Das Begehr Europas ist leicht zu deuten. Gestern las und hörte man noch, dass Papandreou verlassen auf weiter Flur stehe mit seinem Vorhaben, das griechische Volk zu befragen. Heute melden sie als Hiobsbotschaft, dass sein Kabinett ihm geschlossen zustimmte. Der Wunsch als Vater der Hoffnung - eine Hoffnung, die von Papandreous politischen Gegnern als Option in die Welt gesetzt wurde: Neuwahlen! Vielleicht kann Europa die Opposition ja stärken, ihr zu Wahlen verhelfen und Europa von einem Referendum erlösen, das es für einen Affront gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ansieht. Das könnte der Plan sein.
Man stelle sich aber nur vor, es würde gelingen, in Griechenland Neuwahlen durchzusetzen. Man stelle sich zudem vor, Papandreou gewönne sie. Wie würde die EU denn dann reagieren? Bittet sie die Griechen dann solange zur Parlamentswahl, bis sie das gewählt haben, was für europäisch erträglich erachtet wird? Erzählen europäische Medien dann vielleicht von Wahlfälschungen, die in Athen stattgefunden hätten? Als erster Schritt Neuwahlen und Wahlbeobachter unter den Argusaugen der EU? Als zweiter Schritt, falls Papandreou auch da siegte, ein konstruierter Bündnisfall, der zur (militärischen?) Intervention berechtigen würde? Wertet man griechische Wahlergebnisse als moralischen Angriff auf die Union?
Übertrieben mag man meinen. Bei dieser Europäischen Union, die ihrem Wesen nach keine demokratische Einrichtung ist, ist das aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Ein Griechenland, das nicht so springt, wie man es verlangt, dem könnte man mit drastischen Mitteln beiwohnen. Besatzungspolitik zur Aufrechterhaltung der freiheitlich-demokratischen Gepflogenheiten; Besatzungspolitik, um der Wiege der Demokratie die europäische Demokratie beizubringen. Occupy Greece? Auch deutsche Soldaten in Griechenland? Schon wieder in Griechenland? Kühne Theoretiker, die Motive zum Sturmblasen entwerfen sollen, könnten dann erklären, dass zwar jeder Mitgliedsstaat nach Artikel 50 EU-Vertrag austreten kann - dann aber nur nach allen "verfassungsrechtlichen Vorschriften". Wenn das Volk deutlich Nein zur europäischen Politik sagt, dann ist das nicht verfassungsrechtlich, dann ist das Revolution - dann muß die Union schnell und entschieden handeln.
Das kann man sich nur schwer vorstellen. Aber derzeit erleben wir, wie die Demokratie ins Hintertreffen gerät, weil der Markt als neues Modell der Gestaltung des Gemeinwesens etabliert wird. Der ist Tyrann, nicht Demokrat. So undenkbar ist es nicht, dass die Lawine, die die Währungskrise mitsamt ihren asozialen Sanierungskonzepten auslöst, zur gezielten Entdemokratisierung führt. Breite Segmente des Journalismus - nicht der gesamte! - sind bereits so weit, Volksentscheide für ein Diktat zu halten - sie vertreten damit nur die gängigen Ansichten aus Politik und Wirtschaft. Wenn diese Führer die europäische Wertegemeinschaft allenfalls als Gemeinschaft zur Schaffung von Werten verstehen, dann ist es logische Konsequenz, wenn in schwierigen Zeiten nicht Werte hochgehalten werden, sondern Wertsachen Primatsanspruch genießen. Und dieser ist zu wahren, egal mit welchen Mitteln - und steht die Demokratie im Weg, mit all ihren romantischen Sentenzen und gleichmacherischen Tendenzen, so muß sie eben demontiert werden. Nicht laut natürlich, sondern schön leise und unter Vorspiegelung einleuchtender Parolen.
Tatsächlich ist Papandreous Absicht gefährlich. Nicht für die Märkte, nicht für den Wohlstand - für die Erhaltung der Demokratie. Papandreou zwingt die Europäische Union zum Handeln. Und sie kann sich eigentlich nicht weiter demokratisch geben, wenn sie wirklich so handelt, wie es die Wirtschaft in dieser Frage von ihr verlangt. Ein Volksentscheid, eigentlich das höchste aller demokratischen Gefühle (wenngleich man Volksentscheide nie in Fragen der Menschenwürde abhalten sollte!), und man hat plötzlich den Eindruck, dieses republikanische Hochgefühl bewirkt das Gegenteil, macht erst deutlich, wie sehr dieses Europa der Konzerne in die Diktatur lotst.