Ostertanztage 2015 - Auftakt mit "Der Prozess" nach Kafka von Gastchoreograf Mauro Bigonzetti, mit Nachlese

Von Helge


Ostertanztage 2015 - Auftakt mit "Der Prozess" nach Kafka von Gastchoreograf Mauro Bigonzetti, mit Nachlese

"Es gibt Musikalität, aber keine Harmonie" sagt Gastchoreograf Mauro Bigonzetti in dem Gespräch mit Dramaturgin Brigitte Knöß, das im Programmheft abgedruckt ist. Tatsächlich, die gesamte Inszenierung, der Tanzstil sind davon geprägt.

Am Freitag, 27. März 2015, fand zum Auftakt der Ostertanztage die Premierenaufführung der Choreografie Bigonzettis nach Franz Kafkas Romanfragment "Der Prozess" statt. Wie in jedem Jahr Brauch, wird ein Choreograf als Gast nach Hannover eingeladen, um mit dem Hannoveraner Ensemble die Aufführung seiner neuen Choreografie zu erarbeiten. Es ist hervorragend gelungen, um das gleich vorweg zu sagen. Die Solisten und das Ensemble zeigen eine beeindruckende Leistung, sehr diszipliniert, aber nicht verkrampft - das Premierenpublikum war begeistert. Vielleicht lag ein Stück Harmonie in der Zusammenarbeit Bigonzettis mit dem Ensemble? Beim Schlussapplaus, als auch Bigonzetti auf der Bühne stand, konnte der Eindruck entstehen: eine von Freude und gegenseitiger Wertschätzung geprägte Zusammenarbeit.

Bigonzetti hat es sich mit dieser Vorlage nicht leicht gemacht, doch wollte er nach "Alice" in Stuttgart ("opulent, komisch und fröhlich") ein ernsteres Thema angehen. "Der Prozess ist ein einziger Albtraum" äußert er selbst in dem Gespräch. Entsprechend bleibt die Aufführung bis fast zum Schluss im Schwarz-Weiß - erst kurz vor dem Tod von Herrn K. wird es farbig, durch den Einfluss des Malers. Kreativität könnte die Lösung sein, aber zu spät kommt die Erkenntnis für K., er kann sie nicht mehr in die Tat umsetzen.

Die Musikauswahl war nicht einfach: Ursprünglich wollte Bigonzetti nur die "Sinfonie der Klagelieder" von Henryk Górecki (1933-2010) verwenden, aber dann wäre alles zu duster geworden; es bedurfte des Kontrastes. Bigonzetti fügte Musik aus dem späten 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert hinzu (Lamenti, Kantaten, Wiegenlieder). Der Kontrast ist extrem und löste bei mir anfangs Abwehrreaktionen aus: Immer wieder frömmelnde Musik (nach unserem heutigen Empfinden), und das in einer Lautstärke, die die Solostimmen messerscharf macht. Auf diese überdeutliche Weise konnte Bigonzetti auf die Macht der Kirche, ihr früheres Gewaltmonopol hinweisen, das bis in die Gegenwart hineinwirkt. (Meine Abwehrreaktion war also offenbar gewollt?) Die moderne Górecki-Symphonie wird am Anfang zitiert (1. Satz), der letzte Satz begleitet den Abschluss der Aufführung.

Das mit dem Kontrast habe ich letztlich also verstanden: Herr K. (Denis Piza) vertritt als Individuum die neue Zeit, kann sich aber gegenüber den Zwängen der Gesellschaft (noch?) nicht durchsetzen. Gewalt war und ist allgegenwärtig. Macht der Kirche, Macht der Polizei und der Gerichte, Macht der Medien - der Bogen wird von der Vergangenheit bis in die Gegenwart gespannt. Mechanisierte Arbeit (Fließbandarbeit) in der Wäscherei und sogar in der Bank lässt dem Individuum keinen Raum. Die Figur des "Newspaper Girl" (Steffi Waschina) hat Bigonzetti hinzuerfunden. "Diese Figur repräsentiert die Medien mit ihren zahllosen Meldungen, mit ihrem enormen Einfluss ... Was Schwarz auf Weiß geschrieben steht, wirkt als Wahrheit. Wie leicht können mit ein paar Worten Individuen zerstört werden. Und hinter allem stehen natürlich auch Menschen, die manchmal unbedacht, oft aber in voller Absicht Rufmord verüben", sagt der Choreograf in dem Gespräch. Und er fährt fort: "Es ist das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, das mich interessiert. Soziale Kontakte verlieren heutzutage zunehmend an Verbindlichkeit ... K. verliert seine wenigen menschlichen Bezüge nach und nach vollends. Seine Beziehungslosigkeit führt ihn in eine tiefe Verunsicherung, bis hin zur Orientierungslosigkeit - eine absolut zeitgemäße Erscheinung und ein großes gesellschaftliches Problem." 

Das alles in eine schlüssige Tanzaufführung umzusetzen, ist Mauro Bigonzetti auf großartige Weise gelungen. 90 konzentrierte Minuten ohne Pause (keine Ermüdungserscheinungen erkennbar), eine bewundernswerte Ensembleleistung. Außer den bereits genannten Solotänzerinnen und -tänzern sind noch Marco Boschetti als Advokat, Cássia Lopes als Wäscherin, Catherine Franco als Pflegerin und Demis Moretti als Maler hervorzuheben. Schwarz oder Weiß, Entweder - Oder, schon unser duales Denken ist der Anfang der Zwänge, die das Individuum einengen. Gestenreiche Bewegungen, aber nicht fließend-harmonisch, die Hände beteiligt. Bereits in der ersten Szene fallen die Handgesten auf, die wie Messer wirken (sie schneiden die Luft oder werden an K.s Kopf angesetzt). Die Kostüme (Andrea Meyer mit Bigonzetti zusammen) entsprechen dem Grundmotiv, keine farblichen Akzente. Meisterhaft geradezu Bühnenbild und Licht-Design (Carlo Cerri) - es gefällt mir, wenn hier mit einfachen Mitteln gearbeitet wird, die der Fantasie Raum lassen. Immer wieder entstehen bedrohlich wirkende Schatten. Die Bühne ist in der Grundausstattung einfach, mit strengen Winkeln und Kanten, nicht-symmetrisch. Die verschiedenen Szenenräume - wie K.s Zimmer, die Bank, das Gericht, das Zimmer des Malers - werden mit Umstellung einiger weniger Möbel angedeutet. Mit Projektionen wird auf beeindruckende Weise ein Raum in den anderen verwandelt - plötzliche Öffnung in einen großen Raum mit Gewölben, der einer Kathedrale gleicht, oder, nicht ganz so weit, einen Raum voller Aktenberge, die am Schluss zusammenpurzeln. Ebenso plötzlich die Reduktion auf das enge Büro des Anwalts. Dann wieder der Blick in das Großraumbüro der Bank. Besonders in Erinnerung bleiben mir: die Verführungsszene der einen Wäscherin mit Hilfe von Waschbretttönen (aber der Schluss zeigt, dass K. nur zum Narren gehalten wurde, er bleibt wieder einmal allein zurück); überhaupt die "Waschbrettsymphonie" (ohne weitere Instrumente); und die "Massenszene" in der Bank - hier im Großraumbüro scheint K. eine "leitende Position" zu haben, er führt Aufsicht, die angestellten Menschen verfallen in mechanische, rasche Stempel-Bewegungen, sobald sein Auge sie trifft, doch lässt er sie in der Pause gewähren, eine fröhliche Tanzstimmung bricht aus.

Ein höchst eindrucksvolles Gesamtkunstwerk ist entstanden - den Besuch einer der späteren Aufführungen möchte ich wärmstens empfehlen. Innerhalb der Ostertanztage findet am 7. April, Dienstag nach Ostern, noch eine Aufführung statt. Weitere Aufführungen nach den Ostertanztagen z.B. am 15., 18., 28. April, am 2., 8. und 13. Mai - jeweils 19.30 Uhr. S. auch auf der Netzseite der Oper. Dort können auch Bilder (Probenfotos von Gert Weigelt) betrachtet werden.

Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; da keine Pressefotos honorarfrei zur Verfügung stehen, leider ohne Bebilderung.