Oertels rabenschwarze, dennoch bittersüße Gesellschaftssatire

Michael Oertel und Iris Martin Gehl. (Foto: SRK)

Michael Oertel und Iris Martin Gehl. (Foto: SRK)

Die Weimarer Juristin Iris Martin-Gehl hatte am 23. August den Leipziger Schriftsteller Michael Oertel zu einer Lesung in die renommierte Eckermann-Buchhandlung eingeladen. Oertel, der hauptberuflich als Sozialarbeiter tätig ist, stellte hier sein Buch “Ich mach’ mir Angst” vor. Er bestätigte mit dieser Lesung voll und ganz die diesbezügliche Verlagsankündigung “rabenschwarze und dennoch bittersüße Gesellschaftssatire”.

Oertels Buch nennt sich im Untertitel als “Edding-Roman”; was das ist, das wollte er nicht verraten, lud dafür aber die gut drei Dutzend Zuhörer zum Googeln dieses Begriffes ein.

Der Autor bezeichnet seinen Protagonisten als unpolitisch, der sich aber dennoch immer wieder politisch verhalte. Und machte das anhand eines irreführenden Plakates deutlich, dessen Aussage er mittels Edding-Stift vom Kopf auf die Füße stellte.

Der Protagonist stehe durchaus für ihn, teilte der Autor gleich eingangs mit. Sein berufliches Anliegen sei es, zu gestalten anstatt nur zu verwalten. Was sich allerdings in der öffentlichen Verwaltung kaum realisieren lasse. Also schreibe er, um so wenigstens ein klein wenig die Gesellschaft mitgestalten zu können. Aus dem angesprochenen Dilemma ergebe sich nicht zuletzt auch sein Sarkasmus. Sarkasmus, Ironie und schräger, ja subversiver, Humor ziehen sich wie ein roter Faden durch Oertels Buch. Gelesene Beispiele aus verschiedenen Kapiteln illustrierten dies.

Es begann mit politischer Satire vom Feinsten, also mit Kapiteln über Wahlen und Wahlkrampf oder allseits bekannte Politiker. So lobte er jüngste Wahlplakate aus dem benachbarten Freistaat, auf denen die FDP verkünde, daß Sachsen nicht Berlin sei: “Endlich mal ein Wahlversprechen, das nicht gebrochen werden kann!”

Eine Glosse beschäftigte sich mit einem gewesenen freiherrlichen Bundesminister. Hier analysierte Oertel dessen geballte Vornamensreihung Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester auf deren politische und jahreszeitliche Bedeutung hin. Und von da war es nicht weit zu den Überlegungen im Zeitalter der Plagiatoren. Da ja etliche von ihnen wenigstens die Hälfte ihrer Dissertationen selbst geschrieben hätten, sollte man diesen doch bitte auch nur eine Hälfte ihres Doktor-Titels aberkennen. Doch bloß welchen? Den Dok oder den Tor?

Neben Hartz IV bilde auch die Umwelt- und Energiepolitik für ihn ein Thema, also die Laufzeitverlängerung und ihre Chancen. Und so sei es nur ein folgerichtiger Weg von Kohls “blühenden Landschaften” in die strahlende Zukunft seiner einstigen Ziehtochter.

Neben der Politik gehöre für ihn auch Skurriles aus dem Alltag zu seinen Betrachtungen, so Oertel dann weiter. Da ging es dann um Einkaufstempel auf der grünen Wiese und um Alpträume bei Werbebotschaften: K…land – also wenn ich Land kaufe, dann bin ich doch Großgrundbesitzer. Oder zu einem duzenden Angebot für ein Süßgetränk: da müsse es doch richtig und höflich Fantasie heißen.

Aufgespießt wurden nicht zuletzt unverständliche Gebrauchsanweisungen für moderne Haushalttechnik, was ihn zu Vorschlägen für weitere Handy-Funktionen (resp. I-Phone), wie das Eierkochen, verleitete.

Oder zu Facebook-Visionen: Wie wäre es dort mit einem entgeltlichen Angebot für Eheschließungen per Mausklick. Dabei entstehende Probleme wie Scheidungen, Bigamie oder Polygamie könne man ja mit weiteren Geschäftsfeldern für Advokaten begegnen. Doch nicht nur die Welt des Internet stelle eine Reise nach Absurdistan dar und biete Stoff für Grotesken. Das gelte auch für das Wirtschaftsleben (und nicht minder für das Politikgeschäft).

Und er ließ seinen Protagonisten bei einem Tempelbesuch auf der grünen Wiese bei Halle an der Saale fragen, warum dort nur “Sale” stünde. Das Stichwort Denglisch hatte sich damit aber nicht erschöpft.

Gastgeberin und Moderatorin Iris Martin-Gehl las dann mit sichtlichem Vergnügen selbst ein Oertel-Kapitel. Leider keine Satire, denn solche Texte (90 Prozent Amerikanismen, 10 Prozent Deutsch) sind hierzulande schon fast üblich. Dieser Lesungsteil gipfelte in der Frage: “Wann müssen wir Deutschen Sprachtests ablegen, um hierbleiben zu dürfen?” (Und, das ist schon wieder politischer Alltag: Von Zuwanderern werden Deutschkenntnisse verlangt, die hiesigen Wortführer dagegen verwenden im eigenen Lande kein Deutsch mehr…) Nun ja, auch für solche aufgeblasenen Denglisch-Phrasen von Wichtigtuern gelte letztlich nichts anderes als die Inhaltsleere von Hohlköpfen, so die Assoziation eines anderen Zuhörers.

Michael Oertel begeisterte seine Zuhörer von der ersten bis zur letzten Minute. Er konnte eben mit Sprachbeherrschung und Wortwitz sowie dem Hinterfragen von gängigen und vieldeutigen Begriffen überzeugen. Und nicht zuletzt mit seiner Vortragskunst.

Auch des Rezensenten verstorbener Freund Hansgeorg Stengel hätte an diesem jungen Mann (Jahrgang 1967) und dessen Buch wohl seine helle Freude gehabt. Denn wie bezeichnete ein Zuhörer anerkennend Oertels Schaffen? Als gelunge Sprachästhetik und Sprachakrobatik. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Siegfried R. Krebs


Michael Oertel: Ich mach mir Angst. Ein EDDING-Roman. 252 S. Hardcover. Lychatz-Verlag. Leipzig 2012. 19,95 Euro. ISBN 978-3-942929-15-8

[Erstveröffentlichung Freigeist Weimar]

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