Das deutsche Kastensystem der Armen beherberge, nach bestem mittelalterlichen Brauch, würdige und unwürdige Arme, erklärt Ulrike Herrmann in einem taz-Artikel. Sie schreibt: "Anders als die Hartz-IV-Empfänger gehören die Leiharbeiter zu den "würdigen" Armen, die Solidarität einfordern dürfen. [...] Unwürdig ist jeder, der angeblich selbst schuld ist an seinem Schicksal. Also die Bettler und Vaganten, wie sie früher genannt wurden; die Langzeitarbeitslosen, wie sie heute heißen. Würdig hingegen sind alle, die trotz Arbeit arm sind oder nicht arbeiten können: Ausgebeutete, Kranke, Mütter - und Kinder." Und gerade Kinder, als "würdige Opfer" die sie darstellen, werden in heutiger Zeit dazu instrumentalisiert, zwischen Armen oder Opfern zu scheiden - "das Kind" nimmt die Paraderolle des "würdigen Opfers" ein, drückt andere Opfer- oder Armengruppen in die Rolle "unwürdigerer Opfer".
Kurt Dutz schrieb einmal, dass das Gerede von Kinderarmut vom eigentlichen Problem ablenke. Denn "arme Kinder gibt es hierzulande in der Regel nur als Kinder armer Eltern. "Kinderarmut" ist also kein "besonderes" Problem, das sich separat lösen ließe." Das trifft besonders in der Armutsdebatte den Nagel auf den Kopf. Man muß sich diese ganz besondere Prädestinationslehre, die sonderbare Resultate gebiert, mal vor Augen führen: da kann ein Kind unwürdiger Armer (Hartz IV-Bezieher) ein würdiges armes Seelchen sein - aber nur solange, bis es alt genug ist, entweder nicht mehr arm oder nicht mehr würdig sein zu müssen; das liegt dann in den Fähigkeiten des Herangewachsenen begraben. Die erwachsene Armut wird allerdings mit der augenscheinlich mittelalterlich-christlichen Losung "Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!" gerügt - und das suggeriert: das Kind ist hilflos, gottverlassen, kein Gott oder wer auch immer hilft ihm.
Augenfällig sind all die Engagements prominenter Damen und Herren, die sich für Kinder einsetzen. Gegen Kindesmissbrauch, zur Hilfe an hungernden Kindern, zur Bekämpfung des Kindersoldatentums! Missbrauch an Erwachsenen, hungerne Erwachsene, erwachsenes Soldatentum: da zeichnet sich weniger Fürsorge ab. Einer missbrauchten Zwanzigjährigen wirft man nicht selten vor, ihr aufreizender Minirock sei doch Erklärung genug dafür, dass sie vergewaltigt wurde; warum bauen erwachsene Hungerleider nicht einfach Weizen an, fragt man blasiert; wer zwingt denn irgendeinen afrikanischen Mittdreißiger dazu, sich eine Uniform anzulegen, gibt man zu bedenken - unwürdige Opfer und Arme: sie sind einfach zu alt für bedingungsloses Mitleid und Mitfühlen, zu alt für Solidarität.
Die Hilfe an Kindern, die so richtig ist, wie die Hilfe an allen, die eben solche, Hilfe also, benötigen, sie ist ein emotionalisierter Ritus innerhalb der westlichen Gesellschaft - die Hilfe von UNICEF wird als bedingungslos richtig wahrgenommen; Hilfe für greise Bürgerkriegsopfer wird hingegen oftmals kritischer betrachtet, gerade auch dann, wenn es sich um Zivilisten auf Seiten politischer oder ideologischer Kontrahenten handelt. Sich bedürftigen Kindern zu widmen ist wahrlich eine noble Aufgabe - Bedürftige aber in Altersklassen zu kategorisieren, das ist so unehrenhaft wie unmoralisch. Gelegentlich macht ein moralisches Gedankenexperiment die Runde: "In einem brennenden Haus sitzt ein Sechsjähriger und ein Achtzigjähriger - die Zeit reicht aber nur, um einen von beiden zu retten: für wen entscheiden Sie sich?" Die Mehrheit griffe sich das Kind, mit dem Argument, der Greis hätte bereits ein Leben besessen - aber das ist unter den Aspekten der Ethik Unfug. Beide stellen, um es mit Albert Schweitzer zu sagen, Leben dar, das leben will; sich gegen das Leben zu entscheiden, egal wie alt es ist, es ist immer eine ethisch problematische Entscheidung. Der finale Rettungabschuss von entführten Flugzeugen, den das Bundesverfassungsgericht als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar wertete, ist unter diesen ethischen Gesichtspunkten zu verstehen. Leben kann nämlich nicht gegeneinander aufgewogen werden; das Kind im Feuer hat denselben Lebenswillen und damit dasselbe Lebensrecht wie der Greis - der Greis würde niemals aus dem Feuer herausrufen, man möge den Knaben retten, er habe ja bereits genug gelebt. Ein solches Szenario eines brennenden Hauses mit seinen bemitleidenswerten Insassen ist keine Situation, in die man sich hineinwünschte, denn es ist eine Situation, in der man nicht rational entscheiden kann - und es ist immer eine Situation, in der das Leben so oder so verliert.
Die Entscheidung der Mehrheit, das Kind zu retten, atmet die Weltanschauung, wonach es würdigere Opfer gibt als andere. Opfer oder Notleidender ist nie gleich Opfer oder Notleidender - es gibt Attribute, die man berücksichtigt. Besonders eklatant zeigt sich die Diskrepanz bei der Opferbewertung immer dann, wenn emotionalisiert von Verbrechen an Kindern berichtet wird - der Ausfall Til Schweigers in einer abendlichen Talkshow ist geradezu ein Präzedenzfall dafür, wie man Verbrechen an Kindern, die selbstverständlich bestraft gehören, für gravierender und schwerwiegender erachtet, als Verbrechen an anderen gesellschaftlichen Gruppen. Jemand, der Kindern dergleichen antut, so entblödete sich Schweiger nicht zu fordern, solle keine Rechte mehr besitzen - alles andere sei deutsches Gutmenschentum, was ihn nebenbei sehr ankotze. Man lasse mal beiseite, wie ähnlich solcherlei Forderungen denen sind, die man auch in der NPD vernehmen kann, und man lasse auch beiseite, wie weit es bei so einer Forderung noch zur Todesstrafe ist: es geht auch hier explizit um Verbrechen an Kindern, die laut angeklagt werden, während die Anklagefreudigkeit immer dann wesentlich zurückhaltender wird, wenn die Opfer beispielsweise erwachsene Ausländer oder aufreizende Frauen sind - bei Senioren, die geschlagen werden, wütet die Öffentlichkeit dann schon wieder eher: denn auch der Greis ist zuweilen hilflos und daher jemand, der würdiger ist, bedauert und verteidigt zu werden. Doch nicht zu laut, denn Kinder sind unsere Zukunft, Greise aber nur unnütze Esser!
Nadja Auermann möchte ein Gesetz gegen Kinder-Models, wie sie es nennt; Til Schweiger möchte Personen, die Kinder missbrauchen, die Bürgerrechte aberkennen; Audrey Hepburn stritt für die hungernden Kinder der Welt. Keine Frage, leidende, missbrauchte, ökonomisch verheizte Kinder benötigen dringend Solidarität und unkomplizierte Hilfe; und wer Kinder auf solcherlei Weise belästigt, gehört bestraft. Das Primat, das da heißt "Kinder sind besonders hilflos!", ist aber nicht mehr als emotionalisierte Effekthascherei, ist das, was Schweiger auf Seiten derer, die die Resozialisierung gemeinhin für ein hohes und demokratisches Gut halten, wittert: nämlich Gutmenschentum. Ist denn ein erwachsener Mann, der wochenlang kaum etwas gegessen hat, unterernährt ist, nicht auch besonders hilflos? Oder ein erwachsener Soldat, dem man androht, man würde seine Familie töten, wenn er desertiert - ist der nicht ohnmächtig wie ein Kindsoldat auch?
Die Unterscheidung zwischen würdigen und unwürdigen Personenkreisen, die Hilfe benötigen, sie ist die Spielwiese der karitativen Selbstdarsteller aus Politik und Wirtschaft, Kunst und Kultur. Es brauchen nicht Kinder besondere Hilfe - Menschen in Notsituationen brauchen besondere Hilfe! Menschen im Allgemeinen, ohne Rücksicht auf ihr Alter! Man muß es ganz gezielt universalistischer formulieren! Das Kind leidet nicht mehr als ein Erwachsener leidet. Leise schwingt da ein verklärter Romantizismus mit, wonach das Kind eine besonders reine Seele habe - und aus diesem Romantizismus wird schnell christlicher Eifer, wenn man nämlich schlussfolgert, dass reine Kinderseelen immer den Vorzug haben sollten vor den Tiefen verunreinigter Erwachsenenseelen...