Occupy jenseits von Occupy (2)

In zweiten Teil seines Interviews befrägt der spanische Journalist Amador Fernández-Savater die vier Occupy-Aktivisten der ersten Stunde über die Wahrnehmung der Krise in den USA, warum so wenig Farbige und Migranten bei der Occupy-Bewegung mitmachen und inwieweit Occupy den amerikanischen Politbetrieb verändert hat.

Erklärt mir noch etwas genauer, wie die Krise in den USA erlebt wird! Wo und in welcher Art hinterlassen die Suprime-, die Finanzkrise und der Sturz von Lehman Brothers ihre Spuren?

Vicente: Die offizielle Version aus Politik und Medien geht so: Es gab eine sehr begrenzte Krise einiger Finanzinstitute. Und das ist es schon. Die Rettung der Banken hat das Problem behoben. Nun gibt es eine Krise in der Eurozone. Aber diese hat nur wenig mit der Krise in den USA zu tun. Auch gibt es keine Verbindung zwischen der Finanzkrise und den Schuldenproblemen von Millionen von Amerikanern. Ja, es gibt eine Krise, eine strukturelle Krise. Doch diese ist verborgen.

Susana: Ein Freund, der auf dem Bau arbeitet, erzählte uns letzthin, dass es in dieser Branche wieder mehr Arbeit gäbe. Es gibt Wirtschaftszahlen, welche die Empfindung, es gehe wirtschaftlich wieder aufwärts, untermauern. Daneben gibt es die weitverbreitete, wilde Verschuldung, die auf irgend eine Weise zur Explosion führen muss. Aber es gibt nicht dieselbe Krisenstimmung wie in Spanien. Die Krise dominiert die Gespräche im Alltag nicht.

Luis: Die Unterschiede lassen sich durch verschiedene Faktoren erklären: Einerseits wird hier der Wohlfahrtsstaat nicht demontiert – weil er schon demontiert ist. Das Gesundheitswesen ist seit Jahren eine völlige Katastrophe. Es gibt zehntausende Personen, die wegen ihrer Arztschulden (medical bills) überschuldet oder gar bankrott sind. Deshalb nimmt man das hier nicht so wahr wie in Spanien, wo man einen beispielslosen Angriff auf das Öffentliche erlebt. Anderseits haben die Vereinigten Staaten die Geldmaschine. Deshalb erleiden sie die neoliberalen Verwerfungen nicht in derselben Intensität, obschon sie sich in den letzten Jahren mit ihrer Blasenökonomie auch verwettet haben. Die Vereinigten Staaten werden unter der Krise niemals so leiden wie die anderen Staaten, solange ihr Geld das Geld ist – das einzige Geld, dem die Legitimität nicht entzogen werden kann. Die Spekulanten greifen den spanischen Staat an. Doch dies kann den Vereinigten Staaten nicht passieren.

Begoña: Der Mittelstand erhält nicht dieselbe Ohrfeige wie in Spanien. Sein Lebensstandard sinkt zwar auch, aber Schritt für Schritt. Die Brüche konzentrierten sich auf einzelne, konkrete Sektoren und begrenzte Gruppen, die allerdings um die 50 Millionen Personen umfassen. Es sind die Gruppen, die seit eh und je in der Krise leben.

Gerade deshalb verwundert es so, dass Occupy eine so «bleiche» Bewegung ist, ohne wesentliche Beteiligung von Schwarzen, Latinos usw. Wie erklärt sich das?

Susana: Das ist kompliziert und hat unterschiedliche Gründe. Einerseits ist das Vorgehen der Aktivisten, die den Motor von Occupy bilden, oft nicht allzu einschliessend. Zum Beispiel führte der Entschluss, die Aktionen in der Wall Street stattfinden zu lassen, dazu, dass alle Immigranten ohne Papiere aussen vor blieben, da sie riskierten, ausgeschafft zu werden, falls sie festgenommen würden. Wall Street bedeutet Spektakel. Doch es gibt Leute, die kein Recht auf Spektakel haben. Es fehlt an Sensibilität, um Räume zu schaffen, wo auch ganz andere Lebensformen Platz haben.

Vicente: Dazu eine sprechende Anektote: Ich nahm einmal an einer Versammlung von Occupy teil, wo man darüber sprach, wie man andere Gemeinschaften in die Bewegung einbeziehen könnte. Ich war der einzige, der kein «weisses und sauberes» Englisch sprach. Doch niemand übersetzte mich. Vielmehr schnitt man mir immer wieder das Wort ab – und das während man davon sprach, wie man einschliessender sein könnte! Es gibt viel Trägheit. Und es fehlt an Geduld beim Zuhören. Man stellt sich die Beziehung zum anderen viel zu stark instrumentell vor: als schlichte Einladung, sich dem anzuschliessen, was bereits da ist. Man akzeptiert nicht, dass ein Gespräch immer zwei Richtungen hat. Trotzdem kann nur die Kraft solch ungewohnter Zusammenschlüsse den Horizont zum Unverhofften öffnen.

Luis: Wir dürfen nicht nur die «weissen Aktivisten, die nicht zuhören», dafür verantwortlich machen. Es muss auch gesagt werden, dass oft auch gewisse Organisationsstrukturen der Gemeinschaften nicht sehr hilfreich sind, weil zu hierarchisch und zu abgeschottet. Da ernennen sich Vertreter von Schwarzen oder Latinos selbst, und schon gibt es nichts mehr zu reden. In einigen Fälle haben sie sich die Räume angeeignet, die im Rahmen von Occupy entstanden sind, und die Debatten und Kritiken blockiert, indem sie den Schuldkomplex der Weissen ausgenutzt haben. Das ist eine Politik der Blockbildung, die für den Aufbau des Gemeinsamen geradezu Gift ist.

Begoña: Das gemeinschaftliche Leben in den USA ist sehr schwierig. Es gibt viel Separation und wenig Dialog zwischen den einzelnen Gemeinschaften. Aber es gibt auch Gegenbeispiele. Ich denke da zum Beispiel an den neulichen Konflikt einiger Latinofamilien im Sunset Park-Quartier mit ihren Hausbesitzern. Die Versammlung von Occupy Sunset Park trat mit ihnen in Kontakt und unterstützte sie, indem sie den Konflikt aus Unsichtbarkeit und Isolation ans Tageslicht zerrte. Die Unterstützung gab den Latinofamilien viel Sicherheit, um ihren Mieterstreik fortzuführen. Ich denke auch an unsere eigene Erfahrung der Annäherung, des Dialogs und der Zusammenarbeit mit der lateinamerikanischen Gruppierung La Unión im selben Sunset-Quartier. Es gibt Augenblicke der Übereinstimmung und des Gesprächs.

Als ich in den USA war, überraschte mich der Widerspruch sehr, dass sich eine individualistische Gesellschaft andauernd auf die «Gemeinschaft» bezieht, zum Beispiel mit dem viel gepriesenen Dienst an der Gemeinschaft, den Zuwendungen an die Gemeinschaft und dem verbreiteten Wunsch, der Gemeinschaft etwas zurückzugeben. Wie lässt sich diese Betonung des Gemeinschaftlichen erklären? Ist das eine fruchtbare Grundlage für euren politischen Impuls im Zusammenhang mit dem Gemeinsamen und den Gemeingütern?

Vicente: Die Geschichte dieses Landes ist geprägt von tausend Utopien und gemeinschaftlichen Experimenten, oft religiösen Ursprungs. Das Misstrauen dem Staat gegenüber ist sehr ausgeprägt. Allein das Wort löst schon Panik aus. Die Idee des Gemeinschaftlichen kann Ausgangspunkt für eine Politik der Gemeingüter sein. Doch man muss um eine neue Auslegung kämpfen und Neues damit verbinden. Es ist nicht etwas bereits Gegebenes.

Luis: Ja, es ist eine zwiespältige Grundlage. Der Lebenssinn wird in den USA so organisiert: Ich stehe im Zentrum, bin aber Teil einer Gemeinschaft. Das Individuum kommt zuerst. Jedes hat seinen Weg und seine Identität. Dann ist da auch noch die Gemeinschaft, eine Gemeinschaft von Individuen. Von daher ist in den Vereinigten Staaten die Vorstellung der Gemeinschaft ausgesprochen kompatibel mit dem Individualismus der liberalen und protestantischen Tradition. Das beste Bild für die Gemeinschaft als Verbindung von Individuen sind die Lobbys: Du vereinigst dich mit anderen, um zu bekommen, was du willst. Und es ist etwas ganz anderes zu denken, dass die Gemeinschaftlichkeit etwas Ureigenes des Individuums ist. Denn schon am Anfang des Lebens kann niemand für sich selber überleben. Man ist nur in einer und durch eine Gemeinschaft. Das Ich besteht nur in einem kollektiven Rahmen. Hier in den USA ist das Problem, dass man dazu tendiert, die gegenseitige Abhängigkeit als Zeichen der Schwäche zu deuten.

Begoña: Deshalb versteht man seinen Beitrag an die Gemeinschaft als eine Art «Service». Ich leiste einen Dienst an etwas ausserhalb von mir. Und tatsächlich führst du deine Dienste an der Gemeinschaft auch in deinem Lebenslauf auf. Wenn du der Gemeinschaft keinen Dienst leistest, wirkt das sehr seltsam. An einem Bewerbungsgespräch wirst du jeweils gefragt, welche Dienste du der Gemeinschaft geleistet hast. Das ist ganz stark Teil des Systems und nicht etwas rein Freiwilliges.

Susana: Man könnte sagen, dass wir im Mittelmeerraum das Soziale wie die Luft verstehen, die wir einatmen, wie ein gemeinsamer Raum, der uns Leben gibt. Etwas zur Gemeinschaft beitragen, heisst diese Luft, die uns allen Leben spendet, anreichern. Und in der amerikanischen Version ist der Beitrag an die Gemeinschaft eher eine Art Zahlung. Tatsächlich kannst du ja im Gefängnis deine Strafe in Form eines Dienstes an der Allgemeinheit «zurückzahlen». Die Beziehung zur Gemeinschaft wird viel moralischer gesehen und ist deshalb auch durchdrungen von Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen.

Luis: Dieselben Vorstellungen der Gemeinschaft verbindet man mit den Dienstleistungen: «Was bieten Sie an?» Sogar im Zuccotti-Park: Der Platz war zweigeteilt in «direct action» und «service», wo man essen konnte usw. Das Problem ist, dass diese Bilder von Gemeinschaft stark durchdrungen sind von der Idee, dem anderen helfen, ihn retten zu wollen, also von Assistenzialismus und Paternalismus.

Begoña: Man darf aber nicht vergessen, dass in einer Stadt wie New York dasselbe Wort unterschiedlich verwendet wird. Die Latinos von La Unión, mit denen wir zusammenarbeiten, verstehen das auf eine ganz andere Art: Sie wollen niemanden retten, sondern mit anderen zusammen sein, lernen, sich austauschen. Es ist eine Lebensgemeinschaft in gegenseitigen Abhängigkeiten und nicht nur ein instrumenteller Zusammenschluss von Individuen, um ein äusseres Ziel zu erreichen. Das Wort «Gemeinschaft» gibt es, und es ist für alle ein wichtiger Bezugspunkt. Wir kämpfen darum, es neu zu definieren und andere, interessantere Bilder damit zu verbinden.

Susana: Ja, weil es in Verbindung mit dem Gemeinschaftlichen tausend fruchtbare Erfahrungen gibt. Die «credit unions» kommen aus der Welt der Lobbys. Trotzdem ermöglichen sie es, von den Banken unabhängiger zu werden. Es sind die Genossenschaften und Assoziationen, die in diesem Land eine sehr starke Tradition haben – bis in die Gegenwart hinein: Immigrantengemeinschaften, aktivistische Gruppierungen, ja, sogar die Kirchen. Die kirchliche Gemeinschaft ist nicht genau das, was wir wollen. Aber gewisse Elemente und Dialogformen sind durchaus brauchbar. Die Bilderwelt der Gemeinschaft ermöglicht Begegnung und Austausch.

Und ist ein mögliches Gegengewicht zum absoluten Individualismus. Oder? In welcher Beziehung steht der nordamerikanische Individualismus zu Occupy?

Begoña: Ich weiss nicht, ob man ausserhalb der Vereinigten Staaten die Radikalität des hiesigen Individualismus überhaupt wahrnimmt. Die Erfahrung im Zuccotti-Park nannten die Amerikaner «das Wunder zusammen zu sein». Ein Wunder also, etwas Ausserordentliches, äusserst Seltenes. Die amerikanischen Freunde sagten: «Wir kennen das Zusammensein nicht. Wir wollen es. Aber wir müssen es lernen.» Sie waren diesbezüglich geradezu hilflos.

Susana: Eine Kultur der Plätze, wo man zusammenkommt, gibt es hier nicht. Viele Formen der Geselligkeit sind zugrunde gegangen. Es gibt auf allen Ebenen ein schweres Problem, was die Beziehung mit dem anderen angeht, von der Freundschaft bis hin zur Politik. Mit dem Individualismus zu brechen, wird ein langer und harter Prozess sein. Man muss oft zusammen sein, um das Zusammensein zu lernen.

Vicente: Der Individualismus durchdringt sogar die Formen des Aktivismus. Man merkt das etwa daran, wie gesprochen wird: Das ist ein dauerndes Werben für sich selbst. Es ist ganz normal, dass jemand das Wort ergreift und so beginnt: «Wenn ich als Experte folgendes zu bedenken geben darf …» Bei jemandem, der von aussen kommt, eckt das ziemlich an. Alles ist ein mögliches Verdienst für das Curriculum, so dass es sehr wichtig ist zu wissen, wer was gemacht hat. Und das ist durchaus nicht bildlich gemeint. Manche machen bei Occupy eine Aktivistenkarriere. Und dann ist da auch noch die Versessenheit auf die «gut gemachten Dinge», die Versessenheit auf den technischen, formalorganisatorischen Aspekt der politischen Aktion, ganz losgelöst von der Frage nach dem Warum. Und wer kann die Dinge «gut» machen? Die Profis, die Experten, die Techniker.

Luis: Die Gefahr besteht, dass sich die Zusammenarbeit individualisiert und der Aktivismus, indem er sich professionalisiert, sehr exklusiv wird. Es haben nur die Platz, die wissen und auf dem neusten Stand sind. Aber der amerikanische Individualismus hat auch eine positive Seite: Man glaubt an sich selbst, man traut sich zu sprechen und neue Dinge auszuprobieren. Man vertraut seinen eigenen Fähigkeiten. Das ist das Paradoxe am Leben in den Vereinigten Staaten: Man ist vermehrt allein, doch es ist auch eher möglich, dies zu ändern.

Vicente: Zusammen zu sein, ist bereits ein Erfolg. Denn dadurch konnte man dem ständigen Druck entkommen, jede Sekunde seines Lebens rentabel zu sein. Sich Zeit zu nehmen, um sie mit anderen zu verbringen, ist bereits eine Herausforderung und will gut bedacht sein. Wie viel mehr noch ist es eine Herausforderung, darüber diskutieren zu lernen, was wir wollen, weshalb wir zusammen sind, und einen solchen Prozess über längere Zeit am Leben zu erhalten.

Zum Schluss möchte ich euch noch fragen, wie bei Occupy über die Wahlen vom November 2012 diskutiert wird.

Susana: Bei Occupy ist das kein Thema. Die Leute beziehen sich nicht auf die Wahlen. Man kommt nur darauf zu sprechen, indem man etwa sagt, Obama sei von Wall Street bezahlt – was wahr ist, aber auch ein bisschen einfach. Mich beunruhigt natürlich die Möglichkeit, dass die Republikaner gewinnen könnten. Es wäre gut, den Blick für die Makropolitik zu schärfen und eine Politik von unten zu erfinden, die aber Beziehungen mit dem Staat aufnehmen kann.

Begoña: Einverstanden! Aber es ist schon viel gewonnen, wenn man entdeckt, dass Politik nicht nur die Politik der Parteien ist … Und diese Entdeckung machen zurzeit viele Leute – und feiern sie. Noch ist es zu früh, um den nächsten Schritt zu tun: die Beziehung zum Staat neu zu erfinden.

Luis: Es ist sehr interessant, was letzthin Romney sagte, ohne dass er wusste, dass es aufgezeichnet wird: «47 Prozent der Amerikaner sind nicht fähig, für ihr eigenes Leben Verantwortung zu tragen. Und wir werden sie nie davon überzeugen können, dies zu tun, weil ihr Leben vom Staat abhängig ist.» Das ist ein brutaler Diskurs. Ich denke, in Spanien ist es noch nicht so weit: die Opfer zu Schuldigen zu machen, Armut zu stigmatisieren, diese so amerikanische Idee, dass es dir im Leben schlecht geht, weil du ein Scheisskerl bist, also die Figur des losers (Verlierers) heraufzubeschwören.

Vicente: In Chicago, wo Obama herkommt, gibt es zurzeit einen Lehrerstreik, der von den Gewerkschaften selbständig organisiert wurde. Für Romney war dies sogleich Munition, um gegen Obama zu schiessen. Und die traditionellere Linke beklagte, der Streik «liefere den Republikanern Gründe». Auf dem Schachbrett des Zweiparteiensystems verliert man die Handlungsfreiheit. Die Idee, dass wir gemeinsam Dinge erreichen können – ohne die Bürokratien der Gewerkschaften und der Demokratischen Partei –, ist eine grosse Errungenschaft. Das ist die Bresche, die Occupy auf dem politischen Feld geschlagen hat.

Hier geht es zum ersten Teil des Interviews.

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Das Original des Interviews von Amador Fernández-Savater erschien auf dem Blog Interferencias bei eldiario.es. Übersetzung: Walter B.


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