Odelie – das Oktopusmädchen

Aus den Tiefen des blauburgunderfarbenen Meers tauchte sie gerne auf, wenn der Tukan des Strandbarbesitzers wieder einmal laut italienisch fluchte. Auch wenn damit Gefahren verbunden waren, denn Odelie war ganz silbern. Sie glänzte auffällig in der Sonne, was wiederum den Tukan reizte, und schrie er, wenn ihm langweilig war, Worte und ganze Sätze, die wir hier lieber nicht wiedergeben wollen. Sie hätte gerne italienisch gelernt, aber Tukan Norbert war ein alter Macho und wollte sie nur anschauen.

Odelie war nämlich ein sehr hübsches Mädchen. Ihre Augen waren kugelrund und schwarz, die Saugnäpfe elfenbeinweiß und sie selbst unendlich neugierig. Sie erkundete alles, was ihr zwischen die Greifarme kam, begriff in einem Zug, wie es etwas funktionierte und wollte ständig noch mehr wissen. Ihren Spiel-und Schulkameraden war dies unheimlich, wie auch ihre seltsame Farbe, doch sie war nicht unbeliebt. Schließlich war sie liebenswürdig und gutmütig, ohne Probleme gab sie von ihrer Tinte ab, wenn sie den anderen ausgegangen war. Weniger Intelligente verbreiteten, sie sei hochnäsig und neunmalklug, weil sie doch stets alles wusste, und manch einer, der sie nur vom Weiten schillern sah, glaubte das auch. Außerdem war sie eine perfekte Schlagzeugerin in der Tiefseeband, die am Wochenende immer in der Schielenden Auster Reggae und Ska spielte.

Musik war Odelies große Leidenschaft, und sie überlegte, nach Schule vielleicht eine Ausbildung ozeanischer Hochschule für Blubbern und Blasen noch zusätzlich Seeorgel zu studieren, aber das war noch Musik von morgen.
Zurzeit gingen ihr ihre Neugierde und ihr Wissensdurst über alles. Und so kam es, dass eines Tages eigentlich alles „ausgeguckt“ war, was sich am Meeresboden tummelte und wuchs. Auch die Seesterne, die doch schon überall gewesen waren, konnten ihr keine befriedigenden Auskünfte mehr geben. Odelie beschloss, genau das zu tun, was ihr ihre Mutter strengstens untersagt hatte: nach oben zu tauchen. Ihr Herzchen klopfte ganz gewaltig, aber sie schwamm so rasch sie konnte nach oben, um ihren Plan auch um zusetzten, bevor sie der Mut verließ.

Zunächst tauchte sie weit weg vom Strand auf, denn sie hatte keine Lust, sich mit dem ollen Tukan zu streiten, und da entdeckte sie etwas völlig Unbekanntes: seltsame Wesen schwammen im Wasser neben ihr.  Sie waren länglich und bewegten sich ungeschickt kraulend mit nur vier Beinen durch die Wellen, aber es schien ihnen Spaß zu machen. Odelie kicherte darüber, war aber froh, dass sie sie nicht wahrnahmen.

Sie fasste Zutrauen und schwamm ab nun jeden Tag an die Oberfläche, immer ein Stückchen näher. Und dann war sie plötzlich in der Nähe eines Stegs, der mitten ins Wasser ging, dahinter hörte das Meer einfach auf. Wie sie sich dieses seltsame Phänomen so anschaute, kamen ein paar dieser Wesen auf den Steg, diesmal kraulten sie nicht, sondern bewegten sogar nur zwei ihrer vier Beine. Das mussten die Menschen sein, vor denen die Eltern und die Schwämme, die als Wasserpolizei dienten, immer gewarnt hatten. Die kleine, silberne Oktopussin staunte und vor lauter Staunen darüber, wie das wohl gehen konnte, bemerkte sie nicht, dass die Menschen, zwei größere und zwei kleinere sie gesehen hatten, einer zeigte sogar laut rufend auf ihn.

Odelie wurde auf der Stelle weiß, schoss nachtschwarze Tinte aus ihrem Beutel und verschwand. Als die Welle rein war, guckte sie ….und sie waren noch da, sogar näher gekommen. Unverständliche Laute kamen an ihr Ohr, aber sie klangen freundlich. Tapferer geworden blieb sie an ihrer Stelle und wartete, guckte sich die Menschen an und schwamm dann davon, Zeit für das Mittagessen bei McQuall. Am nächsten Tag machte sie sich wieder auf, und tatsächlich, die vier waren wieder da. Odelie schwamm näher an sie heran, und sah, wie einer einen seiner viel zu kurzen Tentakel ins Wasser hielt. Die Neugierde siegte und sie streckte einen ihrer Füße danach aus, berührte und betastete ihn schließlich.

Nichts geschah, niemand tat ihr etwas zu leid, wie man es oft unten im täglich erscheinenden Korallenkurier lesen konnte. Odelie war glücklich, offenbar wollte da jemand genauso gerne spielen wie sie. Tatsächlich brachten sie später ein Stöckchen mit, das sie freudig aus der Hand eines der Kleineren nahm und eingehend untersuchte. Dann hatten sie einmal ein großes Ding dabei, durchsichtig wie das Wasser, in dem sie schwamm, aber fest. Sie hielten es ihr hin und sie nahm das erste Bad in der Geschichte der Oktopoden. Tagtäglich kamen sie und spielten mit ihr, zum Schluss waren es nur die beiden Kleineren, aber sie kamen, sogar, als die Winterstürme sein Meer tiefblau färbten und wild und ungestüm machten. Odelie hatte die ungewöhnlichsten Spielgefährten, die seit Fischegedenken jemals ein Bewohner der See gehabt hatte.

Eines Tages waren sie nicht mehr da, Odelie schwamm noch ein paar Tage an dieselbe Stelle, aber sie kamen nicht mehr. Zunächst war sie traurig und ein wenig grau statt silbern, dann aber wurde ihr klar, dass die Menschen Ferien gehabt hatten und nun wohl wieder in ihr eigenes Aquarium gereist waren.

Viele Gezeiten später, es mochte wohl ein Jahr gewesen sein, schwamm sie doch noch einmal hin. Und tatsächlich, sie waren alle wieder da, alle ein Stückchen gewachsen. Odelie wurde vor Freude sogar ganz platinhell, verströmte silberne Tinte und hielt dies alles für den wunderbaren Beginn einer langen Freundschaft.

von Viola Eigenbrodt  


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