Neben mir sitzt ein Mensch mit einem iPhone und checkt seinen Status und den anderer auf Facebook. Er macht einen sehr nervösen Eindruck, streckt sich und hat es schwer ruhig sitzen zu bleiben. Kurz hatte er es weggelegt, aber schon gleich nimmt er es wieder in die Hand um den nächsten Musiktrack anzuspielen. Ich sitze im Zug und draußen fährt eine wunderschöne, malerische Herbstlandschaft vorbei mit aufgehender Sonne und sogar atmosphärischem Nebel über den Seen. Und der Mensch neben mir sitzt in seinem Sessel und versucht die Zugfahrt "zu überbrücken".
Vor einigen Tagen kam eine Studie zu Tage, nach der eine halbe Million Deutsche internetsüchtig sind. Entweder zeigen diese Menschen, dass sie erste Entzugserscheinungen haben und es schwer haben, sich von ihrem Computer lösen zu können, oder sie versuchen ununterbrochen online zu sein.
Dieses Schicksal ist mir vertraut und ich bin froh, von der zweiten Gruppe in die erste Gruppe mich verbessert zu haben. Ein halbes Jahr lang, bis zum letzten Herbst, habe ich regelmäßig an einem anderen Blog geschrieben und dort mit einem Twitter-Account auch meine Artikel angepriesen. Twitter gab mir gleichzeitig die Möglichkeit, einem ungeahnten Nachrichtenfluss zu folgen mit Informationen, die ich für mich und meine Wahrnehmung der Welt als wichtig ansah.
Als ich merkte, dass ich all die Links, die dort angepriesen wurden nicht mehr folgen konnte, versuchte ich schließlich gar nicht mehr Twitter aufzurufen. Ehrlicherweise gelang mir das erst nachdem durch einen dummen Unfall mein Computer kaputt ging. Natürlich dachte ich sofort reparieren zu müssen, allerdings stellte sich das bei einem "wirtschaftlichen Totalschaden" als schwierig heraus. Ich hatte immer noch die Möglichkeit, bei Freunden und auf der Arbeit ins Internet zu gehen, weshalb ich die Anschaffung eines neuen Computers aufschob – und zwar für ein halbes Jahr.
In diesem halben Jahr hat sich meine tägliche Routine ohne Internet sprichwörtlich auf den Kopf gedreht. Was für mich normal war – das Onlinesein – wurde jetzt zur Ausnahmeerscheinung. Ausnahmen, wie das morgendliche Lesen einer Zeitung (aus Papier), das Schauen von Fernsehen am Abend und viele stille Stunden mit einem Buch wurden zum Alltag. Ich ging fortan zwei bis drei Stunden eher zu Bett, schlief länger und nahm meine Pausen wenn ich sie brauchte.
Das problematische beim Onlinesein war nicht die Länge des Informationskonsums sondern dass ich nicht mehr meine Pausen nahm. Ständig gab es Neues zu entdecken. Unter dem nächsten Link verbarg sich eine neue Tagesnachricht, eine Aktualisierung oder die Möglichkeit einer Bekräftigung in einem sozialen Netzwerk. Ich lebte in der ständigen Erwartungshaltung und der Bereitschaft, dass sich minütlich das Weltgeschehen ändert oder auf Facebook jemandem mein Status gefällt. Die Besucherstatistik auf meinem Blog öffnete ich zwanzig Mal am Tag. (Bei durchschnittlich 50 Besuchern täglich ist das ein äußerst geistloses Unterfangen.)
Nach diesem halben Jahr habe ich also wieder einen Computer und bin auch wieder zu hause online. Mein Leben ist daraufhin augenblicklich in alte Bahnen zurückgeschwenkt. Die Zeitung wird nicht mehr angefasst wenn sie eintrifft, der Fernseher bleibt aus und Bücher lese ich fast ausschließlich wieder nur wenn ich mit dem ÖPNV fahre. Dennoch haben sich meine "Onlineroutinen" gewaltig im Vergleich zum letzten Herbst geändert.
Der Blog an dem ich damals schrieb liegt genauso wie sein Twitter-Account liegen auf Eis. Die Statistiken für den liegen mittlerweile bei 100 bis 200 Besuchern täglich, aber mehr Bekräftigung erfahr ich durch den auch nicht mehr. Nachrichten werden vielleicht fünf Mal am Tag aufgerufen, aber auch nur weil die Tagesschau oder die taz nicht viel öfter ihr Angebot aktualisieren. Mein Browser crasht immernoch, wenn ich vierzig Tabs offen habe, aber dann mach ich einfach die Tabs zu für die ich mich entscheide nicht mehr zu lesen. Oder lege die Seite mit dem Firefox-Plugin "Scrapbook" in ein Archiv wo die Seite mich auch nicht mehr stört.
Manchmal falle ich immer noch in die alten Angewohnheiten zurück und kann mich nicht vom Zugriff auf die neuen Informationen trennen. Dann beobachte ich aber immerhin mich selber dabei wie ich wie ein Getriebener vor dem Ding sitze und lache mich innerlich dabei selber aus. Und gehe dann lieber eine Runde joggen, mache Essen oder nehme eine Dusche. Alles wobei ich nicht denken und keine kurzlebige Aufmerksamkeit brauche. Bei anderen sind dagegen – ohne Scherz – wieder handwerkliche Dinge im Kommen wie Häkeln, Stricken, Schnitzen und id. Solche "stupiden" Tätigkeiten werden in unserer Informationsbohème zunehmend wahrer Luxus.
Der Mensch neben mir hat sein iPhone immernoch weggelegt und seitdem nicht wieder angefasst. Vielleicht ist er ja nur müde. Vielleicht hat er das Onlinesein als Problem so ähnlich verstanden wie ich. Oder der Zug fährt einfach zu schnell, so dass sein Handy einfach keine stabile Verbindung herstellen kann.
Glück für ihn.
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