Eine Kritik
von Jost Aé
Vorbemerkung: Auf der Webseite von Olaf Scholz sind unter dem 27. 10. 2017 Überlegungen zur Zukunft der SPD zu finden unter:
O. S.: „Keine Ausflüchte! Neue Zukunftsfragen beantworten! Klare Grundsätze!“
http://www.olafscholz.hamburg/main/pages/index/p/5/3211
Das rebellisch intonierte Motto erweckt hohe Erwartungen! Hier nun der Versuch einer kritischen Würdigung! Die Anmerkungen sind entlang des Textes platziert, so, dass genau verfolgt werden kann, was zur Kritik steht. Zugegeben, durch dieses Verfahren nehmen Originaltext und Kritik gewöhnungsbedürftig viel Raum ein. Um die Tiefe der Scholz’schen Argumentation zu erfassen, war es mir nicht möglich, diesen Nachteil zu vermeiden. Andererseits war es nicht machbar, hier noch andere Themen, wie z. B. das innerparteiliche Demokratiedefizit, zu berühren. Auslassungen am Originaltext, der als Zitat behandelt wird, werden wie üblich gekennzeichnet. Sarkastische Einwürfe möge mir der Leser verzeihen – ich konnte mich ihrer nicht entschlagen!
O. S.: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat es nun viermal hintereinander nicht geschafft, die Bundestagswahl für sich zu entscheiden und ein Mandat zur Bildung einer neuen Bundesregierung zu erhalten. …
Keine Ausflüchte: Schonungslose Betrachtung der Lage
O. S.: „Es ist also Zeit für eine schonungslose Betrachtung der Lage. Die Sozialdemokratische Partei hat strukturelle Probleme. Und da führt es nicht weiter, wenn man sich mit Debatten über Plakate oder darüber aufhält, ob der Kanzlerkandidat falsch beraten war oder etwas falsch gemacht hat. Die Vorschläge, die beispielsweise die Initiative SPD++ zu neuen Organisationsmodellen der Partei gemacht hat, verdienen sorgfältige Erörterung und sollten nicht ungehört verhallen. Aber die Lage kann nur dann in vollem Umfang richtig erfasst werden, wenn nicht Ausflüchte den Blick für die strukturellen Probleme verstellen.“
Schon die „schonungslose Betrachtung“ beginnt damit, den Eindruck zu vermitteln, es ginge bei den Problemen und der notwendigen Erneuerung der SPD allein um strukturelle Probleme: Die strukturellen Probleme der SPD sind Schuld am Wählerschwund! Hätte man – ja wer eigentlich? – auf die SPD++ gehört, dann sähe, so wird die Vermutung nahegelegt, alles ganz anders aus.
O. S.: „Ausflucht 1: Noch nach jeder gescheiterten Bundestagswahl wurde die fehlende Mobilisierung der SPD zuneigender Wähler thematisiert. Tatsächlich spielen Verluste, die daher rühren, dass Wahlberechtigte, die bei einer vorherigen Wahl die SPD gewählt haben, das nicht mehr tun, eine Rolle.“ Ja, da schau her, würde der verblüffte Bayer dem pfiffigen Hanseaten entgegnen!
O. S.: „ … Abgesehen davon, dass die Wahlenthaltung von Anhängern überwiegend nicht die Folge von anderweitiger Freizeitplanung am Wahlsonntag ist, sondern von Dissens zur Politik ihrer Partei.“
Richtig! Genau dieser Dissens ist, wenn auch nur so nebenbei erwähnt, der entscheidende Punkt!
O. S.: „Diesmal wurde von der SPD geradezu vorbildlich mobilisiert. Sie hat in kurzer Zeit mehr als 25.000 neue Mitglieder gewonnen.“ Das ist allerdings für einen wirklichen Aufbruch bei einem 80-Millionen-Volk nicht viel. Es geht auch besser – Corbyn schaffte 100 000 in kurzer Zeit!
O. S.: „Fehlende Mobilisierung erklärt dieses Wahlergebnis also nicht.“
In der Tat, es lag nicht an fehlendem Mobilisierungsaktionismus. Dieser war jedoch nicht geeignet, d i e W ä h l e r den Dissens vergessen zu lassen! Es fehlte nicht am guten Willen der Wahlkämpfer, sondern an glaubhafter Substanz ihrer Botschaft.
O. S.: „Ausflucht 2: Die Stärke der SPD in Ländern und Kommunen hat einen klaren Blick auf die tatsächliche Schwäche der SPD im Bundestag vernebelt. Angesichts der seit 2005 neu gewonnenen Verantwortung in den Staats- und Senatskanzleien von Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen war das lange auch nicht verwunderlich.“
Das war ja auch, zynisch gesehen, nicht so schlimm, die Schwäche im Bundestag, hatten wir doch starke Minister und Ministerinnen in der Bundesregierung! – Diese Diagnose ist abenteuerlich, und wenn sie zuträfe, sollten alle derart vernebelten Köpfe ihren Hut nehmen – und nicht mehr zurück auf „Neu-Anfang“!
O. S.: „Nachdem in NRW und Schleswig-Holstein seit diesem Sommer nun Unionspolitiker regieren, muss die Lage aber endlich (!) genauer betrachtet werden.“ Denn man tau!
O. S.: „Ausflucht 3: Die sozialpolitischen Beschlüsse der rot-grünen Koalition, insbesondere die 2003 angekündigte Agenda 2010 und die Rentenbeschlüsse zu Beginn der anschließenden großen Koalition, haben die SPD Kraft gekostet und sie hat darüber an Zustimmung verloren. Das bezweifelt wohl niemand.“
Nicht also die nicht nur angekündigte sondern auch verwirklichte Agenda- und Rentenpolitik hätte die Wähler in Scharen verbittert und der SPD entfremdet? Und die Wähler hätten einer SPD nur nicht mehr ihre Zustimmung geben mögen, weil sie durch ihre sozialpolitische Kraftanstrengung geschwächt wurde? Darauf muss man rhetorisch erst einmal kommen!
O. S.: „Man muss der SPD sozialpolitisch vertrauen. Und die Würde der Arbeit muss im Zentrum ihrer Politik stehen. Daran darf niemand (wieder) zweifeln. Es ist daher gut, dass die SPD seither in beiden großen Koalitionen zahlreiche Reformen vorangetrieben hat, die Deutschland sozialer und gerechter machen. Kurzarbeit hat in der Krise 2008/2009 Hunderttausende Arbeitsplätze gerettet, Branchenmindestlöhne und ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn wurden etabliert, Leiharbeit und der Missbrauch bei Werkverträgen eingeschränkt, erwerbsgeminderte Rentner bessergestellt, langjährigen Beschäftigten der Rentenzugang bereits mit 63 ermöglicht, Kitaplätze ausgebaut, BAföG und Wohngeld erhöht, Alleinerziehende unterstützt, Mieter besser geschützt. Die Aufzählung der von der SPD durchgesetzten Gesetze für ein gerechtes Deutschland ließe sich mühelos verlängern. Das Wahlprogramm der SPD bei dieser Bundestagswahl hat mit zahlreichen Konzepten wie der Wiedereinführung der Parität bei den Beiträgen zur Krankenversicherung oder der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen oder zur Stabilisierung des Rentenniveaus daran angeknüpft. Und der Wahlkampf stand ganz im Zeichen der sozialen Gerechtigkeit. Es ist daher nicht plausibel möglich, das Wahlergebnis damit zu begründen, dass die SPD sich nicht genügend für soziale Gerechtigkeit einsetze.“
Ist es wirklich nicht zu verstehen, dass die Wähler der SPD nicht, wenigstens im wahlpolitisch notwendigem Maß, vertrauen? Die Plausibilität stiege deutlich, wäre man ehrlich und prüfte diese „sozialpolitischen Beschlüsse“ auf ihre soziale Konsistenz, anstatt sie nonchalant auf die Positivseite zu setzen! Bei genauerem Hinsehen ist unschwer zu erkennen, dass diese Beschlüsse allesamt inhaltlich halbherzig gestrickt sind – immer mit der Ausrede, mehr sei nicht drin gewesen.
Unübersehbar gibt es eine heikle Tendenz auch in der SPD, zu glauben, das Wahlergebnis sei auch deshalb so ausgefallen wie es ausfiel, weil man z u v i e l von „sozialer Gerechtigkeit“ geredet hätte! Das verprelle wohlsituierte potentielle SPD-Wähler aus der Mitte! Die Partei muss wissen, auf welche Wähler sie verzichten muss, wenn man ihr „sozialpolitisch vertrauen“ können soll! (Siehe auch unter Punkt „Anerkennung!“)
O. S.: „Ausflucht 4: Nach den beiden vorherigen Bundestagswahlen wurde die fehlende Machtoption der SPD als Hemmnis beschrieben, ausreichend Wählerinnen und Wählern zu gewinnen. Nur diesmal gilt auch das nicht. Zum einen wurde Anfang des Jahres die so gerne erörterte Frage, wie die SPD zu einem Regierungsbildungsauftrag kommt, angesichts steigender Umfrageergebnisse für jedermann beantwortet: Durch das plebiszitäre Mandat eines starken Wahlergebnisses; am besten, indem die SPD als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgeht. Zum anderen ist die SPD mit der Frage, wie sie eine Regierung bilden kann, geschickter umgegangen. Und es wurden auch stets verschiedene Optionen, solange sie rechnerisch möglich waren, in der Öffentlichkeit erörtert. Die Partei hat sich klug fast vollständig aus den Debatten herausgehalten.“
Diese Argumentation ist selbst Ausflucht, verhindert sie doch eine schonungslose Sicht auf die Wahlkampfmisere, die sich so zugleich als Misere der Partei entpuppt. Die Wahrheit ist, die Chance der SPD, stärkste Fraktion zu werden, tendierte von Anfang an gegen Null! Das nicht gesehen zu haben, zeugt von schon sträflicher Realitätsferne. Die einzige Chance, einige der hier skizzierten ehrgeizigen Vorhaben zu verwirklichen, wäre RotRotGrün gewesen, das konnte jeder sich an fünf Fingern seiner linken Hand abzählen! Es hat daher schon etwas Tragisches, dass die Helden dieses Wahlkampfs, diese realistischere Chance nie wirklich im Fokus hatten. Und so merkten auch potenzielle SPD-Wähler schnell, dass RRG weder der Kanzlerkandidat noch die Parteiführung, noch weite Kreise links-phobischer Mitglieder besonders in den alten Bundesländern, wünschten. Dazu kommt, dass der beharrlich geäußerte Wille, Kanzler zu werden, Wähler wenig beeindruckt, wenn dies nicht mit einer realistisch erscheinenden Machtoption und mit personaler Glaubwürdigkeit verbunden ist! – Die Verkennung dieser Tatsache, muss der gesamten Führung als Versagen angelastet werden!
O. S.: „Ausflucht 5: Gerne wird argumentiert, dass die SPD nicht zu alter Stärke zurückkehren könne angesichts der wachsenden Konkurrenz durch zusätzliche Parteien. Im linken Milieu seien die Grünen und dann die Partei Die Linke hinzugekommen. Ganz rechts trete jetzt die AfD auf. Tatsächlich sitzen jetzt sechs Fraktionen im neuen Bundestag. Dieser Einwand überzeugt aber nicht. Ganz abgesehen davon, dass im ersten und zweiten Deutschen Bundestag auch viele Parteien saßen. Wenn die Wahlergebnisse so ausgefallen wären, wie das Frühjahr hoffen lassen durfte, säßen auch sechs Fraktionen im Bundestag. Aber ein Sozialdemokrat wäre Kanzler.“
Gewiss, die abgewiesene Argumentation ist falsch, aber der Verkehrung von Ursache und Wirkung wird nicht widersprochen. Fakt ist doch: w e i l die SPD, im Verein mit den anderen demokratischen Parteien, Vertrauen verloren hat, sind die Wähler abgewandert. Die Gründe kann man nur bei sich selbst suchen und finden.
„Ausflucht 5“ flüchtet selbst vor der Wahrheit und hält pseudo-logisch, also falsch, dagegen: Nicht das Frühjahr ließ hoffen, sondern die Hoffnung der Menschen auf Schulz ließen die Partei träumen: Die Frage muss daher so gestellt werden: Warum wurde die Hoffnung enttäuscht, warum platzte der Traum?!
O. S.: „Die Herausforderungen, vor denen die SPD steht, sind grundsätzlicher:
Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung
Es ist kein Zufall, dass die sozialdemokratischen Parteien in Europa, und generell in allen klassischen Industriestaaten, fast zur gleichen Zeit nicht mehr an frühere Wahlerfolge anknüpfen können.“
Genau das gälte es zu untersuchen! Es kann doch nicht trösten, dass auch andere schwächeln und abgestraft werden. Die „schonungslose Betrachtung“ der Lage muss differenzieren: in GB schwächelt die Labourparty keineswegs, in Frankreich gibt es eine relativ starke Linke, die dortigen „Sozialdemokraten“ haben allerdings regierend ihr Ansehen ruiniert! Warum? – Und die sozialistischen Parteien im Süden Europas – von den nördlichen Schwester-Parteien schamlos im Stich gelassen, weil sie sich ihrem neoliberalen Kurs verweigern – spielen sie etwa keine erwähnenswerte Rolle? s. a. unten!
O.S.: „Die sozialdemokratischen Parteien in diesen wirtschaftlich erfolgreichen Ländern stehen vor der Herausforderung, dass die – im Vergleich zu den Jahrzehnten davor – geringere Wachstumsdynamik seit den achtziger Jahren, die Globalisierung und die technologischen Veränderungen, namentlich die Digitalisierung, vielen Bürgerinnen und Bürgern (berechtigte) Sorgen bereiten. Überall weisen die Statistiken sinkende Löhne in den unteren Einkommensgruppen und nicht selten auch stagnierende Einkommen in der Mittelschicht aus. Und das sogar, wenn die Volkswirtschaft prosperiert oder wie in Deutschland die Beschäftigungsstatistik Rekordzahlen vermeldet. Die Schere zwischen denen, die am oberen Ende der Einkommensskala stehen und den unteren Einkommensgruppen“ (sprich: zwischen arm und reich!) „geht wieder auseinander, nachdem es bis zum Ende der siebziger Jahre eine lange Zeit umgekehrt (?) war. Langsam aber unübersehbar nimmt die Hoffnung, dass die Zukunft besser wird, bei Teilen der Bevölkerung ab. …“
In der Tat, die sozialdemokratischen Parteien stehen vor großen Herausforderungen! Der real existierende Kapitalismus steckt in einer Dauerkrise: das Wachstum, sein wichtigstes Lebenselixier, sinkt; er muss, um sein einziges Ziel, den maximalen Profit, zu erreichen, die Ausbeutungsrate erhöhen – mit auch d e n Folgen, die oben beschrieben werden. Hier aber einen schlichten, quasi fatalistischen Zusammenhang mit den abnehmenden Wahlerfolgen, sprich Wahlniederlagen, zu unterstellen, verbaut den Blick auf die schmerzliche Wahrheit: d i e s e Parteien haben versagt! Jede andere Deutung käme einem Offenbarungseid der Sozialdemokratie gleich! Vor genau diesen Herausforderungen zu kapitulieren, sie nicht im Gegenteil als Chance zu sehen, Partei für das neue Prekariat zu ergreifen, nähme ihr jede Existenzberechtigung! Aber ist es noch schlimmer: Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung haben an der Prekarisierung emsig mitgewirkt und tun dies bis auf den heutigen Tag. Das Dilemma der SPD kann am besten ausgedrückt werden durch die beiden ideologisch besetzten Schlüsselworte: „Wirtschaftskompetenz“, der sich die SPD rühmt, und „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“, wofür sie geschmäht wird.
O. S.: „In dieser veränderten Welt müssen die sozialdemokratischen Parteien plausible Antworten auf die Frage geben können, wie eine gute Zukunft möglich ist, die sich nicht auf die natürlichen Profiteure der Globalisierung und Digitalisierung beschränkt. Die sozialdemokratischen Konzepte müssen deshalb weiterentwickelt werden. Sie müssen gewährleisten, dass der Fortschritt, der mit der Globalisierung und Digitalisierung verbunden ist, auch für die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger als Fortschritt spürbar wird.“
Ausflüchte: – „In dieser veränderten Welt…“, „Globalisierung und Digitalisierung“! – Die Sozialdemokratie muss i m m e r theoretisch auf der Höhe ihrer Zeit, also vorausschauend sein! Das ist sie aber schon lange nicht mehr! Visionen sind seit Helmut Schmidt verpönt! Um „sozialdemokratische Konzepte“ jenseits sozialdemokratischer Regierungsstuben weiterzuentwickeln, müsste sich wieder theoretisches Denken einstellen, das der Partei im Zuge ihres Regieren-Müssen-Wahns („Opposition ist Mist“) gründlich abhanden gekommen ist!
– „natürliche Profiteure“? Profiteure sind nicht Statisten eines natürlichen oder gottgewollten Zustands, sondern Akteure gesellschaftlicher Machtverhältnisse! Diese zu verändern, ist die Herausforderung, die anzunehmen Kern-Aufgabe der Sozialdemokratie wäre! „Plausible Antworten“ wird sie nicht geben können, wenn sie diese Machtverhältnissen verkennt“
O. S.: „Deutschland war immer erfolgreich, wenn es auf den technischen Fortschritt gesetzt hat. Wirtschaftlicher Erfolg wird auch in Zukunft nur so möglich sein.“
Dieser Satz ist in der gleichen Weise falsch wie z. B. „Deutschland hat über seine Verhältnisse gelebt“ oder „Deutschland geht es gut“.
O. S.: „Ein starker und zuverlässiger Sozialstaat, ist allerdings die unverzichtbare Bedingung dafür, dass sich niemand deswegen sorgen muss.“
Schröder und Genossen waren und sind die Antipoden dieser Forderung, wenn man solche nicht nur als Pflichtübung begreift! Sie vergaßen: Die SPD ist P a r t e i! Man kann nicht Partei für alle ergreifen! S i e muss sich vorrangig nicht um das Wohl der Wirtschaft kümmern! Das machen mit Erfolg genügend andere. So zu tun, oder zu glauben, man könne es Allen recht machen, verkennt die Realität kapitalistischer Klassen- und Machtverhältnisse, verkennt den aktuellen realen Klassenkampf von oben! Darauf hat die SPD Antworten zu geben und sich nicht als Genossin der Bosse feiern zu lassen!
O. S.: „Gerade wegen der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse ist es unabdingbar, die unteren Lohngruppen durch einen substantiellen Mindestlohn abzusichern, der hoch genug ist, um im Alter nicht auf öffentliche Unterstützung angewiesen zu sein. Die Sicherheit, die Tarifverträge und Gewerkschaften in der old economy geschaffen haben, ist auch in der digitalen Ökonomie nötig. Sichere Arbeitsverhältnisse sind auch künftig ein wichtiges politisches Ziel. Männer und Frauen müssen auch endlich für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Krippen, Kitas, Ganztagsschulen, qualitativ hochwertige Bildungsangebote an Schulen, Berufsschulen und Universitäten sind weitere wichtige Bedingungen für ein gutes Leben in sich rasant wandelnden Zeiten. Man muss in einer sich immer schneller verändernden Welt das Recht und die Möglichkeit haben, auch im fortgeschrittenen Alter einen neuen beruflichen Anfang durch eine Berufsausbildung oder eine Hochschulausbildung zu suchen. Und das Leben muss auch für Normalverdiener bezahlbar bleiben, deshalb braucht Deutschland gebührenfreie Betreuung und Bildung und bezahlbare Wohnungen. Und ein gerechtes Steuersystem.“
Das sind wunderschöne Ziele! Aber welcher Weg soll dahin führen? Mit einem „Bitte, bitte“ liebe Wirtschaftsmacht- und Kapital- und Geldbesitzer“ ist es nicht getan, alle solche Versuche sind bisher gescheitert.
Ziele zu z e i g e n, ohne d a r a u f Antworten zu geben und dennoch fröhlich gewählt werden und regieren zu wollen – das war, kurz gefasst, das dürftige Fazit des Schulzschen Wahlkampfs . . ! Die Wählerinnen und Wähler haben‘s quittiert!
O. S.: „Wirtschaftliches Wachstum wird auch in Zukunft eine zentrale Voraussetzung sein, um eine fortschrittliche Agenda zu verfolgen. Die ökonomische Kompetenz der SPD rührt daher, dass sie weiß, dass alleine aus technischem Fortschritt oder der Digitalisierung kein Wachstum entsteht. Das gelingt nur, wenn sie einher gehen mit einer guten Einkommensentwicklung, auch der unteren Lohngruppen. Das war schon beim Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit so. Das Versprechen des Wohlstands für alle gehörte dazu.“
Ausflucht: „Wirtschaftliches Wachstum“! Es ist eine Binsenweisheit, dass nur verteilt werden kann, was erarbeitet wird! Es sollte hier aber darum gehen, w i e verteilt wird! Und da kann sofort etwas geschehen, da kann immer etwas geschehen – und dies zu wissen, war immer ein Grundgedanke der Sozialdemokratie! Soziale Gerechtigkeit ist nie an wirtschaftliches Wachstum gebunden!
– Und was heißt „fortschrittliche Agenda“? Für die SPD wäre es wichtiger zu wissen, woher historisch ihre s o z i a l e Kompetenz rührt! Ihre ganze „ökonomische Kompetenz“ hat der SPD offensichtlich nicht zum Wahlsieg verholfen. Und nebenbei: das „Wirtschaftswunder“ zeichnete sich nicht durch das „Versprechen“, sondern durch das tatsächliche Wachsen von „Wohlstand für alle“ aus! Und das war in gewissem Grade einer sozialen Nachkriegskompetenz eines legendären CDU-Wirtschafts-Ministers geschuldet! Da gäbe es doch Fragen zu beantworten!
O. S.: „In der politischen Debatte stellen die einen ausschließlich die offensichtliche ökonomische Prosperität des Landes (und nicht weniger Bürgerinnen und Bürger) heraus und die anderen nur die ebenso offensichtlich zunehmenden sozialen und regionalen Disparitäten. Darin liegt eine große Gefahr. Konsequenz einer solchen jeweils einseitigen Beschreibung der Realität, ist wachsendes Unverständnis und politische Desintegration. Man kann das am Beispiel der USA genau beobachten. Kein Wunder, dass linke und rechte populistische Parteien heute überall Gehör und Anhänger finden, obwohl sie keinerlei praktikable Lösungen vorschlagen. Und kein Wunder, dass Ressentiments und nationalistische Rezepte als Antwort auf Globalisierung und Digitalisierung nun erneut in der politischen Arena auftauchen. Auch im neuen Bundestag werden sie lautstark vorgetragen werden. Letztlich hilft gegen (rechts)populistische Parteien nur, dass die Volksparteien die richtigen Antworten auf die Fragen unserer Zeit haben – und verstanden werden. Sie müssen die Problemlösungsfähigkeit der Demokratie unter Beweis stellen.“
Ausflucht: – Die Gefahr gehe von einseitigen politischen D e b a t t e n aus, wie: hie CDU/CSU mit „Deutschland geht es gut“ und dort die LINKE mit ihrer Kritik an „offensichtlich zunehmenden sozialen und regionalen Disparitäten“!
Und da sollen es d i e „Volksparteien“ richten: wenn sie nur erst die richtigen A n t w o r t e n auf die F r a g e n u n s e r e r Z e i t haben? Die nächste große Koalition lässt grüßen!
– „Disparitäten“: warum diese verschämt verharmlosende Vermeidung, Kinderarmut, Altersarmut, Bildungsnotstand etc. nicht beim Namen zu nennen? – Der US-Wahlkampf Hillary Clintons, beweist in der Tat genau, dass ihr und ihrem Land die Ausblendung der von B e r n i e S a n d e r s benannten „Disparitäten“ zum Verhängnis wurde. Aber s i e war die Wunschkandidatin der SPD!
O. S.: „Es geht also um Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung.
Der SPD muss es gelingen Fortschritt und Gerechtigkeit in pragmatischer Politik und einer unmittelbar daran anschließenden Erzählung zu verbinden. Dabei geht es nicht um eine bloße Addition, sondern das jeweils eine muss sich aus dem jeweils anderen ergeben. Sozialdemokratische Politik muss dafür einstehen, dass Weltoffenheit und Offenheit für den technischen Fortschritt einerseits, sozialer Friede und gerechte Lebensverhältnisse andererseits vereinbar sind. Sie muss eine Politik formulieren, die zeigt, wie Wachstum möglich ist, an dem alle Bürgerinnen und Bürger teilhaben.
Nebelkerze: Fortschritt! Ersetzten wir oben realistischerweise „Fortschritt“ durch Kapitalismus – dann müsste es heißen: der SPD muss es gelingen, Kapitalismus und Gerechtigkeit in pragmatischer Politik… zu verbinden… Bis heute ist es leider nie gelungen, soziale Gerechtigkeit – darum sollte es doch gehen? – mittels p r a g m a t i s c h e r Politik durchzusetzen. Es scheint hier eher um ein pragmatisches Umdefinieren von „Sozialer Gerechtigkeit“ zu gehen, so, dass dieser Begriff verschwinden kann – wie tendenziell in diesem Text!
– Schon jetzt haben alle Bürgerinnen und Bürger teil am Wachstum – allerdings je nachdem: an wachsendem Reichtum oder an wachsender Armut!
O. S.: „Und sie muss angesichts der begrenzten Handlungsspielräume der Nationalstaaten in Europa für die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einer Gemeinschaft stehen, die Fortschritt und Gerechtigkeit heutzutage sichern kann und politisch auch sichern will. Im Unterschied zu den populistischen Parteien muss sie eine proeuropäische Partei sein. Nur die Europäische Union verschafft der Demokratie in der veränderten Welt die Möglichkeit, „to take back control“, wie die Brexiteers verlangten. Sozialdemokratische Politik unterscheidet sich von konservativer oder liberaler, weil sie das im Interesse der Bürgerinnen und Bürger erreichen will.“
Ausflucht: „begrenzte Handlungsspielräume“: Es gibt noch immer genug politischen Handlungsspielraum, obwohl Politik, auch exekutiert durch sozialdemokratische Politiker, sich durch lobbyistische Gesetzgebung zunehmend selbst entmachtet! Möglich wäre zum Beispiel Umverteilung von Oben nach Unten durch eine gerechtere Steuergesetzgebung, die die systemische „natürliche“ Umverteilung von Unten nach Oben, die auf puren wirtschaftlichen Machtstrukturen und Klientelpolitik beruht, wenigstens partiell ausgleichen könnte! Auf europäischer Ebene ist es nicht nur „a n g e s i c h t s“ einer sich aus dem Wesen einer solchen Union heraus logisch ergebenden und ja auch gewollten Begrenzung bzw. Verschiebung von nationalen Handlungsspielräumen unabdingbar, sondern g e n e r e l l, eine s o z i a l e, eine im Interesse der Bürgerinnen und Bürger handelnde Union zu schaffen und deren Charakter und Leitbild neu zu definieren und genau wie auf nationaler Ebene, alle für dieses Ziel bereite Parteien und Bewegungen zusammenzuschließen! N u r proeuropäisch zu sein, ist kein Wert an sich! Unter der gegebenen personellen und ideologischen Ausrichtung der SPD müssen solche „Erzählungen“ allerdings in Regionen utopischer Märchenwelten verwiesen werden – bei schonungsloser Betrachtung!
O. S.: „Anerkennung
Eine Einsicht wird für die Zukunft der sozialen Demokratie zentral sein. … … die höhere Durchlässigkeit, die unser Bildungssystem bietet, bedeutet keineswegs, dass sich die sozialen Fragen damit erledigt hätten. … Noch wichtiger ist aber die Einsicht, dass ein gelungenes Leben auch ohne Hochschulabschluss möglich ist und möglich sein muss. …wer Metallbauer, Lagerarbeiter oder Krankenpflegerin werden und das auch bleiben will, hat im Leben nichts falsch gemacht. Die öffentliche Rede der meist akademisch qualifizierten Mittelschichtsangehörigen in Politik und Medien, klingt aber manchmal so. Und darin liegt eine Kränkung fleißiger Bürgerinnen und Bürger, die sie auch empfinden. Denn eine Friseurin, eine Postbotin oder ein Altenpfleger findet Bestätigung im Beruf, verrichtet die Arbeit gewissenhaft und hat ein hohes Berufsethos.“
Ausflucht: Populistisch wird die Problemursache verschoben auf „Die öffentliche Rede der meist akademisch qualifizierten Mittelschichtsangehörigen in Politik und Medien“! – Hat die SPD nicht lange genug mitregiert um kraftvoll für eine nicht zuletzt auch m a t e r i e l l e A N E R K E N N U N G der unterprivilegierten Berufe kämpfen zu können? Die Wiederentdeckung der Postbotin, der Friseurin etc. und deren Berufsethos ist in diesem Zusammenhang eher beschämend. Dem Geist des Neoliberalismus ist leider auch die Führung der SPD erlegen und gerade das Schicksal der Postbotin und vieler anderer Berufsgruppen wurde durch ihr u. a. von Privatisierungswahn bestimmtes Regierungshandeln nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen!
O. S.: „ … der Verweis auf die Durchlässigkeit [des Bildungssystems – J. A.] rechtfertigt nicht, dass sich die Politik etwa nicht dafür engagiert, die wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven ungelernter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern. Tut sie das nicht, klingt die einst fortschrittliche Forderung nach dem Aufstieg durch Bildung in den Ohren weiter Teile der Bevölkerung nach einem elitären Abgrenzungsmerkmal. Das kann zu gesellschaftlicher Spaltung und auch zur Abwendung von demokratischer Politik führen.“
Dieses Dozieren über Risiken und Nebenwirkungen falscher Sozial- und Bildungspolitik verwechselt Ursache und Wirkung und lenkt von Verantwortung ab ins Ungefähre, hin zu den „Ohren weiter Teile der Bevölkerung“. Das Versagen der Politik führt nicht zur Spaltung der Gesellschaft, sondern ist Ausdruck dieser Spaltung, die im gegebenen Rahmen nur verschärft oder gemildert werden kann!
O. S.: „… Als Partei des Volkes muss die SPD eine gesellschaftspolitische Zukunftsvorstellung entwickeln und vertreten, die die Anliegen aufstiegsorientierter Milieus und nichtaufstiegsorientierter Milieus in einem gemeinsamen modernen Projekt zusammenführt.“
In diesem „gemeinsamen modernen Projekt“ der Zusammenführung völlig neu kategorisierter Milieus werden sich, in ihren „Anliegen“ versöhnt, Bettler und Millionär treffen wie einst im Paradies Löwe und Reh! Dies wird und kann nur das Werk einer Sozialdemokratischen Einheitspartei Deutschlands sein!
O. S.: „Volkspartei und Regierungsverantwortung
Die SPD ist die älteste demokratische Partei Deutschlands und eine der ältesten Parteien der Welt. Sie ist immer eingetreten für Freiheit, Demokratie und Recht. Und für den sozialen Zusammenhalt.“ Das mit dem sozialen Zusammenhalt kam bei Bebel noch nicht vor! Da hieß es noch Klassenkampf und Sozialismus!
O. S.: „Sie war immer eine von vielen Mitgliedern getragene Partei. Den mühseligen Aufstieg zur führenden Partei in der Bundesrepublik während der sechziger Jahre hatte sie durch die Wandlung zur Volkspartei, die Mitglieder und Wähler in allen Schichten und Milieus der Bevölkerung sucht, vorbereitet. Die progressive (!) Volkspartei SPD stellte sich so auf, dass schließlich von 1969 an dreizehn Jahre lang große Teile der Wählerschaft ihr das Land und die Führung der Regierung anvertrauen mochten. Auch heute gilt: Die SPD muss progressive Volkspartei sein wollen. Und die SPD muss die Regierung führen wollen. Beide Ziele bedingen einander.“
Dass die SPD die älteste demokratische Partei Deutschlands ist, macht ihren Zustand nicht besser. Besser wäre, die Gründe ohne Ausflüchte zu suchen, die unsere Partei in diesen desaströsen Zustand versetzt hat! Was war es, dass viele Wähler nach der Brandt-Ära ihre Gunst vorzugsweise anderen Parteien oder dem Nichtwählen schenkten? Was verursachte das Schwinden der Wählergunst nach Schröders Fahrt mit vollen Segeln und dem „Schröder-Blair-Papier“ an Bord in neoliberale Gewässer? War es dieses Papier, das als die letzte theoretische Leistung und als eminente Fehlleistung in die Geschichte der Partei eingehen wird? Ein Papier, das zuerst wegen des negativen Echos an der Parteibasis wieder im Schreibtisch verschwand, dessen Geist dann aber schließlich doch noch glücklos, in Hartz-Gesetzgebung und Agenda 2010 gegossen, siegte! – Auch wenn stupid beteuert wird, es sei nicht alles daran schlecht gewesen: diese von dem Machern für progressiv gehaltene neoliberale „Wirtschaftskompetenz“ und die entsprechende neue Ausrichtung der Partei war die tiefere Ursache für den Verlusts hunderttausender Genossinnen und Genossen!
– Fürwahr, die SPD ist eine andere geworden, seitdem sie sich, konkurrierend mit den anderen „demokratischen Parteien“ in der Mitte tummelt! Als die Wählerschaft der SPD unter Brandt die Regierung ihres Landes anvertrauten, hatte die Partei ein Projekt, das sich in der damaligen Situation „links“ nennen durfte, und das von rechts als kommunistisch, das es nicht war, ge(t)adelt wurde! Nein, nicht bei allen biederte sich jenes Projekt an! Aber es hatte die Unterstützung sowohl der Arbeiterschaft als auch der geistigen Elite! Was für ein Aufbruch damals! Und heute?
O. S.: „Gibt die SPD den Anspruch Volkspartei zu sein auf, wird sie nur (noch) die erreichen, die mit ihr fast vollständig übereinstimmen. Politik lässt sich aber nicht auf eine Geschmacksfrage (?) reduzieren. In einem Parlament mit nun sechs Fraktionen ist die Gefahr groß, dass die Parteien angeschaut werden, wie das Warenangebot in einem Supermarkt. Und da wechseln eben die Vorlieben schnell. Vor allem wenn die Parteien sich selber bloß wie das aktuell günstigste Angebot anpreisen.“
Ausflucht: Statt „Schonungsloser Betrachtung der Lage“: Pseudoargumente für ein neues Weiter-So! Der Anspruch, schlicht Volkspartei s e i n z u w o l l e n, als gäbe es ein schlichtes Volk, wird die SPD nicht retten. Weil Scholz, vermutlich ideologisch befangen, Klassenfragen negiert und sie zu Geschmacksfragen macht, wird letztlich genau das passieren, was er anprangert! Da die SPD für alle dasein will, wird ihr am Ende zwangsläufig nichts anderes übrigbleiben, als ein Gemischtwarenangebot zu offerieren, in dem, so die fatale Hoffnung, das Volk dann schon je nach „Geschmack“ etwas passend Wahlmotivierendes finden wird. Nur, noch einmal: so ein Volk, von dem seit eh sowohl „ideologiefrei“ als auch ideologisch vorzugsweise von Diktatoren geträumt wurde, gibt es nicht!
O. S.: „Die SPD kann daher, wenn sie nicht mehr Volkspartei sein wollte, zerrieben werden zwischen den konservativ beharrenden Parteien und denen, die unrealistische aber stets weiterreichende Forderungen aufstellen. Und nur über das Integrationsprojekt Volkspartei, kann die mit ihr verbundene – in der politischen Geschichte seltene – Kombination von lebensweltlicher Liberalität und Zusammenhalt gelingen. Die SPD muss für mutige Reformen stehen, die vernünftig sind und an deren Umsetzung man glauben kann. Sie wird aber zwangsläufig an Zustimmung verlieren, wenn sie sich auf den Wettbewerb der schrillsten Töne einlässt.“
Die SPD, wenn sie so weitermacht, und nichts deutet, schon unterm Aspekt der Personalfrage, darauf hin, dass sich Grundlegendes ändern könnte, wird zwangsläufig im Parlament zerrieben werden! Nicht selten, sondern nie gelang auf Dauer eine so naiv für möglich gehaltene „Kombination“: „Zusammenhalt“ plus „Liberalität“, was ja auf nichts anderes hinausliefe als: Aufhebung der gesellschaftlichen Widersprüche in einer durch „Liberalität“ gesetzlich geschützten Ausbeutergesellschaft. Von allen Seiten, je unterschiedlich motiviert, wird man ihr ihre „lebensweltlichen“ Illusionen unter die Nase reiben!
– Das Wahlvolk lässt sich bekanntermaßen leichter verführen, wenn es verarscht wird und sich dementsprechend fühlt! Schon allein aus purer Verantwortung vor den Folgen nicht gezogener Lehren aus der Geschichte muss die SPD sich dringend und ehrlich mit dem rationalen Kern der noch immer virulenten Frage auseinandersetzen: „Wer hat uns verraten …?“
1965, nach der Bundestagswahl schrieb Herbert Marcuse, selbst 1919 kurz Mitglied der SPD, an Theodor W. Adorno, der SPD gewählt hatte: „Die deutschen Wahlen sind ausgegangen, wie du es vorausgesehen hast. Ich hätte bestimmt nicht SPD gewählt. Die Niedertracht dieser Partei macht sie auch zum <geringeren Übel> untauglich. Sie wagt es, noch den Namen zu führen, den sie einmal hatte, als Karl und Rosa ihr angehörten. Und sie wird den kommenden Faschismus genau so wenig verhindern wie die CDU.“ Das sind düstere, böse Worte; ihre prophetische Mahnung sollte dennoch nicht leichtfertig in den Wind geschlagen werden!
O. S.: „Stellt die SPD sich als progressive Volkspartei so auf, dass große Teile der Wählerschaft ihr das Land und die Führung der Regierung anvertrauen mögen, wird sie bei Bundestagswahlen auf neue Erfolge hoffen können. Und deshalb muss die SPD in Fragen der Außenpolitik, der Europapolitik, der äußeren und der inneren Sicherheit, der Wirtschaftspolitik, des Umgangs mit öffentlichen Haushalten aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger im höchsten Maße kompetent sein. Kompetenz ist auch wegen“ auch deswegen? „der Migration gefragt, die die europäischen Gesellschaften vor neue Aufgaben stellt. Je unwirtlicher und unsicherer die Welt wird, je mehr wird diese Kompetenzerwartung an Bedeutung gewinnen.“ Nun, da sollte die Kompetenzerwartung doch rasch erfüllt werden können! „Da handelt es sich keineswegs um eine nebensächliche Frage.“ Genau! „Wollen viele Bürgerinnen und Bürger, dass die SPD die Regierung führt, kann sie schnell zehn Prozentpunkte zulegen. Dann kann sie auch aus Bundestagswahlen als stärkste Partei hervorgehen und daraus einen Auftrag zur Bildung einer Regierung ableiten.“ Dieser überraschenden Logik wird man plausibel nicht widersprechen können! „Die plötzlich ansteigenden Umfragewerte zu Beginn des Jahres 2017 haben eindrucksvoll diesen Zusammenhang demonstriert. Es war eine hoffnungsvolle Projektion der Wählerinnen und Wähler, die erneut möglich ist, wenn sie es plausibel finden, dass die SPD diese Erwartungen erfüllt.“ Die Wähler haben aber ihre „Projektion“ letzthin nicht lange plausibel gefunden!
– Die Zauberformel Aufstellung als „progressive Volkspartei“ und der Blick in die Zukunft, was dann alles w i r d sein können, wird nicht viel helfen! Immerhin, einen Anflug von Selbstkritik enthält sie: denn mitgesagt wird, was doch hätte längst sein können! Und es wird mitgefragt nach Verantwortung! Eine Vertiefung dieser Frage verbietet sich jedoch leider von selbst, wenn nach herber Niederlage Geschlossenheit als erste Parteibürgerpflicht gefordert wird – von der alten Mannschaft!
O. S.: „ …“
„Klare Grundsätze
Die SPD regierte vor allem nach den Wahlerfolgen 1998 und 2002 in mancher Hinsicht anders, als die Wählerinnen und Wähler nach dem Eindruck aus dem Wahlkampf erwarteten. Die große Koalition 2005 startete mit einer drastischen Mehrwertsteuererhöhung, die im Wahlkampf zuvor noch heftig bekämpft worden war. Das hat strukturell Vertrauen gekostet.“
Ungeschminkt: das war Wahlbetrug und ein überflüssiges Geschenk an den Koalitionspartner. Ob strukturell oder nicht, es hat Vertrauen gekostet – kostbares!
O. S.: „Und das ist hochgefährlich, denn Vertrauen ist die wichtigste Währung der Politik. In dieser Hinsicht hat sich die SPD am Ende der gerade ablaufenden großen Koalitionsregierung nichts vorzuwerfen.“
Tatsächlich, die SPD war zuverlässiger Koalitionspartner – gegenüber CDU/CSU! Erst in der letzten Bundestagssitzung zog Andrea Nahles, von ihrer avisierten neuen Rolle als Oppositionsführerin sichtlich beeindruckt, so vom Leder, dass Merkel nur noch irritiert und dann amüsiert staunen konnte.
O. S.: „Sie hat, obwohl nur der kleinere Partner, eine beachtliche sozialpolitische Erfolgsbilanz. Auch im Hinblick auf Fragen der Liberalität besteht die SPD diesen Test, wenn man auf die fast vollständige Abschaffung der Optionspflicht für in Deutschland geborene junge Leute schaut, die nicht mehr zwischen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern wählen müssen. Oder wenn man die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare betrachtet. Auf dem Vertrauen, dass diese unter Beweis gestellte Verlässlichkeit ermöglicht, kann aufgebaut werden. Als Lehre für die Zukunft taugt diese Rückbetrachtung aber auch. Die SPD darf nicht anders regieren, als sie zuvor in einer Wahlkampagne angekündigt hat. Schon bei der Erstellung der Wahlprogramme muss das bedacht werden. Man darf nur versprechen, was man halten kann und muss halten, was man versprochen hat.“
Ausflucht: Eigentlich hat man in der Großen Koalition alles richtig gemacht, nur in früheren Regierungs- bzw. Mitregierungszeiten sind Fehler gemacht worden! Und nun erst hat sich das auf das Wahlergebnis ausgewirkt? Der Wähler sozusagen ein geistiger Spätzünder? Seehofer immerhin, die Erschütterung war ihm noch anzumerken: „Wir haben verstanden!“ Hier nur nochmal oberlehrerhafte Schelte für Müntefering und Schröder: „Man darf nur versprechen, was man halten kann und muss halten, was man versprochen hat.“
O. S.: „Die SPD wird seit längerem als zu taktisch wahrgenommen. Diese Wahrnehmung darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Denn wenn Reformvorstellungen als nicht ernstgemeint angesehen werden oder als Vorschläge, die präsentiert werden, um Wählerinnen und Wähler anzusprechen und nicht, weil sie der SPD wichtig sind, dann sind sie auch nur die Hälfte wert. Überwinden kann man diese Wahrnehmung nur mit Konsistenz und Stringenz in der eigenen Haltung und der eigenen Politik. Und wenn die SPD verstanden wird anhand ihrer Grundsätze.“
Verschämte halbe Wahrheit: die „Wahrnehmung“ sei schuld! Aber das Problem ist, dass es die Wahrnehmung von etwas Realem ist: der fehlenden „Konsistenz und Stringenz in der eigenen Haltung und der eigenen Politik“ und damit von etwas für den Zustandder SPD Substanziellem! Dessen Überwindung Olaf Scholz hier zurecht für die Zukunft anmahnt.
– Keine Partei wird verstanden „anhand ihrer“ Grundsätze! Schon der Apostel forderte seine Gemeinde auf: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!“ (1. Johannes 1, 2-6)
O. S.: „Und die SPD muss konkret sein, auch wenn es um soziale Gerechtigkeit geht.“ Ja, selbst da! „Nur anhand konkreter Vorschläge bleibt der Begriff nicht abstrakt. Nur konkrete Vorschläge können auch politisch wirkmächtig werden. … eine deutliche Steigerung des Mindestlohns, die Abschaffung der Möglichkeit, Arbeitsverträge ohne Sachgründe zu befristen, das Recht nach vorübergehender Teilzeitbeschäftigung wieder Vollzeit zu arbeiten, die Stabilisierung des Rentenniveaus, paritätische Beträge in der Krankenversicherung, die massive Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus, Gebührenfreiheit in Kitas, Ganztagsschulen, ein Rechtsanspruch auf eine neue Berufsausbildung im fortgeschrittenen Alter, Breitbandverkabelung als Grundversorgung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland, die Entlastung der Kommunen von den Kosten der Unterkunft Arbeitsloser, … Entlastungen bei den Beträgen für Geringverdiener und steuerliche Entlastungen für untere und mittlere Einkommen. Die SPD hat diese und noch mehr konkrete Vorschläge. Sie muss sie auch benennen.“
Ausflucht: Die SPD habe ihre in der Tat beeindruckenden „konkreten Vorschläge“ nur nicht benannt! Warum nicht? Es wäre der genau berechtigte Vorwurf zu befürchten gewesen: ja warum habt ihr das alles nicht schon längst durchgesetzt?! Die Rede vom „Respekt“ vor der Lebensleistung der „hart arbeitenden Menschen“ und was man alles tun wolle, wäre man nur erst Kanzler, war offensichtlich nicht hinreichend für einen Wahlsieg!
O. S.: „Es geht um viel. Überall in Europa haben die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien an Zustimmung eingebüßt. Manche sind fast oder gar vollständig verschwunden.“
Haben auch diese anderen Parteien ihre tollen Ideen nur nicht genügend propagiert? Die Angst vorm Verschwinden ist verständlich, scheint aber kein guter Ratgeber zu sein! Die selbst geforderte und notwendige schonungslose Betrachtung geht anders!
O. S.: „In Deutschland, vielleicht das Kernland der sozialdemokratischen Idee, ist es unsere Mission, die Zukunft der sozialen Demokratie neu zu beschreiben.“
Nebelkerze: „sozialdemokratische Idee! In der Tat w a r Deutschland einmal –„vielleicht“ – ihr Kernland. Aber darüber zu schweigen, was einmal zu je anderen Zeiten inhaltlich mit „sozialdemokratisch“ verbunden war, und immer so zu tun, als sei die heutige parteiamtliche Interpretation auch die gestrige gewesen, ist unredlich! Genau vor hundert Jahren setzten die Bolschewiki ihre Hoffnung auf eine Revolution in jenem „Kernland… – „da war die deutsche Sozialdemokratie allerdings schon nicht mehr die August Bebels und seiner Genossen.
O. S.: „ … In manchen Ländern Europas kann man nur noch wählen zwischen einer sozialstaatlichen Partei mit lebensweltlich antimodernen Vorstellungen und Ressentiments auf der einen Seite und einer streng wirtschaftsliberalen Partei mit modernen Vorstellungen zum Zusammenleben auf der anderen. Das ist ein Drama für die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder.“
Statt Analyse: nebulöses, implizit denunziatorisches Reden über politische Zustände und Parteien in „manchen Ländern“. Ist „sozialstaatlich“ schon zum Unwort geworden? Oder ist „staatssozialistisch“ gemeint, das man anderen linken Parteien unterschieben will, um die fehlende Solidarisierung mit diesen Parteien und die politische Distanzierung zu legitimieren, wie im Fall von Podemos, Syriza, Corbyns Labour Party u. a.?
O. S.: „Die Erneuerung der SPD kann nur entlang klarer Grundsätze gelingen. Sie bedient niemals Ressentiments. Sie ist modern, besonders weil sie für die Gleichstellung von Männern und Frauen steht. Sie ist modern, weil sie auch die Perspektive einer lebenswerten Umwelt verfolgt. Die SPD muss als weltoffene, europafreundliche, fortschrittliche, liberale und soziale Partei beweisen, dass mit einer mutigen und pragmatischen Politik eine bessere Zukunft auch in unseren sich schnell wandelnden Zeiten für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes möglich ist.“
„Klare Grundsätze“ fordern und Unschärfe liefern: Seit wann ist Modernität ein sozialdemokratisches Kriterium? – Es sieht so aus, als solle hinter diesem leeren Begriff die Kernkompetenz der Sozialdemokratie zum Verschwinden gebracht werden, die noch immer „soziale Gerechtigkeit“ war.
Alles was die SPD nach Olaf Scholz und Genossen laut diesem Papier sein müssen sollte – weltoffen, europafreundlich, fortschrittlich, liberal und sozial – schreiben sich u. a. auch CDU/CSU auf ihre Fahnen! Das zeigt nur allzu deutlich, wo die Partei angekommen ist: in der bürgerlichen, systemkonformen Mitte, dort, wo angeblich nur Wahlen gewonnen werden können. Dies ist ein gefährlicher Irrglaube. Die SPD wird dort nur noch verlieren können. Wir dürfen nicht der Illusion unterliegen, es werde sich in Deutschland, ähnlich den us-amerikanischen Verhältnissen, die Parteienlandschaft so entwickeln, dass aus der Mitte heraus SPD und CDU – die anderen marginalisierend – die Regierungsgeschäfte alternierend oder gemeinsam werden übernehmen können! Dieses Modell kommt auch in den USA sichtlich in die Krise.
R e s ü m e e
Die Erneuerung der SPD wird unter anderem nur dann gelingen, wenn sie den ernst zu nehmenden gesellschafts- und wirtschaftstheoretischen Diskurs aufnimmt, in dem, nicht zu unrecht, die Marxsche Kapitalismuskritik zunehmend eine prägnante Rolle spielt, nur dann, wenn sie zurück zu ihren Wurzeln findet, anstatt mit immer neuen ideologischen Konstruktionen und Umdeutungen ihrer Werte zu versuchen, den klaren Blick auf die unsozialen Wirklichkeiten mit all ihren Gefahren für die Zukunft der Menschheit zu verkleistern! Dazu gehört auch, sich von von einer bedenklichen Technologiegläubigkeit zu trennen! Technologie, so zeigt uns die Geschichte, kann Lebens- und Arbeitswelt unerbittlich und rasant verändern, nie aber war sie, im gesllschaftspolitischen Kontext, auch nur im Ansatz ein Garant für Gerechtigkeit! Es gibt in unseren Breiten zwar nicht mehr das klassische bis aufs Blut ausgebeutete Industrieproletariat – das wurde teils saniert und gut integriert, teils in fernere Gegenden ausgelagert (externalisiert), aber: an seine Stelle ist, auch bei uns, ein ständig wachsendes Heer raffiniert prekarisierter Menschen getreten. Sich deren Schicksal zu widmen, sollte wieder Kernaufgabe der SPD und aller sozialdemokratisch sich nennenden Parteien werden. Nur dann trügen sie ihren Namen zurecht! Im Kampf um „soziale Gerechtigkeit“ und „eine bessere Zukunft“ muss sozialdemokratische Theorie und sozialdemokratische politische Praxis, ganz gleich ob in Regierungs- oder Oppositionsverantwortung, ihren Horizont über die bestehenden zerstörerischen neoliberal-kapitalistischen Verhältnisse hinaus erweitern!