Die US-amerikanische Energiepolitik ist von Kontinuität geprägt
Am 2. September war es wieder mal so weit: 13 Besatzungsmitglieder mussten sich durch beherzte Sprünge ins Wasser des Golfs von Mexiko in Sicherheit bringen, nachdem ein Brand auf ihrer Ölplattform „Vermillion 380“ außer Kontrolle geraten war. Alle Besatzungsmitglieder konnten kurze Zeit später von Rettungskräften geborgen werden. Diese jüngste Brandkatastrophe auf einer Ölbohrplattform, die sich nur unweit der im April havarierten Unglücksplattform „Deepwater Horizon“ befindend, generierte aber nur eine flüchtige und kurzzeitige Welle medialer Aufmerksamkeit. Neben dem üblichen Gewöhnungseffekt dürfte bei dem rasch nachlassenden Medieninteresse auch der Umstand ausschlaggebend gewesen sein, dass bei diesem Unglück kein Rohöl in den Golf von Mexiko austreten konnte.
Dieser jüngste Unglücksfall illustriert aber auch treffend die ungebrochene Kontinuität der US-amerikanischen Energiepolitik bezüglich der Hochseeförderung von Rohöl. Von einem signifikanten Kurswechsel, oder gar einem grundsätzlichen Umdenken kann in der amerikanischen Energiepolitik in dieser Frage keine Rede sein. Der einflussreichen Lobby der Ölindustrie gelang es hingegen bereits, die geplanten schärferen Richtlinien zu Tiefseebohrungen, die als Konsequenz aus der bisher größten Ölkatastrophe der US-Geschichte geplant waren, entscheidend zu verwässern.
So könnten selbst nach den neuen, angeblich verschärften Bestimmungen künftige Unterwasser-Bohrlizenzen auf Grundlage einfacher „Umwelteinschätzungen“ (Environmental Assessment) erteilt werden, klagten Umweltschützer gegenüber US-Medien. Diese knappen Papiere, die den Umfang weniger Schreibmaschinenseiten erreichten, glichen bloßen Formalitäten, die kaum Aufschluss über eventuelle Risiken und Gefahren für die Umwelt in der betroffenen Region geben würden. Umfangreiche Umweltstudien, als „Environmental Impact Statement“ bezeichnet, sind auch gemäß den neuen, am 16. August von der US-Regierung erlassenen Richtlinien zu Tiefseebohrungen nicht ausdrücklich vorgesehen.
Diesen politischen Sieg konnte die Ölindustrie aufgrund einer massiven Lobbykampagne erringen, die sie gleich nach Ausbruch der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko startete. So hat die wichtigste Lobbygruppe der Ölindustrie, das American Petroleum Institute, seine Aufwendungen für Lobbytätigkeit in den drei Monaten nach dem 20. April laut einem Bericht der Los Angeles Times auf 2,3 Millionen US-Dollar verdoppelt. Der Verursacher der Ölpest, der Ölmulti BP, startete ebenfalls in eine regelrechte Lobbyoffensive und Relations-Kampagne, bei der er auf seine besten Kontakte zu Lobbyfirmen und Anwaltskanzleien zurückgreifen konnte, die zumeist von ehemaligen führenden Politikern aus der Busch oder Clinton-Administration geleitet werden. Seine weitreichenden Verbindungen in Washington konnte BP durch eine intensive Lobbytätigkeit in den vergangenen Jahren aufbauen. Laut dem Wal Street Journal investierte der Ölkonzern seit 2004 circa 625 Millionen Dollar in Lobbytätigkeit in der US-Hauptstadt. Die gesamte amerikanische Ölindustrie wendete für den gleichen Zweck allein 2008 an die 123 Millionen US-Dollar auf.
Der enorme Einfluss der Öl-Lobby in Washington resultiert aus der herausragenden ökonomischen Bedeutung, die der Ölbranche in den USA zukommt. Alle US-Administrationen müssen unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit und politischen Agenda dieser geballten ökonomischen Macht Rechnung tragen. So verwundert es kaum, dass die demokratische Administration von Barack Obama im Endeffekt die gleiche Politik gegenüber dem Erdölsektor praktiziert, wie sein offen als „Ölmann“ auftretender Amtsvorgänger George W. Bush.
Auch im Vergleich zu anderen kapitalistischen Industrieländern fällt der Verbrauch der USA besonders hoch aus. Die Vereinigten Staaten verbrauchen laut einer Studie der Financial Times an die 20 Millionen Barrel Erdöl – täglich. Obwohl in den USA nur 4,5 % der Weltbevölkerung leben, verbrauchen diese mehr als 24 % des weltweiten Tagesbedarfs. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Erdölprodukten ist in den Vereinigten Staaten laut Greenpeace doppelt so hoch wie in der Europäischen Union, die ein ähnliches Industrialisierungsniveau und ein ähnlich hohes Bruttoinlandsprodukt (BIP) aufweist.
Der hohe Energieverbrauch der USA resultiert zum einen aus der nahezu vollständigen Ausrichtung der Verkehrsinfrastruktur auf Personenkraftwagen. Jenseits der nennenswerte Ausnahme New Yorks sind energiesparende öffentliche Verkehrsmittel selbst in den Großstädten - wie etwa Los Angeles - zumeist unterentwickelt, beziehungsweise schlicht nicht vorhanden. Hinzu kommen die längeren Anfahrtswege zur Arbeit und zum Einkauf, die mit der Ausformung der amerikanischen Ownership-Society (Eigentümergesellschaft) einhergehen. In den Vereinigten Staaten dominiert immer noch das private Eigentum an Wohnimmobilien, zumeist Einfamilienhäusern, die in ausufernden Suburbs (Vorstädten) seit den Siebziger Jahren aufgebaut wurden, als im Zuge der umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Krise der Stagflation die breite Stadtflucht der US-Mittelschicht einsetzte. Die Entfernungen zwischen Arbeitsstelle, Einkaufsmöglichkeit und Wohndomizil sind in den Vereinigten Staaten einfach viel größer als in Europa. Hinzu kommt, dass die meisten Einfamilienhäuser in den USA schlecht isoliert sind und in Leichtbauweise errichtet worden, sodass der Energieaufwand für Heizung und die weitverbreiteten Klimaanlagen höher ist.
Einige objektive Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle bei diesem hohen Energieverbrauch, da beispielsweise die klimatischen Bedingungen in den USA extremer sind als in vielen anderen Industriestaaten: mit Winterfrösten, die im Mittleren Westen schon mal in sibirische Dimensionen vorstoßen können und brüllend heißen Sommern im Südwesten und Süden, die den Energieverbrauch aufgrund des Einsatzes von Klimaanlagen in die Höhe schnellen lassen. Letztendlich sind auch die großen Entfernungen zwischen den Ballungsräumen in den USA ebenfalls für den in Relation zu Europa höheren Energiekonsum verantwortlich, da die Bevölkerung der Vereinigten Staaten sich vor allem an den Küsten dieses Landes in Kontinentgröße konzentriert. Der Verkehr verschlang in 2007 in den USA gut 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs, während es in Deutschland „nur“ 30 Prozent waren.
Dabei fungieren die Vereinigten Staaten aber auch als einer der weltweit größten Ölproduzenten. Mit einer täglichen Fördermenge von 6,8 Millionen Barrel Rohöl liegen die USA global auf Platz drei – hinter Saudi-Arabien (Fördermenge: 10,8 Millionen Barrel) und Russland (9,7 Millionen Barrel). Zudem verfügen Vereinigten Staaten über die mit Abstand größten Raffineriekapazitäten, mittels derer täglich gut 17 Millionen Barrel Rohöl weiterverarbeitet werden können. Erst mit weitem Abstand folgt auf Platz zwei die Volksrepublik China, die eine tägliche Raffineriekapazität von sieben Millionen Barrel aufweist. Trotz dieses enorm ausgebauten Ölsektors und in den kletzten Jahren forcierter Ölförderung auf dem eigenen Territorium ist Washington also im wachsenden Maße auf Importe dieses essentiellen Energieträgers angewiesen. Gut 13,5 Millionen Barrel Rohöl – circa die doppelte Menge der eigenen Ölproduktion - müssen täglich in die USA importiert werden, um den Ölhunger der amerikanischen Volkswirtschaft zu stillen. Nach Angaben der US-Behörde für Energiestatistik (EIA) importierten die Vereinigten Staaten im Jahr 2008 insgesamt 4,7 Milliarden Barrel Rohöl und verarbeiteter Ölprodukte. Die Ölproduktion betrug in den USA im selben Jahr circa 1,8 Milliarden Barrel.
Zu den wichtigsten Öllieferanten der Vereinigten Staaten zählen 2008 Kanada, Saudi Arabien, Mexiko und Venezuela. Seitdem steigende Ölpreise die ökologisch desaströse Förderung von Rohöl aus dem „Ölsand“ in Kanadas westlichen Regionen profitabel gemacht haben, avancierte der nördliche Nachbarstaat binnen weniger Jahre zu einem der wichtigsten Energieversorger der USA. 2,3 Millionen Barrel Erdöl passieren die amerikanisch-kanadische Grenze täglich Richtung Süden. Die amerikanischen Erdölimporte aus Saudi Arabien erreichen nur gut 60 Prozent des Umfangs der kanadischen Einfuhren, wobei sogar die Öllieferungen aus dem gesamten Nahen und Mittleren Osten mit 2,2 Millionen Barrel unter denen Kanadas bleiben. Erwähnenswert sind noch die amerikanischen Erdölimporte aus Süd- und Zentralasien (2,7 Millionen Barrel täglich) und Westafrika (1,9 Millionen). Die wichtigste Förderregion befindet sich für die USA aber südlich ihrer eigenen Grenze. Mexiko und das restliche Mittel- und Südamerika (hier insbesondere Venezuela) liefern täglich insgesamt 4,4 Millionen Barrel des begehrten Rohstoffs an die Vereinigten Staaten. Inzwischen geht auch ein großer Teil des amerikanischen Leistungsbilanzdefizits auf die Energieimporte dieser größten Volkswirtschaft der Welt zurück.
Diese objektive - und weiterhin wachsende! - Abhängigkeit von Ölimporten liefert der amerikanischen Öllobby die Argumente, um auch gegenüber der US-Öffentlichkeit die Forcierung der Ölförderung auf hoher See oder etwa in Naturschutzgebieten in Alaska zu rechtfertigen. Es reicht sich hierbei zu verdeutlichen, dass beispielsweise nahezu ein Drittel der amerikanischen Rohölproduktion durch die Offshore-Förderung gewonnen wird. Allein im Golf von Mexiko befinden sich inzwischen 3442 aktive Ölbohrplattformen, von denen aber bislang nur 62 Rohöl in Meerestiefen von mehr als 200 Metern fördern. Doch gehen die leicht zugänglichen Ölreserven im flachen Gewässern inzwischen zu Neige, weswegen nun die schwer erreichbaren Ölquellen in der Tiefsee erschlossen werden. Die Ölproduktion aus Tiefseegewässern nahm alleine zwischen 2008 und 2009 um 64,7 % zu. Einen Junkie gleich stürzt sich die Ölindustrie nun auf diese letzten noch zugänglichen Ölreserven in amerikanischen Gewässern. Zugleich nimmt der von der Öllobby aufgebaute Druck auf die Obama-Administration zu, auch die letzten noch unerschlossenen Ölvorkommen - etwa in Naturreservaten - zur Ausbeutung freizugeben. Je offensichtlicher sich das Ende des Ölzeitalters abzeichnet, desto einfacher haben es die Ölkonzerne, ihre Interessen durchzusetzen.
Die ehrgeizigen Reformprogramme der Obama-Administration bei der Klima- und Energiepolitik, die auf eine umfassende Energiewende in den USA abzielten, scheinen hingegen an den Widerstand der Energieindustrie und der Republikaner zu scheitern und im Sande zu verlaufen. Um bis zu 80 % sollten die Treibhausemissionen der Vereinigten Staaten bis 2050 gesenkt, der Anteil erneuerbarer Energien bis 2025 auf 25 % gesteigert, und bis 2012 ein bundesweites Eimissionshandelssystem eingerichtet werden; so lauteten die ursprünglichen klimapolitischen Vorstellungen der demokratischen Regierungsmannschaft um Barack Obama. Dabei ist das erste vom Repräsentantenhaus im Juni 2009 verabschiedete Klimagesetzt, der American Clean Energy and Security Act (ACES), immer noch nicht vom Senat bewilligt worden, in dem die Republikaner über eine Sperrminorität verfügen – und dies, obwohl das Weiße Haus sich einen ganz besonderen Kuhhandel einfallen ließ, um republikanische Senatoren für diese ehrgeizige Reform der Klimapolitik zu gewinnen. Ende März verkündete die Obama-Administration, dem Ausbau der von den Republikanern geforderten Öl- und Gasförderung in US-Gewässern im Atlantik, vor der Nordküste Alaskas und auch im Golf von Mexiko zuzustimmen. Auf einer Zustimmung der Republikaner zum ACES wartet das Weiße Haus aber noch heute.