Im April 1933, also bereits bald nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, wurde im ehemaligen ‚Arbeitshaus’ von Moringen, in Niedersachsen, ein Konzentrationslager eingerichtet. Die ersten Häftlinge waren vorwiegend Kommunisten, Sozialdemokraten und Zeugen Jehovas. Die Dorfpresse vermeldete dazu: "Irregeleitete Volksgenossen bedeuten für unsere wirtschaftliche Entwicklung einen Gewinn." Nachdem das Männerlager aufgelöst wurde, die Männer wurden entweder entlassen oder auf andere größere Konzentrationslager verteilt, etablierten die Nationalsozialisten ab Oktober 1933 hier ein Frauenkonzentrationslager. In diesem waren in etwa 1.350 Frauen inhaftiert. Während der Anteil der Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern vor Kriegsbeginn durchschnittlich 5-10 % betrug, stellten die Zeuginnen Jehovas im Frauen-Konzentrationslager Moringen zeitweise fast 90 % der Inhaftierten. Der Rest der Frauen war wegen ‚Rassenschande’ oder wegen des Verstoßes gegen den Paragraphen 218 inhaftiert. Frauen, die abgetrieben haben oder aktiv an einer Abtreibung Teil hatten wurden wegen ‚Volkszersetzung’ inhaftiert, da dem ‚Deutschen Reich’ Kinder der ‚arischen’ Rasse verloren gingen. Frauen, die Jüdinnen bei Abtreibungen halfen, wurden nicht bestraft. 1938 wurde das Frauenlager aufgelöst, die Frauen kamen meistens in das Konzentrationslager Lichtenburg und es entstand ein Konzentrationslager für Jugendliche zur ‚Umerziehung’, wie es in der Nationalsozialistischen Rhetorik hieß. Die Bezeichnung ‚Jugendschutzlager’ als Jugendkonzentrationslager für Jugendliche und junge Männer im Alter von 13 bis 22 Jahren und war dem Reichssicherheitshauptamt/Amt V – dem Reichskriminalpolizeiamt unterstellt. Als Lagerkommandant für das Jungenlager fungierte SS-Sturmbannführer Karl Dieter. Lagerarzt im Männer-, Frauen- und Jugendlager war durchgehend Otto Wolter-Pecksen von 1933 an. Das Jungenlager im ‚Werkhaus’ in Moringen wurde auf Anregung von Reinhard Heydrich als erstes Lager dieser Art eingerichtet. Die Häftlinge wurden nach vermeintlichen charakterlichen und biologischen Merkmalen und Eigenschaften auf mehrere ‚Blöcke’ verteilt:
B-Block ► Beobachtungsblock
U-Block ► Block der Untauglichen
S-Block ► Block der Störer
D- Block ► Block der Dauerversager
G- Block ► Block der Gelegenheitsversager
F-Block ► Block der fraglich Erziehungsfähigen
E- Block ► Block der Erziehungsfähigen
ST-Block►Stapo Block: mit politisch-oppositionell eingestuften Jugendlichen, von kommunistischen oder sozialdemokratischen Widerstandskämpfern bis hin zur nonkonformistischen Swing-Jugend…
Die Blockaufteilung ging zurück auf den Arzt und ‚Rassenhygieniker’ Robert Ritter, Leiter der Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt. Ritter betrieb seit 1937 die systematische Erfassung der ‚fremdrassigen’ Sinti und Roma sowie der zahlreichen ‚Deutschblütigen’ die als ‚asozial’ beziehungsweise ‚gemeinschaftsfremd’ etikettierten Bevölkerungsgruppen. Seit 1941 leitete er zusätzlich das Kriminalbiologische Institut der Sicherheitspolizei, dessen Aufgabe er darin sah, unter ‚kriminalbiologischen Gesichtspunkten alle jugendlichen Gemeinschaftsfremden’ festzustellen, "gegen die aus Gründen der Vorbeugung polizeiliche Maßnahmen durchgeführt" werden müssten. Jungen und junge Männer, die Ritter als ‚geistig defekt’ und als ‚krankhaft entartet’ betrachtete, sollten in Moringen inhaftiert werden. "In geeigneten Arbeitslagern", so Ritter zynisch, könnten sie "viel Nützliches leisten". Ritter regte auch Zwangssterilisierungen an, die dann vom Lagerarzt und dem Kommandanten beantragt und in der Universitätsklinik Göttingen vollzogen wurden. Die SS-Blockführer erstellten im halbjährlichen Turnus Führungsberichte über die einzelnen Häftlinge. Verfehlungen im Lager, wie Fluchtversuche, Lebensmitteldiebstähle, schlecht beurteilte Arbeitsleistungen oder Mängel beim Bettenbau und im Ordnungsverhalten vermerkten Kriminalbiologen ebenso, wie alle ausgesprochenen und vollzogenen Lagerstrafen. In dieser Beurteilungs- und Kategorisierungspraxis wurde den Häftlingen die bedingungslose Unterordnung und die Fähigkeit und Bereitschaft zur Unterwerfung unter die im Lager herrschenden Verhaltensdoktrinen abverlangt. Jede Auflehnung der jungen Menschen gegen die Versklavung und jeden Versuch, sich die Lebensumstände im Lager durch nicht geduldetes Verhalten zu erleichtern, werteten die Kriminalbiologen als weiteren Beleg für ‚biologische Verworfenheit’. Robert Ritter betrieb seine pseudowissenschaftlichen Experimente mit lebenden Menschen. Er fand dabei im Jugendlager Moringen „die Fundgrube für das Kriminalbiologische Institut …“, wie es der Landgerichtspräsident von Essen anlässlich eines Besuches in Moringen aus dem Jahr 1944 formulierte
Die Erziehung im Nationalsozialismus war eine ‚totalen Erziehung’ möglichst außerhalb des Elternhause, fest in der Hand der Nationalsozialisten. Sie umfasst die Vorschul-, die schulische und außerschulische Erziehung sowie die Hochschulbildung, deren Ziel war es, die sogenannte ‚arische’ Jugend zu ‚rassebewussten Volksgenossen’ zu formen, „ihre jugendlichen Körper zu stählen“ und sie zu überzeugten Nationalsozialisten zu erziehen.
Die nationalsozialistische Jugend- und Bildungspolitik konnte 1933 nicht auf einen Schlag umgesetzt werden, sondern verdrängte das Erziehungssystem der Weimarer Republik nur schrittweise:
1. 1933–1935 Phase der Machtsicherung: ohne tiefere Eingriffe in das Schulwesen bis auf Entlassungen politisch unerwünschter Pädagogen, Zentralisierung und Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft, neue Jugendorganisationen.
2. 1936–1940 Phase der Kriegsvorbereitung: Eingriffe in die Schulstruktur, neue Lehrpläne, obligatorische Hitlerjugend und Lagererziehung, Ausgrenzung, Neuordnung der Lehrerbildung. Im Dezember 1936 wurde für die Jungen der 12. Klasse die 13. Klasse ersatzlos gestrichen, um 1939 zwei Offiziersjahrgänge zu erhalten.
3. 1941–1945 Phase der Machterweiterung und Zerfall des ‚Reiches’: Kriegsmangelsituation, Rekrutierung von Schülern (Flakhelfer, Volkssturm) in der Endphase, Minimalisierung von Bildung in den besetzten Gebieten…
Die Haftgründe im Jugend KZ Moringen waren äußerst vielschichtig und reichten von pädagogischen Bankrotterklärungen gegenüber straffälligen Minderjährigen oder Heiminsassen, über ‚Arbeitsverweigerung’, ‚Arbeitsbummelei’ und ‚Sabotage’ bis hin zur Verweigerung des ‚Hitler Jugend Dienstes’. Das Reichskriminalpolizeiamt und die Gestapo inhaftierten aus rassischen, so wie Sinti, Roma und Juden und eugenischen Gründen, wie Behinderte oder Zwangssterilisierte. Auch wegen Homosexualität, sogenannter ‚Strichjungen’ oder wegen Widersetzlichkeiten, Opposition und konkreten Widerstandshandlungen. Ungefähr 20 Jungen wurden als Anhänger der englisch-amerikanischen Swingmusik, also wegen ihrer Zugehörigkeit zur Hamburger ‚Swing-Jugend’ interniert. Wieder andere wegen ‚Sippenhaft’, so zum Beispiel der 16-jährige Rainer Küchenmeister, dessen Vater im Zusammenhang mit der Widerstandsgruppe ‚Rote Kapelle’ hingerichtet wurde. Alle wurden ohne Gerichtsverfahren Moringen verschleppt. Das sogenannte ‚Jugendschutzlager’ Moringen hatte recht schnell vollends den Charakter eines allgemeinen Konzentrationslagers für Jugendliche. Wie in den anderen Konzentrationslagern, so stand auch in Moringen die bedingungslose Ausnutzung der Arbeitskraft bei völlig unzureichender Verpflegung und mangelnder medizinisch-hygienischer Versorgung im Vordergrund. Der 10- bis 12stündige Arbeitseinsatz der Häftlinge erfolgte vorwiegend für Rüstungszwecke bzw. zur Aufrechterhaltung der Kriegsmaschinerie. Aber auch in der Landwirtschaft oder beim Autobahnbau arbeiteten die Häftlinge des Jugend Konzentrationslagers, unter anderem für Konzerne wie Wayß & Freitag. Der weitgehend untertariflich festgelegte und zwischen SS und Firmen vertraglich fixierte Lohn wurde von den Unternehmen an die SS überwiesen. Von diesem Entgelt haben die Betroffenen bis zum heutigen Tag keinerlei Zahlungen erhalten. Die Ausbeutung der jugendlichen Arbeitskraft sicherte damit sowohl der SS, durch die Einnahmen aus dem Arbeitslohn, als auch den Unternehmen und Firmen erhebliche Profite und ein ständig auswechselbares Kontingent billiger Arbeitskräfte. Vor dem Hintergrund, dass im Jahr 1942 die Zahl der Todesfälle im Lager aufgrund der mangelhaften Verpflegung zunahm und in der Folgezeit keine wesentliche Verbesserung der Lage eintrat, ist festzuhalten, dass zumindest von Seiten der SS auch der mögliche Tod der jungen Häftlinge billigend in Kauf genommen wurde. Im Sommer 1942 verhungerten einige Jugendliche. In Moringen waren ungefähr 1.500 Jugendliche inhaftiert, mindestens 10% von ihnen starben. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute nicht bekannt.
Moringen wurde am 9. April 1945 befreit. Drei Tage vorher fanden ‚Evakuierungen’ in Richtung Harz statt, die Kranken blieben im Lager zurück. Bis zur Befreiung wurden etwa 1400 Jugendliche in Moringen eingewiesen. Die genaue Zahl der den Lagerbedingungen und Gewaltattacken des Personals und anderer zum Opfer Gefallenen ist unbekannt. Innerhalb des Lagers waren es mindestens 56. Viele Männer, die im Konzentrationslager als Aufseher tätig waren, waren in Moringen mit ihren Familien ansässig. So war auch die Nachkriegsgeschichte von den Versuchen gezeichnet, die nationalsozialistische Geschichte hinter dem Tor des Schweigens verschlossen zu halten. Dass das nicht gelungen ist, ist der Verdienst mehrerer hartnäckiger Menschen.
Heute ist eine Gedenkstätte vorhanden, die die schrecklichen Ereignisse hervorragend dokumentiert.
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Bild 1: ehemaliges KZ Moringen · Bild 2: Dokument der Einweisung in KZ Moringen · Bild 3: Jugendliche Häftlinge in Moringen – alle Quelle: martinguse.de