Oh Du Fröhliche
Kurzgeschichte von Ralf Boscher
Leise summend legte er die gesäuberte Knochensäge an ihren Platz zurück. Oh Du Fröhliche! Bereits seit Stunden ging ihm die Melodie im Kopf herum. Er hatte konzentriert gearbeitet und sich nur wenige Pausen gegönnt. Es sollte alles perfekt werden. Das war er seinen Kunden schuldig. Das erwarteten sie von ihm. Gerade zu Weihnachten. Und weil alle wussten, dass er sie nicht enttäuschen würde, hatte er wie jedes Jahr eine Menge an Vorbestellungen abzuarbeiten. Er lächelte, und wischte sich mit dem Handrücken einen Blutspritzer von der Wange. Der Ruf als bester Fleischer der Stadt kam nicht von ungefähr. Er nahm ein langes Messer zur Hand, spitzte seine Lippen und pfiff munter vor sich hin. Oh Du Fröhliche! Sein Blick schweifte verträumt durch den Raum und verweilte dann einige Momente auf dem Fleischwolf. Und in diesem Jahr würde er etwas ganz Spezielles für seine Kunden haben. Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Routiniert setzte er seine Schnitte, und wie so oft, wenn ihm der metallische Geruch des Blutes in die Nase stieg, erinnerte er sich lebhaft an seinen Vater. Sein ermutigend lächelnder Vater, der sich seine riesigen Hände an seiner blutverschmierten Schürze abwischte, und über den Fleischblock gebeugt, seinem Sohn die Feinheiten seiner Arbeit erklärte. Sauber trennte er die Eingeweide heraus und legte sie in eine separate Metallschüssel. Er hatte lange gebraucht, bis ihm der durchdringende Geruch keine Übelkeit mehr verursachte. Aber sein Vater hatte Geduld mit ihm gehabt. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen!, pflegte er zu sagen, wenn sein Sohn wieder einmal an die frische Luft musste, um seinen Magen zu beruhigen.
Er lächelte bei der Erinnerung an seine Kindheit. Einen Moment lang war ihm, als hörte er seine Mutter leise singend die Treppe aus der guten Stube herabkommen. Es ist ein Ros‘ entsprungen… In einer Hand hielt sie einen dampfenden Pott Kaffee für Vater, in der anderen ein Glas Sprudel für ihn selbst. Eine Stärkung für meine hart arbeitenden Männer!, sagte sie. Seine eigene Frau hatte ihm in all den Jahren nicht einmal einen Kaffee gebracht, und singen tat sie auch nicht. Aber Mutter sang so gern. Vor allem Weihnachtslieder. Während er vor dem nächsten Schnitt die Klinge des Messers säuberte, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Gestern, am Sonntag, er saß alleine mit einer Tasse Kaffee, die er sich selbst aufgebrüht hatte, beim Frühstück, war ihm plötzlich dieser Gedanken gekommen. Und er war in die Abstellkammer gegangen und hatte das erste Mal seit dreizehn Jahren den alten Plattenspieler und die Kiste mit Mutters Schallplatten hervorgeholt. Nicht zu zählen, wie oft Mutter ihn gebeten hatte: Komm, Schatz, lege doch mal die Platte auf! Er hatte genau gewusst, welche LP sie meinte. Vorsichtig hatte er das schwarze Vinyl aus der Hülle geholt, auf den Plattenteller gelegt und die Nadel aufgesetzt. Der Plattenspieler funktionierte auch nach all den Jahren einwandfrei, und dann erklang die herrliche Stimme von Andrea Jürgens aus dem Lautsprecher. Andrea Jürgens singt die schönsten Weihnachtslieder. Er bekam feuchte Augen, denn beim Klang ihrer Lieblingsplatte wurde ihm schlagartig bewusst, wie sehr er seine Mutter vermisste. Andrea sang Stille Nacht, heilige Nacht, und seine Mutter stimmte in das Lied mit ein. Lächelnd stand sie am Küchentisch, knetete den Teig für die Weihnachtsplätzchen und sang dabei. Er hatte sich auf den Küchenstuhl gesetzt und einfach gelauscht. Umfangen von dem Gesang und dem Duft des frischen Teiges, Tränen liefen ihm über die Wangen, erschienen ihm all die Ehejahre doch plötzlich kalt und leer. Seine Frau backte keine Plätzchen, sie kaufte sie ein. Die ganzen Jahre über war die Küche nicht mehr von diesem Duft erfüllt gewesen. Mein Gott, dachte er, wie herrlich duften Mutters Plätzchen!
Für einige Augenblicke musste er das Messer beiseite legen, denn bei der Erinnerung an den gestrigen Tag kamen ihm wieder die Tränen. Was bin ich sentimental!, schalt er sich selbst, dann beruhigte er sich wieder: Ist doch alles in Ordnung, jetzt! Und lächelnd trennte er weiter das blutige Fleisch von den Knochen. …Oh Du Fröhliche… Die Knochen würde er später aufbrechen, um das Mark heraus zu lösen. Jetzt kann ich singen, wenn es mir gefällt!, dachte er und überließ sich wieder der Erinnerung an den Tag zuvor. Gerührt hatte er das Bild von Andrea Jürgens auf der Schallplattenhülle betrachtet. Als Teenager hatte er heimlich für dieses Mädchen geschwärmt. Ihre langen, braunen Haare, der feine Schnitt ihres Gesichtes, dieses Lächeln, welches sich sanft von dem zarten Rot ihrer Lippen bis zu ihren dunklen Augen spannte, hatten es ihm angetan. Er hatte sich immer vorgestellt, dass sie ihn so ansehen würde. Seine Frau ahnte nicht, dass er sich in sie verliebt hatte, weil sie Andrea Jürgens ähnlich sah. Wie hatte er sich nur so täuschen können! Kaum waren sie verheiratet gewesen, hatte sie sich ihre prächtigen langen Haare abschneiden und blondieren lassen. Um die düsteren Gedanken zu vertreiben, drehte er die Lautstärke des Plattenspielers hoch. Aus voller Kehle sang Andrea nun Oh Tannenbaum. In diesem Augenblick hatte seine Frau die Küche betreten und wortlos die Lautstärke herabgedreht. Damit war für sie die Sache erledigt, ebenso wortlos verließ sie wieder den Raum. Aber kaum, dass sie ihm den Rücken zugedreht hatte, drehte er Andreas Gesang bereits wieder auf volle Lautstärke. Es dauerte nur Sekunden, und die Frau fegte mit einer einzigen Handbewegung die Nadel von der Platte. Und dann stand sie neben dem Plattenspieler, ihre Hände herausfordernd in die Hüften gestützt und starrte diesen Mann, den sie einmal geliebt zu haben glaubte, wutentbrannt an. An jedem anderen Tag wäre er jetzt aufgestanden und hätte sich bei ihr für sein Verhalten entschuldigt, aber nun lächelte er sie an, und etwas an diesem Lächeln ließ sie unbehaglich fühlen, und wie immer, wenn sie sich unsicher fühlte, ging sie zum Angriff über. Was?, warf sie ihm entgegen. Er aber hörte nicht auf sie, er blickte durch seine Frau hindurch, lauschte auf die Stimme seiner Mutter in seinem Kopf, denn seine Mutter hatte sich von seiner Frau nicht den Mund verbieten lassen, sie sang weiterhin Oh Tannenbaum. Dann legte sie zärtlich eine Hand auf seine Schulter und bat ihren Sohn: Dreh‘ doch mal die Platte um! Er stand auf, seiner Frau war mittlerweile mehr als unbehaglich zu Mute, der starre Blick ihres Mannes ließ sie frösteln, sie trat einen Schritt zur Seite, als ihr Mann auf sie zu kam. Er beachtete sie überhaupt nicht, sondern drehte vorsichtig die Schallplatte um, setzte die Nadel wieder auf und erhöhte die Lautstärke wieder. So ist es gut!, sagte seine Mutter. Bitte schön!, entgegnete er höflich. In diesem Moment spürte er eine grobe Hand auf seinem Unterarm, langsam, beinahe mechanisch drehte er sich zu seiner Frau um. Mit wem zum Teufel sprichst du!, fuhr sie ihn, ihre Ängstlichkeit unter Forschheit versteckend. Er sah seiner Frau in die Augen, nun erkannte er sie, er sah Furcht, er sah ihre Wut, vor allem aber sah er die Ablehnung und den Abscheu in ihren Augen. Das war der Augenblick, in dem Andrea Jürgens Oh Du Fröhliche, Oh Du Selige anstimmte. Lächelnd der Musik lauschend löste er die um seinen Unterarm verkrampften Finger seiner Frau, die schrak einige Schritte zurück, jäh von Panik ergriffen. Mit wem sprichst du?, flüstere sie tonlos. Er trat auf sie zu, sie war wie gelähmt, konnte ihm nicht ausweichen, als er seinen Mund an ihr Ohr brachte und dann mit erschreckender Ruhe sagte: Mit meiner Mutter! Und was er dann in ihr Ohr flüsterte, war für sie noch schlimmer: Und jetzt singst du mit uns! Und dann backst du mir Plätzchen!
Die Erinnerung an diesen Moment ließ ihn auflachen. Er warf eine Handvoll Muskelfleisch, die er gerade von dem linken Oberschenkelknochen gelöst hatte, in die Edelstahlschüssel zu dem restlichen Fleisch. Wie hatte er nur auf die Idee kommen können, dass sie singen und Plätzchen backen könnte. Er lachte wieder. Doch nicht du!, rief er über seine Schulter, und ohne dass er es merkte, verfiel er in ein Kichern und starrte die sauber abgelösten Knochen auf dem Chromtisch vor ihm an. Schließlich drehte er sich um und lächelte zu dem Plastikeimer hinüber, der in Kopfhöhe in einem Regal stand. Doch nicht du!, wiederholte er, dann nahm er die Schüssel mit dem rohen Fleisch zur Hand, und machte sich wieder an die Arbeit. Der Fleischwolf wartete, und es gab noch einiges zu tun, bis die Verkäuferin in aller Frühe kommen würde, um mit ihm zusammen die Ware in der Auslage zu richten. Leise vor sich hinsummend und dabei unwillkürlich mit seinem Oberkörper hin und her wiegend tat er in den verbleibenden Stunden, was getan werden musste.
Früher hatte seine Mutter die Fleischwaren verkauft. Aber am Ende ging es ihr gesundheitlich zu schlecht, um weiterhin im Laden zu stehen. Da hatte er eine Verkäuferin einstellen müssen, denn seine Frau hatte nicht im Traum daran gedacht, die Ware zu verkaufen. Nur wenn es gar nicht anders ging, hatte sie sich im Laden blicken lassen. Aber das Geld hast du immer gern genommen!, meinte er, und klopfte übermütig gegen den Eimer im Regal. Während er dann die fertigen Würste nach vorne in den Laden brachte und sie sorgfältig in der Auslage drapierte, versuchte er sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal einen Kunden bedient hatte. Aber es wollte ihm nicht einfallen. Plötzlich strahlte er über das ganze Gesicht, fast zärtlich strich er ein letztes Mal über die Würste. Ist auch egal, sagte er, so nah wie heute bist du jedenfalls zeitlebens noch keinem Kunden gekommen! Dann ging er zum Ofen, um zu prüfen, wie lange die Pasteten, die er zubereitet hatte, noch brauchen würden. Er war gut in der Zeit. Auch die Frikadellen hatte er schon gebraten. Für seine Frikadellen war er berühmt, genauso wie für die Würste, und die Markklöße, die er aus den aufgebrochenen Knochen gewonnen hatte. Die speziellen Gewürzmischungen hatte er von seinem Vater übernommen, und der von seinem Großvater. Zufrieden mit seiner Arbeit wischte er sich seine Hände an einem Handtuch ab. Ihm blieb noch Zeit, um sich frisch zu machen, bevor seine Verkäuferin ihre Arbeit antreten würde. Aber anstatt sich in die Wohnung zurückzuziehen, nahm er den Eimer vom Regal herunter, setzte sich auf den Stuhl neben dem Fleischwolf und begann mit lauter Stimme zu singen. Oh Du Fröhliche…
So fand ihn die Verkäuferin vor. Zuerst hörte sie ihn singen, was sie gleichzeitig wunderte und freute, hatte sie ihren Chef doch in den ganzen Jahren noch nicht so guter Laune erlebt. Dann öffnete sie mit ihrem eigenen Schlüssel die Hintertür und betrat die Fleischerei. Im ersten Augenblick weigerte sich ihr Verstand zu verstehen, was sie sah. Da war ihr Chef, er saß auf dem Stuhl neben dem Fleischwolf, und er sang, und er lächelte ihr entgegen, und neben ihm auf dem Boden lag ein Plastikeimer. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das nicht hierher gehörte, etwas, das auf keinen Fall möglich sein dürfte. Plötzlich gab ihr Verstand nach. Diese Augen, ihre aufgerissenen Augen. Sie begann zu schluchzen und begann zu zittern und ihre Knie knickten ein, und sie sank zu Boden. „Mein Gott, Chef!“stöhnte sie, „Mein Gott, schließen sie ihr wenigstens die Augen!“ Ihr Chef verstummte und drehte dergestalt seine Hand, auf die er den abgetrennten Kopf seiner Frau wie eine Handpuppe gestülpt hatte, dass er in das verzerrte Gesicht sehen konnte. Als er das tote Antlitz anlächelte und sagte: Wussten sie, dass sie Augen wie Andrea Jürgens hat?, musste sich seine Verkäuferin übergeben. Sie wissen schon!, sagte er davon unbeeindruckt, die Sängerin, die immer so schön die Weihnachtslieder gesungen hat! Dann sagte er zu dem Kopf: Aber die wolltest du ja nicht hören!, und begann zu kichern und seine Hand hin und her zu bewegen, Nein! Nein! Nein! Während er aufs Grauenhafteste das Kopfschütteln seiner Frau imitierte, stand er auf. Nein, nein!, meinte er dann zu seiner Verkäuferin, die wie erstarrt auf den Fliesen kauerte, Nein, und singen wollte sie auch nicht! Lächelnd näherte er sich ihr. Sie sah ihm schluchzend entgegen, unfähig sich zu bewegen und womöglich zu fliehen. Er kniete neben ihr nieder, der grässliche Kopf war nun direkt neben ihrem eigenen Gesicht, sie wollte sich abwenden, aber sie konnte nicht. Der Gestank nach Verwesung war atemberaubend, aber entsetzlicher noch war die Sanftheit in seiner Stimme, als er ihr ins Ohr flüsterte. Aber sie, sie singen doch sicher mit uns! Dann stimmte er Oh Du Fröhliche an, und sie wusste, dass sie keinen Laut über ihre Lippen bringen würde.
Ende
Weitere Weihnachtsgeschichten aus der Feder von Ralf Boscher (je ungekürzt hier auf Boschers Blog):
Die Grenze des guten Geschmacks – “Hello Kitty” oder ein Wichteln des Grauens. Eine Weihnachtsgeschichte von Ralf Boscher
Ein haariger Heiligabend – “Ho! Ho! Ho! oder Tante Marthas Hintern”, eine unbesinnliche Weihnachtsgeschichte
Kalter Kaffee – eine Kurzgeschichte
Wie gefällt Euch der Beitrag?
Note: There is a rating embedded within this post, please visit this post to rate it.