WEIMAR. (fgw) Hin und wieder erlebt man im Leben Augenblicke der Stagnation, die plötzlich und unerwartet auftreten, angekündigt durch nichts. Ob es ein Wechsel des Windes ist oder eine veränderte Hochdrucklage. Vielleicht hat die Sonne auch nur zu lange oder zu selten geschienen. Man wacht mit einem Male auf und ist unzufrieden und fragt sich, warum. Dieses Warum – es kommt daher, weil ja alles in Ordnung ist. Man hat ein gutes, geruhsames Leben, in Beruf und Partnerschaft läuft es. Gesundheitlich kann man sich auch nicht beklagen. Wenn da nur nicht die kleine Stimme wäre, die immer und immer wieder fragt: Wozu nützt dir das alles? Was hast du aus deinem Leben gemacht?
von Ilka Lohmann
So ergeht es dem Ich-Erzähler in Paulo Coelhos Roman „Aleph”, der möglicherweise mit dem Autor identisch ist. Er ist ein international erfolgreicher Schriftsteller, hat finanziell ausgesorgt, kann sich künstlerisch und kreativ verwirklichen, führt seit 25 Jahren eine gute Ehe. Und dennoch macht er sich Sorgen. Da bekommt er Besuch von J., seinem spirituellen Lehrer, der zu ihm sagt: „Lass dich auf eine Reise ein.” Und der Erzähler tut es.
Er begibt sich auf eine weltweite Lesereise, die ihn am Ende nach Asien führt, die ihn mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok bringen soll. Und auf dieser Reise lernt er Hilal kennen. Hilal ist eine Künstlerin, eine junge Frau Anfang 20, und stammt aus Jekaterinburg, wo sie im Philharmonischen Orchester die Erste spielt. Auch sie könnte zufrieden sein, ist es aber nicht. Gleich zu Beginn berichtet sie davon, wie sie als Kind Opfer eines sexuellen Missbrauches wurde. Der Täter war ein Nachbar. Seitdem ist sie gefangen in einem Käfig aus Scham und Schuld, der sie hat unfähig werden lassen, normale Beziehungen einzugehen, unfähig, der Liebe es eines Mannes und einem Mann mit Liebe zu begegnen. Aber sie fühlt zu dem Erzähler eine tiefe Verbundenheit. Sie kennt seine Bücher, und sie ist nur nach Moskau gekommen, um ihn zu treffen.
Sie sagt, sie kenne sein Problem und sie könne ihm helfen. Sie sei gekommen, ein Feuer für ihn zu entzünden.Sie will den Erzähler auf seiner Reise nach Wladiwostok begleiten, und er, überwältigt von ihrer Zielstrebigkeit, ihrem Durchsetzungsvermögen und ihrer Kraft, stimmt schließlich zu.
Auf dieser Fahrt geschieht etwas. Sie gehen im Zug den Gang neben den Abteilen entlang, halten zufällig an einer Stelle inne, und da passiert es: Der Erzähler hat eine Vision. Er sieht die Vergangenheit, das Zeitalter der Inquisition, und er erlebt einen Inquisitor, der einen Brief schreibt. Er sieht auch die junge Frau, die ihn an über die Zeitalter hinweg, durch die Jahrhunderte hindurch, anklagend anschaut.
Es ist die Vision aus einem früheren Leben. Damals haben die beiden einander schon gekannt, und er hat ihr einen unglaublichen Schmerz zugefügt. Das ist das Rätsel, das er lösen muss, damit sie beide, er und Hilal, Frieden finden.In einer Kirche von Jekaterinburg bringt er sie dazu, ihm zu vergeben. Aber erst später er fährt er die volle Tragweite dessen, was geschehen ist.
Der Erzähler erfährt, dass er an der jungen Frau vor Jahrhunderten ein Verbrechen begangen hat, das so furchtbar ist, daß viele Leben vergehen mussten, um es zu sühnen. Doch beide wagen es. Und sie gewinnen.
„Aleph”, der neueste Roman des brasilianischen Erfolgsautors Paul Coelho, ist ein sehr besonderes Buch. Selten werden Texte wie dieser veröffentlicht. Es ist ein Buch über Magie und Mystik, das sich aber nicht vom Leben verabschiedet, sondern sich verortet in der Wirklichkeit, ohne dabei die andere Wirklichkeit zu verleugnen.
Das Aleph ist ein Punkt jenseits von Raum und Zeit, ein Ort der Kraft, an dem alle Ströme und Mächte zusammen fließen. Es ist der Ort, der es Hilal und dem Erzähler ermöglicht, über sich hinaus zu treten. Es ist ein Ort, der jedem von uns begegnen kann. Ein Ort, der uns lehrt, dass wir nicht nur dieses eine Leben sind, das uns oftmals so klein und unbedeutend dünkt.
Kein Leben ist unbedeutend, das sagt Coelho uns in diesem Roman, denn jedes Leben ist einzigartig und endlos. Jedes Leben ist so allumfassend wie das Universum selbst. Und die Weisheit, es zu bestehen und nicht zu vergeuden, ist für jeden von uns erreichbar, wenn wir es nur wagen, die Hand danach auszustrecken.
Auch literarisch erfüllt dieser Roman höchste Ansprüche. Die Sprache ist schlicht und poetisch zugleich. Und so voll und reich ist der Text an Weisheit und Geschichten, Gleichnissen und Belehrungen, das man ihn ohne Ende zitieren möchte. Es ist ein gutes Buch für unsere Zeit, die sachlich geworden ist, so konkret, die sich so sehr dem Wunderbaren entfremdet hat.
Dieses Buch soll all jenen ans Herz gelegt werden, die erfüllt sind von der Spirituellen Sehnsucht nach dem Sinn und nach einer Wirklichkeit, die größer als wir alle ist. Denn in diesem Roman macht Coelho uns Hoffnung. Er macht uns Hoffnung darauf, dass wir sehen können und wissen werden, wenn wir es nur wollen, und wenn es Zeit ist.
Paulo Coelho: Aleph. Roman. aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann. 320 S. Hardcover Leinen. Diogenes-Verlag Zürich 2012. 19,90 Euro. ISBN 978-3-257-06810-8
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]