Es ist immer noch spätsommerlich warm in Hebron, allein an den kühlen Nächten merkt man, dass sich auch hier die Trockenzeit langsam dem Ende zuneigt. Mit dem Ende der warmen Jahreszeit endet auch allmählich die Olivenernte, die, wie überall in der West Bank, auch in Hebron schon seit Wochen geschäftiges Treiben ausgelöst hat. Ich habe mich bereits in Deutschland sehr auf diesen Teil der Arbeit gefreut und zugegeben: Ich bin die Olivenernte eher blauäugig angegangen. Von Sam Lee
Ich meinte damals, dass sich “Olivenernte” ja ganz idyllisch, gar romantisch anhört, und abgesehen davon, wie schwer kann das schon sein, Oliven sind ja so klein, die wiegen ja nichts, das geht bestimmt ganz ruckizucki. Nun, nach der Hochsaison der Ernte, bin ich immer noch der Meinung, dass Olivenpflücken lohnenswert ist, ich würde die Erfahrung nicht missen wollen und kann sie jedem nur empfehlen. Aber mit meiner Annahme einer “idyllischen, romantischen ruckizucki-Olivenernte” lag ich ziemlich daneben. Olivenpflücken macht zwar Spaß, ist aber vor allem harte Arbeit. Zwar gibt es in der Stadt Hebron deutlich weniger Olivenbäume als in den vielen Dörfern im Süden, aber auch hier bekamen die Schulkinder zur Mitte des Monats für einige Tage schulfrei um bei der Ernte zu helfen. Ganze Familien stehen an diesen Tagen in aller Frühe auf, um kurz nach Sonnenaufgang bei ihren Bäumen zu sein. Die Kleinen steigen mit Hilfe der Großen auf wacklige Holzleitern und pflücken die grünen und schwarzen Früchte von den knorrigen Ästen, die auf großen Plastikplanen gesammelt werden. Männer und Frauen, jung und alt, drei, teilweise sogar vier Generationen – alle packen mit an.
Unter den gutmütigen Augen von Idriss, einem Anwohner des Tel Rumeida-Viertels in der Altstadt, helfen heute wieder zahlreiche internationale Freiwillige bei der Ernte. Mitglieder von ISM (International Solidarity Movement), CPT (Christian Peacemaker Teams), die wie wir in Hebron stationiert sind, aber auch viele Besucher aus Italien und Spanien sind hier. Diejenigen, die nicht auf den Bäumen herumkraxeln, rutschen auf den Plastikplanen unterhalb der Äste herum und sortieren eifrig Oliven in verschiedene Eimer. Die grünen Oliven, erklärt Idriss, werden eingelegt und als ganze Frucht gegessen. Oliven mit dunkel gefärbten Stellen sind in den “grünen Eimern” nicht erlaubt, sagt er, und hebt schelmisch-streng den Zeigefinger. Gemischtfarbigen und schwarze Oliven hingegen sind schon reifer und ölhaltiger. Sie werden gesammelt und zu einer der kleinen Olivenöl-Fabriken in der Umgebung gebracht.
Idriss’ Bäume sind sehr alt, und je älter sie sind, desto breiter ist ihr Stamm. Mit ihren tiefen Furchen sehen sie aus wie riesige, überirdische Wurzeln. Die ältesten von ihnen haben weit mehr als die britische, jordanische, jetzt die israelische Besatzung erlebt, sein ältester Baum ist über 1,500 Jahre alt, sagt Idriss voller Stolz. Manchmal, wie jetzt, wenn er aufgeregt ist, redet er mit mir auf Deutsch. Er hat über 6 Jahre lang in Deutschland gelebt. Und während er an den Ästen herumzupft, zählt immer mal wieder und in schier unglaublicher Geschwindigkeit die Städte auf, die er dort besucht hat.
Die alljährliche Olivenernte wie hier in Tel Rumeida ist eine der wichtigsten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ereignisse für die palästinensische Bevölkerung. Beinahe die Hälfte (48%) der palästinensischen landwirtschaftlichen Gebiete ist bepflanzt mit ca. 8 Millionen Olivenbäumen. Die Olivenöl-Industrie macht 14% des landwirtwschaftlichen Einkommens in den besetzten palästinensischen Gebieten aus, sie ist die Existenzgrundlage für rund 80,000 Familien. (Statistiken von UN OCHA, Olive Harvest Fact Sheet Oct. 2012).
Über bloße Zahlen und Fakten hinaus haben wir aber etwas bei der Olivenernte gelernt, das nicht in Statistiken zu finden ist: Abgesehen von der ökonomischen Bedeutung sind die Palästinenser tief emotional mit ihren Bäumen verbunden. Ihre Bäume sind wie Freunde, die sie jeden Tag ihres Lebens begleitet haben. Mehr noch, Olivenbäume sind für die Palästinenser gesegnete Bäume, “blessed trees”, verwurzelt in das Land und im
Für uns ist im Gespräch mit Menschen wie Idriss nun auch mehr als zuvor nachvollziehbar, wie jeder Angriff auf die Olivenbäume die Seele der Palästinenser trifft. In den vergangenen Jahren gab es in Hebron, wie überall in der West Bank, immer wieder Übergriffe der Siedler, die – vormals bei Nacht, in diesem Jahr sogar bei hellichtem Tageslicht – die Oliven der Tel Rumeida-Anwohner stahlen und Äste abhackten, während die israelische Armee meist viel zu spät oder nur halbherzig einschritt. Gerade Idriss’ Bäume sind in dieser Zeit gefährdet, da sie direkt neben dem vielbesuchten “Abrahamsbrunnen” stehen, von dem die Siedler glauben, dass einst Abraham darin gebadet hat. In anderen Regionen in der West Bank werden Olivenbäume entwurzelt, vergiftet und verbrannt (s. o. UN OCHA Fact Sheet, unter 4.), und Olivenbäume sind oftmals das Ziel von “price tags”, von gezielten Racheaktionen seitens der Siedler in der gesamten Region. Diese Übergriffe sind der Grund, warum wir hier sind, aber auch die vielen anderen internationals, um eine internationale “protective presence” zu gewährleisten
Seit der Antike sind im Mittelmeerraum die Zweige der Olivenbäume das Symbol für Frieden. Ein Olivenzweig erscheint in der frühen christlichen Tradition im Schnabel einer Taube, Olivenzweige tauchen auf in arabischen Erzählungen, die blaue Flagge der UNO zeigt Olivenzweige, die symbolträchtig die Weltkarte umschließen. Wann erleben die Zweige der alten Olivenbäume von Tel Rumeida den Frieden, den sie symbolisieren?
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Über den Autor:
Seit September ist Sam Lee als Menschenrechtsbeobachter in Hebron im Westjordanland stationiert. Zusammen mit seinen Kollegen des EAPPI versucht er dort zu einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts beizutragen. Sie berichten über Menschenrechtsverletzungen, bieten “protective presence” in Problemgebieten in der Stadt und helfen Eskalationen zu vermeiden. Seine Beobachtungen, Begegnungen und Gespräche arbeitet Sam äußerst lesenswert in seinem Blog Witness Hebron auf. Neben bedrückenden Szenen und Gewalt schildert er dort auch positiv-berührende Momente. Zum Beispiel während der alljährlichen Olivenernte, die er aus unmittelbarer Nähe mitverfolgen durfte.
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