Ohne Plan, ohne Perspektiven

Die Fünf-Jahres-Pläne waren lächerlich. Die von der Politik exekutierte Erhöhung der Normen lebensfremd. Das Hangeln alter saturierter Männer von Plan zu Plan musste zwangsläufig ein Wirtschaftssystem der Flickschusterei erzeugen. Gleichwohl, man hat im Rückblick den Eindruck, die Köpfe des Sozialismus wollten damit eine Richtung, wollten Perspektiven blanklegen, die Bevölkerung für eine Zukunft gewinnen, die es dann zwar nicht gab, die aber ein Leitmotiv sein sollte.
Ohne Plan, ohne PerspektivenDas geht dem Kapitalismus völlig ab. Er lobt sich beständig, die Probleme der Menschheit ins Gute zu arrangieren. Langsam zwar, nicht geplant zwar, aber doch wirksam. Er putzt den Wohlstand heraus, den er "für alle" sichert, läßt sein Personal Maßnahmen verkündigen, die das Vorwärts! in jedem Satz mitführen und stärkt sich so als ein System von mehr Arbeitsplätzen, mehr Betreuung, mehr Wachstum, mehr Bildung und mehr verkauften Autos. Aber wozu das alles? Warum dieses beständige Mehr? Das verklickert einem im Kapitalismus keiner. Eine Perspektive gibt es nicht. Es gibt kein Ziel, nur einen undeutlich kenntlichen Trampelpfad ins Nichts, er definiert sich als a road to nowhere.

Wahrscheinlich war zu viel Pathos in den Kitsch des Sozialismus gemischt. Zu viel künstliche Zuversicht vom Besser und Gerechter. Aber wenigstens gab es, wenn auch manchmal schwer vorstellbar, die Absicht einer gerechteren Gesellschaft. Der neoliberale Kapitalismus versucht gar nicht erst, irgendetwas in dieser Art zu predigen. Er sagt nur: Weitermachen, immer weitermachen! Aber für was? Wohin soll es gehen? Wo ist der Fingerzeig? Die Vision, die das Schuften und alle Prozesse innerhalb des Systems wenigstens rechtfertigen könnte?
Es wird gearbeitet und das Los der Arbeitslosigkeit ertragen, wertgeschöpft, konsumiert und investiert, es werden Reformen geduldet - aber am Ende weiß man nicht mal, was das Ziel dieser ganzen Prozedur ist. Seine Rechnungen bezahlen können. Klar! Und darüber hinaus?
Man hat den realen Sozialismus in dieser Frage ganz richtig in die Nähe des Christentums gerückt. Er sei nach christlichem Vorbild eschatologisch gewesen, habe eine zukünftige Vollendung propagiert. Dieser "Anbruch einer besseren Welt" war zwar sicherlich noch weit entfernt, aber man konnte wenigstens hin und wieder glauben, dass es den sozialistischen Eliten zwischen ihrer ganz ordinären Machtbesessenheit auch um hehre Motive ging.
Vielleicht ist dieser amtierende Kapitalismus auch das erste Herrschaftssystem, das keine Eschatologie entwickelt hat. Die Sozialisten hatten erst ihre Revolution als Hoffnung und später dann die Fortentwicklung einer gerechteren Gesellschaft. Im Mittelalter spähte man auf das Himmelreich - und selbst die Faschisten haben sich ein Endziel ausgedacht und an den Endsieg geglaubt. Es fällt schwer, das Endziel des Kapitalismus zu beschreiben. Das verwundert nicht, denn es wird ja nie erläutert. Mit dem Ende der Geschichte, das man ihm anklammerte, scheint auch die Aussicht auf eine Welt mit rosigeren Perspektiven keine Geschichte mehr zu sein, die man gerne erzählt.
Lenin deutet mit dem Finger visionär in eine Richtung. Vorwärts immer, rückwärts nimmer, nuschelte der alte Erich. Völlig vergessen, dass es ein Ziel gibt, auf das hinzuarbeiten ist, hat man "drüben" nicht. Die Perspektive wurde nicht ausgeblendet, man behielt sie im Auge. Da war natürlich auch viel Symbolik dabei. Aber nicht mal die gibt es im Kapitalismus. Oder halt, denn natürlich muss man den kapitalistischen Fingerzeig berücksichtigen. Er deutet nicht in die Ferne, er deutet in die Höhe und ist das Vorrecht des Mittelfingers.
Der Stinkefinger ist die ganz spezielle Perspektive, die dieses System seinen Insassen gibt. Leck mich am Arsch! Fick Dich! Nach mir die Sintflut! Das sind die schönen Aussichten, die der neoliberale Kapitalismus in die Gesellschaft hineinspart und reinprivatisiert. Das Ende der Geschichte ist, dass der visionär deutende Finger des Lenin durch den vulgär strotzenden Mittelfinger des Kapitals und seiner Zweckerfüller ersetzt wurde. Ohne Plan und Perspektive durch eine Geschichte, die sich selbst schon für beendet erklärt hat.

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