Ostertanztage 2013 Hannover: Jörg Mannes, Nils Christe: Verklärte Nacht und Augen.Spiegel.Seele

Von Helge

Jörg Mannes sowie Nils Christe als Gast - Verklärte Nacht und Augen.Spiegel.Seele, ein Doppelabend: Am Samstag (23. März) begannen die Ostertanztage 2013 in Hannover mit einem, wie ich meine, großartigen Auftakt, der mich sehr beeindruckt hat. Der Zusammenklang von Musik, Bewegung, Farben, Bühnenbild (sowie dem unausgesprochenen Wort im Hintergrund) war so gelungen, wie ich es selten erlebt habe.

Jörg Mannes selbst hat "Verklärte Nacht" choreografiert, Musik Arnold Schönberg nach einem Gedicht von Richard Dehmel. Das Gedicht verbindet die Impression eines Paares, das in einer Mondnacht spazieren geht, mit einem schwer wiegenden Konflikt: Sie wird ein Kind bekommen, aber von einem anderen Mann. Doch nimmt er es, nach innerem Ringen,  als sein eigenes an. Arnold Schönbergs Musik "Verklärte Nacht" (op. 4, II. Fassung für Streichorchester von 1943) ist expressiv und bringt die Gefühle von Zuneigung, Eifersucht und Vergebung direkt zum Ausdruck. Schönbergs Musik, historisch kurz vor dem Ende der strukturierten Musik, bewege sich immer an der Grenze zwischen Ordnung und Chaos - "genau das reizt mich" sagt Jörg Mannes in dem Interview (der Dramaturgin Brigitte Knöß), das in dem sehr informativen Programmheft abgedruckt ist. 

Geradezu begeistert aber hat mich das (einfach aufgebaute) Bühnenbild (verantwortlich Thomas Rupert): Von oben hängt ein großer, runder, greller Mond; im Hintergrund ein Waldschattenriss. Aus dem Boden kommen links und rechts zwei schräge, scharfe Keile, die den Wald zu spiegeln scheinen, vorne weit geöffnet, nach hinten aufeinander zulaufend. Mit den "zwei Flächen, die wie scharfe Klingen aus dem Boden herauszuwachsen scheinen", sagt Mannes, "gibt er (Thomas Rupert) mir eine räumliche Beschränkung, die choreographisch reizvoll ist. Gleichzeitig schafft er damit eine gewisse Einfassung für die Tänzergruppe und für die Solisten".

Um wenigstens einen groben optischen Eindruck zu vermitteln, zeige ich hier Bilder des aufgeschlagenen Programmheftes. Die Wiedergabe einiger einzelner Fotos (hervorragende Aufnahmen von Gert Weigelt) ist mir nicht möglich, weil keine honorarfreien Pressefotos zur Verfügung stehen. 


"Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain; / der Mond läuft mit, sie schaun hinein. / Der Mond läuft über hohe Eichen, / kein Wölkchen trübt das Himmelslicht ...", so beginnt das Gedicht von Richard Dehmel. Später sagt der Mann: "Das Kind, das du empfangen hast, / sei deiner Seele keine Last, / oh sieh, wie klar das Weltall schimmert! / Es ist ein Glanz um alles her, / du treibst mit mir auf kaltem Meer, / doch eine eigne Wärme flimmert / von dir in mich, von mir in dich ..." In den unterschiedlichsten Zusammensetzungen finden und trennen sich die Mitglieder des Ensembles in den Tanzszenen, die Frauen in roten Kleidern, die Männer in Grau: das Paar im Mittelpunkt, klar, mal eng zusammen, mal mehr auf Distanz, im Ringen um die wahrhaftige Entscheidung; alle anderen ergänzen oder kontrastieren, spiegeln die inneren Vorgänge, manchmal paarweise, manchmal getrennt in Frauen und Männer. Sie streben mühsam die Schräge hinauf; sie reihen sich rasend an ihr entlang, sie sind auf einmal ganz verschwunden und lassen das Paar einsam zurück; einmal huschen geisterhaft die anderen (unbeleuchtet) vor ihnen entlang. "Wir entfalten verschiedene Möglichkeiten, wie es hätte ausgehen können", so Mannes in dem Interview. "Das Paar im Zentrum wird umspielt von anderen, die kaleidoskopisch Varianten darstellen von Akzeptanz bis Nicht-Akzeptanz. Selbst Schönbergs Musik ist nicht so gradlinig wie das Gedicht, und ich finde es auch als tänzerische Umsetzung interessanter".

Nach der Pause folgte "Augen.Spiegel.Seele", choreografiert von Nils Christe, mit Musik von Arvo Pärt und Sergei Prokofjew. Wiederum standen unausgesprochene Worte im Hintergrund - hier ganz einfach das Sprichwort "Die Augen sind der Spiegel der Seele". Und wiederum ist die Musik wesentlich tragendes Moment: Zwei Stücke von Arvo Pärt bilden den Rahmen - "Cantus in memory of Benjamin Britten" für Streichorchester und Glocke (1977) sowie "Fratres in memoriam Eduard Tubin", Fassung für Streichorchester und Schlagzeug (1991). Im Hauptteil erklingen von Sergei Prokofjew die "Visions fugitives" (Flüchtige Visionen) op. 22 (1915-1917), teils in der Bearbeitung für Streichorchester von Rudolf Barschai, teils in der Bearbeitung für Streichorchester und Harfe von Viktor Suslin. Ein großer Spiegel hängt oben an der Bühnendecke, zeigt die Tanzbewegungen - besonders beeindruckend bei Gruppen - zusätzlich von oben, dem Zuschauer wird eine Doppelperspektive geboten. Manchmal dient der Spiegel außerdem als Projektionsfläche, vor allem für Bilder eines Tropfens, der auf die Wasseroberfläche auftrifft, in Zeitlupe. Wiederum ist das ganze Ensemble beteiligt. Das ist ungewöhnlich für Nils Christe - den aus den Niederlanden stammenden, international renommierten, frei arbeitenden Choreografen -, der sonst eher mit kleinen Besetzungen arbeitet. ("Die Tänzer haben ihn inspiriert, und das erfüllt mich mit Stolz auf die Kompanie", berichtet dazu Jörg Mannes, der schon seit langem mit Christe zusammenarbeiten wollte.) In der Ausführung arbeitet er seit Jahren mit Annegien Sneep zusammen, die auch die Kostüme selber entwirft. 

Im Zusammenklang mit der Musik bekommt diese Produktion einen völlig anderen Charakter, der mich ebenso fasziniert hat. Kurze Stücke, flüchtige Momente wechselnder Art mit der Prokofjew-Musik; Glockenklänge und -schwingungen sowie Mut zur Stille mit der Musik von Arvo Pärt. Die TänzerInnen sind diesmal alle dunkel gekleidet (die Männer teils mit nacktem Oberkörper, dann also aufgehellt); erst am Schluss erfolgt die ersehnte Aufhellung, als das letzte Bild von Bühnennebel begleitet wird.

Auch hier wieder gebe ich einen groben optischen Eindruck durch Bilder vom aufgeschlagenen Programmheft:

"Ich habe entdeckt", hat Arvo Pärt zu seiner Musik gesagt (im Programmheft zitiert), "dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser eine Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivstem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonalität. Die drei Töne eines Dreiklangs wirken glockenähnlich ..."

Seine Inspiration beziehe Nils Christe hauptsächlich aus der Musik (heißt es im Text des Programmheftes). Die "Visions fugatives" habe er gewählt, "weil sie aus vielen Miniaturen bestehen, die sich wie Juwelen aneinanderreihen". "Neben der Musik sind menschliche Gefühle und Beziehungen die Basis seines Schaffens. Es geht Christe allerdings nicht um die Darstellung dieser Regungen auf der Bühne, sondern darum, dass die Tänzer sich gegenseitig wahrnehmen, und dass wahrhaftig aufeinander eingehen".

Der zweite Teil des Abends begann mit Stille und endete mit Stille (schade, für mein Empfinden kam der beifall allzu rasch). Den Abend insgesamt habe ich als sehr inspirierend erlebt - von dieser Eigenproduktion wird es weitere Aufführungen geben, deren Besuch ich wärmstens empfehlen möchte. Die nächsten Termine am 10. und 18. April, am 18. Mai, am 9. und 21. Juni. Weitere Informationen auf der Seite der Staatsoper.

Was mich etwas verwundert hat: dass die Ostertanztage nicht die Ehre der Uraufführung bekommen haben; die fand bereits am 9. März 2013 statt.- Der Presse-Abteilung der Staatsoper danke ich für die Unterstützung. Besondere Dankbarkeit empfinde ich gegenüber dem hervorragenden Programmheft - danke, Brigitte Knöß, die für die Redaktion verantwortlich zeichnet.

Text und Fotos: Dr. Helge Mücke, Hannover