Der Schleier der Nicht-Muslime
Sehr geehrte Frau Schwarzer,
mit Erstaunen entdeckte ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Ihren Artikel und das darin geforderte Verbot der islamischen Vollverschleierung mit Burka oder Niqab in Deutschland. Eindrucksvoll für Ihre Sache inszeniert zeigt das fast halbseitig große Bild des Artikels eine vollverschleierte Frau vor knall rotem Hintergrund. In leuchtendem Blau hebt sich die Burka von dem Rest der Seite ab und macht ohne Worte unmissverständlich klar: Hier stimmt was nicht, das ist gefährlich!
Dieses Bild, was selbst bei mir auf andere Art und Weise Unbehagen erzeugt, dürfte die allergrößte Mehrheit der Bevölkerung in Europa lediglich aus TV-Berichten kennen. Vereinzelt auf den Straßen zu sehen, sind Frauen mit Niqab, einer Verschleierung des Gesichtes ohne dabei die Augen zu verdecken.
Die Bedrohung, die sowohl durch das Bild als auch durch den Text suggeriert werden soll – wie real ist die? Wo sind die zahlreichen Frauen auf Deutschlands Straßen, die wie von Ihnen beschrieben „so unterwürfig sindʺ und „in dem schwarzen Loch eines Vollschleiersʺ verschwinden? Wie viele Musliminnen in Belgien, Frankreich, Spanien betrifft ein gesetzliches Verbot, was angeblich im Sinne der Frauenrechte erlassen wurde?
Schätzungen zufolge tragen in Frankreich weniger als 0,5 % der muslimischen Frauen eine Vollverschleierung, darunter zwischen 200-300 Frauen eine Burka. Gibt es empirische Daten, die beweisen, dass diese Frauen dazu gezwungen werden oder ist das eine Annahme, die auf einer emotionalisierten Debatte beruht? Ach ja, sie gehen ja davon aus, dass diese Frauen aus Angst vor ihren Männern, diese nicht anzeigen würden. In einer Demokratie sollte man sich jedoch nicht auf Annahmen stützen, die andere Lebensweisen missverstehen, sondern sich an Fakten halten, um Minderheiten effektiv zu schützen!
Der vorwurfsbelasteten Rhetorik über islamische Themen ist unvereinbar mit einer objektiven Betrachtung des Themas und der viel vergessenen Tatsache: Muslimisches Verhalten weltweit ist nicht gleichzusetzen mit den Grundlagen des Islam, Islam keine Motivation vieler Verhaltensweisen von Muslimen. Schuld daran ist nicht zuletzt der Mangel an grundlegenden Kenntnissen über den Islam und die Vermischung von Tradition und Religion.
Was machen wir jetzt aus dieser Erkenntnis? Verbieten wir alle Lebensarten, die "angeblich" mit der modernen westlichen Welt unvereinbar sind? Oder halten wir uns an demokratische Grundwerte, die sehr wohl mit islamischen Normen vereinbar sind?
Ein Menschrechtsverstoß beginnt dort, wo jemand unter Zwang einer Sache ausgeliefert ist. Für die Burka trifft das sicherlich in autoritären Regimen zu, die aber auch Männern wenig Raum für Partizipation und Freiheit lassen. Ein Niqab, das von einer muslimischen Frau in der westlichen Welt aus religiöser Überzeugung freiwillig getragen wird, kann weder ein Verstoß gegen die Menschenwürde sein, noch verliert sie dadurch ihre Individualität, die eben nach islamischer Auffassung nicht in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden muss. Das ist eine individuelle Entscheidung, die sie nicht daran hindert, einen gesellschaftlichen Beitrag in einem demokratischen Land zu leisten und sich dabei wohl und frei zu fühlen.
Frau Schwarzer, Sie reduzieren Individualität auf rein äußerliche Merkmale. Das bedeutet, ich wäre nur ein Individuum, wenn ich mein Aussehen für jedermann sichtbar mache. Diese Beschränkung auf rein äußere Merkmale ist leider das, was wir in der „westlichen" Welt zu häufig erleben. Diese Fokussierung ist Teil einer alten und neuen Diskriminierung von Frauen, die sehr wohl empirisch nachgewiesen die Psyche junger Mädchen belastet, die heute einem immer stärker werdenden Schönheitsideal ausgesetzt werden. Gerade Ihnen als Frauenrechtlerin dürfte diese Reduzierung der Frau zu einem bloßen Objekt, wie von Symbolfiguren wie Buschido & Co. propagiert, zu wider laufen.
Muslimische Frauen sind sehr viel weniger unterdrückt als sie glauben und sehr viel mehr emanzipiert als sie erahnen. Für viele muslimische Frauen ist diese andere Form der Emanzipation, das Ablegen des Zwangs, dem Schönheitsideal indirekt oder direkt nachzueifern, eine Bereicherung in ihrem Leben. Und dennoch nur ein kleiner Teil ihres Glaubens, der so viel mehr beinhaltet, als allein auf Äußerlichkeiten beschränkt zu werden.
Unterdrückung erfahren Muslime in europäischen Ländern in erster Linie durch andere Frauen, die glauben, sie „befreien" zu müssen, was paradoxer nicht sein könnte. Auch ich als Muslimin, die in dem Alltag lebt, den sie nur von außen aus Ihren Augen beschreiben, möchte nicht, dass jemand zu etwas gezwungen wird. Dazu gehört aber auch, dass die Frau etwas ablegen muss, was sie selbst gewählt hat.
Anstatt die Bewegungsfreiheit vollverschleierter Frauen im öffentlichen Leben gezielt einschränken zu wollen, sollten Sie sich, Frau Schwarzer, gemeinsam mit muslimischen Frauen für die Rechte der Frauen einsetzen: Es sollte doch dabei darum gehen, was die Frauen wollen und nicht darum, dass man ihnen vorgibt, was sie wollen sollen.
Marina Frisch