Ordnungs-Scham

Seit dem dritten Kind kämpfe ich mit den letzten Fesseln der Ordnungs-Scham. Inzwischen stecken nur noch die Füße im Seil. Sozusagen.

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Es ist aber auch nicht leicht, wenn Nachbarin X schon am frühen Morgen den Pflänzchen vor ihrer Haustür den Gar aus macht – den winzig kleinen, die aus den Steinritzen sprießen. Trotzig begieße ich das Löwenmäulchen auf unserem Hof, das in ebensolcher Ritze haust.

Nachbarin Y stöhnt über ihren Berg Bügelwäsche. Die Sonne scheint, ich drücke mir die Sonnenbrille tiefer ins Gesicht und packe den Picknickkorb. Der nächste Regen kommt bestimmt.

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Vielleicht hausen die ja im Keller?

Die Scham überkommt mich immer noch, wenn auch zunehmend seltener. Also die Scham ob der Krümelberge, Sandhaufen und Wäschetürme; zu fest sitzen die Sauberkeitsmaßstäbe meiner Vorfahrinnen in meiner Brust.

Bei Ricarda zum Beispiel. Ricarda ist furchtbar nett, doch die Abwesenheit von Krümeln und Krimskrams in ihrem Haus erhebt sie in meinen Augen zu einer Art Gottheit. In Wirklichkeit lebt sie vielleicht bloß im Keller und öffnet das Wohnzimmer nur zu Demonstrationszwecken. Wo die Kinder wohl schlafen?

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Ricarad schiebt sich ungeniert zwischen Spielzeug und Kuschelkissen auf unser Sofa und genießt ihren Milchkaffee. Ich denke, wir mögen uns. Trotz dem.

Ordnungs-Wahn

Auch in Sofias aufgeräumtem Häuschen fühle ich mich wohl. Überall hängt Selbstgemaltes, und das schöne Ambiente lässt mich neidisch blinzeln. Da steht nix rum!

Manchmal ist sie auch bei uns.

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“Mensch, Mara”, gesteht sie, “das beneide ich an dir. Das Regal hier zum Beispiel. Dass du hier seelenruhig Kaffee trinken kannst, während sich hier ungeordnete Haufen türmen – ich müsste erstmal aufräumen.” Geschenkt. Ich gestehe ehrlich, dass ich ja nie zu meinem Käffchen käme, wollte ich erstmal alles in Ordnung bringen.

Komplimente am Gartenzaun

Über einen Punkt bin ich aber noch nicht hinweg: Unseren Hof.

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Er sieht täglich anders aus, oder um den Ehemann zu zitieren: “Das sieht aus wie So*dom und Gom*orrha.” Wir verzeihen ihm den nicht gänzlich korrekten Kontext.

Die Häuschen links und rechts von uns sind gepflegt, Orchideen stehen auf den Fensterbrettern und die meisten Fenster sind gewaschen. Könnte ich da nicht wenigstens den Schein wahren und vor der Haustüre … ?

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Da legt eine junge Frau ihre Hände auf unseren blau gestrichenen Lattenzaun.

“Ich möchte Ihnen ein Kompliment machen”, strahlt sie und lässt ihren Blick über die zahlreichen corpi delicti streifen.

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Ich beginne zu zittern.

“Jedesmal, wenn ich an Ihrem Hof vorbeigehe”, fährt sie fort, ”freue ich mich.”

Ich halte den Atem an.

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“Er sieht jedesmal anders aus. Man sieht gleich, dass hier Kinder spielen. Und das finde ich total schön. Dass die das so dürfen, meine ich.” Sie grüßt freundlich und winkt auf ein Bald.

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Ich lehne im Gartensessel und trinke meinen Kaffee. Ganz von allein gleiten die letzten Fesseln von meinen Füßen.



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