... Orient und Okzident, sind nicht mehr zu trennen.

Allerorten wird derzeit über die jüdische-christliche Tradition gefaselt, auf der unsere Gesellschaft beruhe. Nun ist es ja nicht so, dass man die jüdische Komponente besonders bejubelt hätte in all den Jahren; bis vor ein Paar Jahrzehnten konnte sich derjenige, der von jüdischen Traditionen erzählte, die das Deutsche bereichert hätten, mehr als nur einen Rüffel einhandeln. Jüdische Tradition war Kammerknechtschaft, Judenhut und Gelber Fleck, Zunftverbot und Stettel - es ist weniger die deutsche Gesellschaft als das Christentum selbst, welches jüdisch beeinflusst ist. Kürzlich wollte man dieses Judentum, als Schlusspunkt jahrhundertealten Antijudaismus' quasi, endgültig ausmerzen.

Jüdisch-christliche Tradition mache die deutsche Leitkultur aus, heißt es allenthalben. Der Islam habe hier keine Tradition - dass aber der Islam jüdische und christliche Wurzeln besitzt, ist kein Sujet für dieserlei Debatte. Denn als logische Konklusion könnte stehen: wenn der Islam schon nicht zur deutschen Tradition gehöre, die ja durch jüdisch-christliches Erbe beseelt ist, so ist er doch zumindest aus demselben Erbe entsprungen. Es würde den unendlichen Summen äußerer Monologe, die man optimistisch öffentlicher Dialog oder Diskurs tauft, aber großer Sprengkraft berauben, wenn man nachschöbe, dass Muhammad ein großer Anhänger des jüdischen und christlichen Monotheismus war. Jedes dieser Völker habe seine Offenbarung des einen Gottes, wusste Mohammad zu erzählen: das arabische Volk habe den Koran erhalten, Juden die Tora, Christen das Evangelium - ahl al-kitāb, die Schriftbesitzer oder (exakter übersetzt) Völker einer früheren Offenbarung, nennt der Koran diese monotheistischen Gruppen. Mit diesen Leuten der Schrift, heißt es in Sure 29, Vers 46 des Koran, solle möglichst nur auf gute Art gestritten werden. Und man solle ihnen sagen: "Wir glauben an das, was (als Offenbarung) zu uns und was zu euch herabgesandt worden ist. Unser und euer Gott ist einer. Ihm sind wir ergeben."

Genug der Exegese; was jedoch interessiert ist, dass die deutsche Leitkultur für sich in Anspruch nimmt, christlichen und jüdischen Ursprung in sich zu tragen - ein Anspruch, den man dem Islam nicht absegnen mag. Anstelle von Besonnenheit, verlautbaren besonders besorgte Deutschtümler in allerlei Magazinen ihr makaberes Arsenal an Unbildung, erzählen dort von der Havarie, die diese Gesellschaft erleiden wird bei diesem Ausmaß an Überfremdung. Fürwahr ein seltsamer Satz, mit eigenartigen Worten: denn verlauten kommt von Laute, was wiederum vom Arabischen al-'ud, das Holz stammt; Magazin vom Arabischen machzan, bebilderte Schrift; makaber von maqābir, die Gräber; Arsenal von dār as-sināʿa, für Fabrik oder Werft; Havarie von awārīya, beschädigte Ware. Menschen, die solcherlei Sätze fabrizieren, sprechen hierzulande auch gerne von den Gesellschaftsschichten, die angeblich nur Alkohol söffen, täglich zu lange an der Matratze horchten, um dann auch noch horrende Sozialtarife zu fordern, obwohl die Sozialhilfesätze bis auf die letzte Ziffer hinterm Komma gewissenhaft quergerechnet wurden. Sonderbare Worte erneut: Alkohol von al-kuhl, die Essenz; Matratze von matrah, das Bodenkissen; Tarif von ta´rifa, die Bekanntmachung; Ziffer von as-sifr, die Null.

Die Sprache der deutschen Leitkultur, die ja nicht nur Ausländer anleiten, sondern auch Mittellose zu Disziplin und Fleiß geleiten soll, sie ist eine Sprache, die durchwoben ist mit Worten, die auch aus dem arabischen Sprachraum stammen. (Und auf Termini wie Joghurt, Kiosk oder Schabracke, die nicht aus dem Arabischen, sondern aus dem Türkischen entspringen, sei hier nur am Rande verwiesen.) Das heißt natürlich nicht, dass das Deutsche und das Arabische historisch gesehen eine Symbiose eingegangen wären, auch wenn Sigrid Hunke in ihrem Buch "Allahs Sonne über dem Abendland: Unser arabisches Erbe", 303 Wörter der deutschen Sprache zählt, die arabischen Ursprungs sind; weitere fünfzig astronomische Begriffe fanden außerdem Eingang in die Wissenschaft. Aber es bedeutet, dass die große Scheide zwischen Okzident und Orient, die in diesem Lande gerne mittels Larifari über jüdisch-christliche Traditionen vermittelt wird, mindestens seit dem Augenblick nicht mehr existiert, da Europäer den Fuß auf islamisches Land setzten - oder andersherum, da Muslime europäisches Terrain eroberten und - was gerne unter den Tisch fällt - zivilisierten. Viele der Lehnwörter aus dem Arabischen sind ja mittelbar nach Deutschland gelangt, über Umwege, über Frankreich, Großbritannien oder Spanien - über Länder letztlich, die direkter im Kontakt mit der muslimischen Welt standen.

Da haben wir es ja!, könnte man nun aurufen, das ist der Beweis: der Islam ist in Deutschland nicht heimisch! Aber auch das wäre falsch. Redete man sich damit heraus, dass Franzosen und Briten das Muslimische oder Arabische durch ihren Kolonialismus nach Europa verfrachteten, womit die deutsche Leitkultur quasi unbefleckt würde, weil sie sich nur dem aus Frankreich oder Britannien stammenden Moslemischen erwehrte, so leugnete man damit auch den europäischen Gedanken - plötzlich wollte also Deutschland nicht mehr an der Vielfältigkeit Europas teilhaben, die eben auch das kolonialistische Erbe beinhaltet; da will man lieber deutsch sein, eine deutsche Reinheit bewahren, die es im modernen Europa gar nicht mehr geben kann. Das Szenario von der Bedrohung des Abendlandes würde zu einer Bedrohung des Deutschen umfunktioniert. Das ist den Jüngern der Leitkultur entweder nicht bewusst oder sie nehmen diese Enteuropäisierung gerne in Kauf. Die europäische Idee, für die sich Deutschland stets einsetzte, für die sich auch die amtierende Regierung zuweilen engagiert, kennt eine strikte Trennung von Abendland und Morgenland nicht - beide bedingten einander; das Geschwätz von europäischer Leitkultur greift daher genauso wenig - eine (mittel-)europäische Reinheit, wenn man schon nicht mehr von deutscher Reinheit reden mag, hat es nie gegeben.

Gerade an der Geistesgeschichte Europas läßt sich der Unsinn von einem etwaigen Reinheitsgebot fast schon bildlich nachzeichnen. Das heutige Europa wäre ohne arabische Einflussnahme gar nicht denkbar; oder wie Hunke es sagt: "In der Tat waren die Ströme der Erkenntnisse aus orientalischer Mittlerrolle und eigener Schöpfung die Geburt einer neuen Weltsicht." Aristoteles Werke, die dazu führen sollten, dem abergläubischen Europa des Mittelalters philosophische Grundlagen zu erteilen, auf denen später Humanismus und Aufklärung gedeihen konnten, gelangten über arabische Kontakte zurück nach Europa. Die allgemeine Stimmung des Kulturkampfes aber leugnet die Koexistenz, tut so, als habe stets strikte Trennung geherrscht. Die Koexistenz der Kulturen war natürlich nicht immer friedlich, aber nichtsdestotrotz fand sie statt. Leitkulturen sind Hirngespinste; zu lange lebte man nebeneinander, um fein säuberlich in christliche oder jüdische oder islamische Reinheiten unterteilen zu können - oder mit den Worten Goethes: "Wer sich selbst und andere kennt; wird auch hier erkennen: Orient und Okzident; sind nicht mehr zu trennen."


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