelgänger vorbeikommen, muss der sich stark ducken und unter ihren Armen hindurchtauchen. Er versucht auch, die anderen aufzuhalten, vergeblich. Es sind die Männer selbst, die - gruppenweise - den Wandel Einzelner unterdrücken. Jeder einzelne Mann darf für seine Veränderung die Verantwortung selbst übernehmen. Erst spät gibt es weitere Männer, die den weißen Akzent setzen und ihr Hemd offen zeigen.
Und auf einmal treten alle Männer nach vorne an den Bühnenrand und nehmen ihre Kapuzen ab – welch ein Fortschritt!
Wo bleibt der neue Mann? habe ich mich im Rückblick gefragt. Es gibt ihn noch viel zu selten. So dürfte es der Realität entsprechen, wenn hier nur erste Ansätze gezeigt werden. Auf jedwedes Emanzipationsbemühen wird oft mit Krieg reagiert. Schüsse fallen, ein paar Männer bleiben am Boden liegen. Elemente der Selbstbezogenheit waren mehrfach zu beobachten - auch das kann nur ein Übergang sein, eine Zwischenlösung, eine Scheinlösung. Kooperation wäre der bessere Weg - sie kommt hier fast noch gar nicht vor.
Mit der Dichte der Darstellung hat Tero Saarinen vielfach zum Nachdenken anregen können. Das zeigte sich auch in dem Publikumsgespräch, das im Anschluss an die Vorstellung stattfand. Jörg Mannes stellte die Fragen, Tero Saarinen gab Antworten - ein besonderer Dank für seine Bereitschaft, sich für dieses Publikumsgespräch noch zur Verfügung zu stellen. Und Dank an die hannoversche Oper, dass sie durch dieses neue Angebot die Oster-Tanz-Tage zusätzlich bereichert.
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bilder: Heikki Tuuli (als Pressefotos nicht frei verfügbar).