© X-Verleih/Warner Bros./ Tom Schilling als Niko Fischer in “Oh Boy”
Während gerade zur Winterzeit große, lange, teure, imposante Filmproduktionen die Kinosäle füllen, sollte man sich davor hüten, die kleineren Filme zu missachten. Denn inmitten des massenhaften Getümmels findet sich ein Film, der durch seine Unaufgeregtheit zum Besonderen wird.
„Oh Boy“ erzählt in monochromen Bildern die Geschichte eines jungen Mannes, der seinen Alltag in Berlin verlebt. Um genau zu sein, erzählt der Film nur einen einzigen Tag aus seinem Leben, und dennoch hat man am Ende das Gefühl, ein halbes Leben der Figur mit begleitet zu haben. Niko Fischer hat mal angefangen Jura zu studieren, aber irgendwann abgebrochen, einfach so, ohne Grund. Dafür sucht er eigentlich nur ein warmes Plätzchen um einen Kaffee zu trinken und kurz innezuhalten. Daraus wird aber nichts…weder die hippe Coffee-Store-Verkäuferin, noch die Kaffee-Automaten dieser Stadt erfüllen ihm seinen Wunsch. Dafür bekommt er aber jede Menge Sachen, die er gar nicht bestellt hat: einen erfolgreichen Vater, der von dem Misserfolg seines Sohnes erfährt, eine Freundin, die er enttäuscht, eine sich anbahnende Liebschaft, der er nicht gerecht wird, einen Nachbarn, den er nicht erträgt…und ein Dutzend weitere Menschen-Begegnungen im Großstadt-Fluss.
Die alte Schulfreundin: Julika Hoffmann (Friederike Kempter)
Das faszinierende an „Oh Boy“ ist, dass all diese Menschen-Begegnungen völlig glaubwürdig und zugleich völlig absurd erscheinen. Eben wie jene Art von Geschichten, die einem im Alltag passieren und bei denen man selbst nicht glauben kann, dass das gerade wirklich passiert ist. Der Film balanciert auf dem schmalen Grad zwischen Komik und Tragik ohne jemals das Gleichgewicht zu verlieren. Wie schon Max Frisch feststellte: “Das Wesen aller Komik liegt im Unvereinbaren zwischen Wort und Bild”. Und genau dieser Komik bedient sich „Oh Boy“. Man sieht die Menschen und macht sich ein Bild, und man hört ihre Worte, die nicht zu diesem Bild passen. Überall kann man die versteckten, subtilen Schriftzüge der Stadt lesen. Auf den T-Shirts der Menschen, auf den Schildern der Geschäfte, als Graffiti auf Wänden, aber sie wollen nicht zum Lebensgefühl passen. „Fuck you, you fucking Fuck“ trägt ein jugendlicher Drogendealer, der bei seiner Oma wohnt. „Was zum kauen“ prangt über der Coffee-Shop-Verkäuferin., die mehr als Kekse austeilt. „Ich hasse euch alle“ in verdrehten Lettern auf einer Hochhauswand, in der Skyline Berlins.
Dies sind die Parolen der modernen Welt, in der auch Niko Fischer überleben muss. „Oh Boy“ zeigt einen Menschen, der jenseits der Leistungsgesellschaft und jenseits des Mainstreams seinen Alltag zu meistern versucht und dabei durch die Straßen Berlins geschwemmt wird. Tom Schilling mimt dabei überzeugend den überforderten und desillusionierten Großstadt-Menschen, der seinen Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden hat und vielleicht auch gar nicht finden will. Untermalt wird dieser optisch und inhaltlich ungewöhnlich gute Film von ebensolcher Musik. „The Major Minors“ haben eigens für den Film einige instrumentelle Stücke komponiert, die sich wunderbar in die Geschichte einfügen und sie auf klassische Weise unterstützen. Die Musik scheint in dieser Welt das einzige zu sein, was noch einen positiven Rhythmus hat. Schade, dass Niko sie nicht hören kann, sondern sich stattdessen mit Geräuschen einer Geburt im Off-Theater umgeben muss.
Niko lauscht den Geschichten von Kneipenbesucher Friedrich (Michael Gwistek)
Neben den verschiedenen Orten, an die Niko gelangt, begegnen ihm ebensoviele Geschichten, die von selbst zu ihm kommen. Auf Geschichten aus einer verhassten Kindheit, von verzweifelten Ehen, von einsamen Menschen, von Nazi-Vergangenheiten. Nun mag es gerade von Letzterem schon viele, auch misslungene Versuche gegeben haben, doch auch hier schafft es „Oh Boy“ die richtigen Zwischentöne zu treffen. Nicht der imposant-dramatische Nazistreifen erzeugt Emotionen, sondern ein alter, angetrunker Mann in einer verqualmten Bar. Ist man zuerst, wie Niko auch, genervt, hängt man nach wenigen Minuten völlig unwillkürlich an den Lippen des unbekannten Geschichtenerzählers, an seinem unrasierten Gesicht, an seinen traurigen Augen und horcht einer Geschichte, wie sie, fernab von jeglicher Gefühlsduselei und überbordender Dramatik, Betroffenheit erzeugt, ohne sich überflüssiger Rückblenden oder Erinnerungen bedienen zu müssen. Nur ein altes Gesicht, bewegte Lippen und ein redseliger Mann. Und in dieser Konstellation zeigt sich auch die Devise des Films: nicht das Pompöse, das Offensichtliche ist sein Anliegen, sondern die leisen Zwischentöne.
„Oh Boy“ ist kein hipper Berlin-Film, der in schillernden Farben zeigt, wie bunt diese Stadt ist. Dies ist ein Film, der zeigt, wie kontrastreich schwarz-weiß Berlin ist, und zugleich, wie vielfältig grau sich die Tristesse präsentiert.Dies ist auch kein aufregender, spannender Film. Dies ist ein Film, der mit den fast unmerklichen Zwischentönen Aufmerksamkeit und Stimmung erzeugt. Dies ist ein Film, der heraussticht, weil durch Reduziertheit und Fokussierung ein Kunstwerk entsteht, nach dessen Ende man kein Glück, keine Freude, keine Trauer, vielleicht ein wenig Betroffenheit empfindet. Denn das ist, wie das Leben heute läuft: was auch passiert, erstmal Kaffee trinken, durchatmen, weiterleben.
Sarah Peters
“Oh Boy“
Originaltitel: Oh Boy
Altersfreigabe: ab 12 Jahren
Produktionsland, Jahr: D, 2012
Länge: ca. 85 Minuten
Regie: Jan Ole Gerster
Darsteller: Tom Schilling, Inga Birkenfeld, Friederike Kempter, Frederick Lau
Deutschlandstart: 1. November 2012
Offizielle Homepage: ohboy.x-verleih.de